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Historikerstreit

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Historikerstreit war in den Jahren 1986 und 1987 die in der Öffentlichkeit wahrgenommene Debatte über die Einordnung der nationalsozialistischen Judenvernichtung (Shoa) in ein identitätsstiftendes Geschichtsbild der Bundesrepublik Deutschland.


Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Ausgangspunkte

1980 hielt Ernst Nolte einen Vortrag in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, der bald darauf in gekürzter Fassung im Juli 1980 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) sowie 1985 in einem Sammelband in englischer Sprache erschien, ohne in der fachfremden Öffentlichkeit weiter beachtet zu werden. Wer die „Hitlersche Judenvernichtung“ nicht in einem bestimmten Zusammenhang sehe, so schrieb Nolte, „verfälscht die Geschichte“, denn Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer ‚Völkermord‘, sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution.“ Zwar sei die Hitlersche Judenvernichtung „entsetzlicher […], weil sie die Menschenvernichtung auf eine quasi industrielle Weise betrieb“; sei „abstoßender“, „weil sie auf bloßen Vermutungen beruhte und nahezu frei von […] Massenhaß war.“ Aber dies ändere „nichts an der Tatsache, daß die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reiches eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war.“ [1]

Außerdem meinte Nolte: „Es wird sich kaum leugnen lassen, daß Hitler gute Gründe hatte, von dem Vernichtungswillen seiner Gegner sehr viel früher überzeugt zu sein als zu dem Zeitpunkt, wo die ersten Nachrichten über die Vorgänge in Auschwitz zur Kenntnis der Welt gelangt waren.“ Denn bereits in den ersten Septembertagen des Jahres 1939 habe Chaim Weizmann als Präsident der Jewish Agency offiziell geäußert, dass „die Juden in aller Welt in diesem Krieg auf der Seite Englands kämpfen würden.“ Dies begründe nach Noltes Meinung die These, „daß Hitler die Juden als Kriegsgefangene … behandeln und internieren durfte.“ (Augstein et al., S. 24) [1]

Dieser Rede wurde kaum Beachtung geschenkt, bis Nolte am 6. Juni 1986 in der F.A.Z. eine Rede veröffentlichte, die er laut eigener Aussage wegen einer Ausladung von den Frankfurter Römerberggesprächen nicht dort habe halten können. Ausgehend von der Feststellung, dass alles das, „was die Nationalsozialisten später taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in einer umfangreichen Literatur der frühen zwanziger Jahre bereits beschrieben war …“, hielt Nolte „die folgende Frage für zulässig, ja unvermeidbar“: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als ‚Auschwitz‘? War nicht der ‚Klassenmord der Bolschewiki‘ das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“ (Augstein et al., S. 45) [1] Den Begriff der „asiatischen Tat“ entnahm er einer Schilderung des Völkermordes an den Armeniern (1915) durch die Türken aus dem Jahr 1938 (Augstein et al., S. 43f.) [1]. Was Noltes Kritiker überlasen oder überlesen wollten, war die Tatsache, dass Nolte deutlich artikulierte, dass die Nazigräuel qualitativ die Gräuel der Sowjets an Schrecken klar auch dann überragen, wenn man sie in einen Zusammenhang stellen würde, "nämlich in den Zusammenhang jener qualitativen Brüche in der europäischen Geschichte, die mit der industriellen Revolution beginnen und jeweils eine erregte Suche nach den "Schuldigen" oder doch nach den "Urhebern" einer als verhängnisvoll betrachteten Entwicklung auslösten. Erst in diesem Rahmen würde ganz deutlich werden, daß sich trotz aller Vergleichbarkeit die biologischen Vernichtungsaktionen des Nationalsozialismus qualitativ von der sozialen Vernichtung unterschieden, die der Bolschewismus vornahm." (Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 1986, zu finden unter www.dhm.de/lemo)

Wenige Wochen vorher hatte der Historiker Michael Stürmer (zu diesem Zeitpunkt politischer Berater des Bundeskanzlers Helmut Kohl) – ebenfalls in der F.A.Z. – mehr „Erinnerung“ angemahnt, denn „Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister.“ Es dürfe nicht ignoriert werden, „dass in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“ Dieser Zustand könne bei unseren Nachbarn die bange Frage aufwerfen, „wohin das alles treibt“. Denn: „Die Bundesrepublik hat weltpolitische und weltwirtschaftliche Verantwortung. Sie ist Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen.“ Deshalb ginge es bei der „Suche nach der verlorenen Geschichte […] um die innere Kontinuität der deutschen Republik und ihre außenpolitische Berechenbarkeit.“ Augstein et al., S. 36 u. S. 38) [1]

Einen weiteren Anstoß der Debatte stellte das Buch Zweierlei Untergang des Kölner Historikers Andreas Hillgruber dar. In dem Band unternahm dieser den in der Tat heiklen Versuch einer parallelen Betrachtung von Holocaust und dem Zusammenbruch der Ostfront und der sich daran anschließenden Phase von Flucht und Vertreibung. Dem Verfasser wurde immer wieder vorgeworfen, wenn nicht mutwillig, so doch zumindest grob fahrlässig nicht nur einen Vergleich, sondern eine Gleichsetzung der beiden Vorgänge unternommen zu haben. Hillgruber distanzierte sich von derartigen Gleichsetzungen: Die zwei Texte seien unabhängig voneinander entstanden und von ihm auch unabhängig voneinander gemeint gewesen, aber vom Verleger Wolf Jobst Siedler nach oberflächlichen Kriterien zu einem Buch zusammengefasst worden.

Aus diesen publizistischen Vorlagen, zusammen mit Arbeiten des Bonner Historikers Klaus Hildebrand, sah Jürgen Habermas einige Wochen später in der Zeit eine „Art Schadensabwicklung“ erwachsen und wandte sich gegen die „apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“ [2]. Gegen Nolte gewandt schrieb er: „Die Naziverbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden. Auschwitz schrumpft auf das Format einer technischen Innovation und erklärt sich aus der ‚asiatischen‘ Bedrohung durch einen Feind, der immer noch vor unseren Toren steht.“ Stürmer warf er vor, er plädiere „für ein vereinheitlichtes Geschichtsbild, das anstelle der ins Private abgedrifteten religiösen Glaubensmächte Identität und gesellschaftliche Integration sichern kann.“ Darin sah er „eine deutsch-national eingefärbte Natophilosophie.“ Wer den Deutschen die Schamröte über Auschwitz austreiben wolle, wer sie „zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzig verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen“. Kurz: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“ (Augstein et al., S. 71, 73, 76 u. 75) [1] Damit war die Debatte eröffnet.

[Bearbeiten] Die Debatte: „Viererbande“ gegen „linke Aufklärer“?

Die folgenden Monate des Jahres 1986 und Anfang 1987 waren von einer Debatte mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Unterstellungen beherrscht – meist in der Form von Leserbriefen. Dazu kamen längere Aufsätze in Zeitschriften, die vom allgemeinen Publikum nicht so leicht wahrgenommen werden konnten. Hier schrieben Historiker mit dem Bemühen, den Streit zu versachlichen. Dies alles geschah vor dem Hintergrund von Museumsgründungen mit dem Schwerpunkt „Deutsche Geschichte“, vorangetrieben vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und der vagen Ahnung, dass mit der Machtübernahme von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eine neue politische Konstellation in Europa Platz greifen könnte. Noch einmal lebte die Debatte um die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Zusammenbruchs des Dritten Reiches im Vorjahr (1985) auf.

Als Zeitzeuge beschrieb Rafael Seligmann den nun folgenden Streit so:

Dies war der Startschuss des so genannten Historikerstreits, an dem sich jeder dazu berufene geschichtskundige – und wer fühlt sich nicht als solcher – Journalist, Publizist, Politologe, Philosoph und last not least Historiker beteiligte. Dabei war es vielen ‚Debattierern‘ nicht in erster Linie darum zu tun, die Vergangenheit möglichst unvoreingenommen zu untersuchen. Das Ziel der meisten Beiträge … war vielmehr, ihre ohnehin festgefügte Weltanschauung durch eine subjektive Selektion historischer Beispiele zu ‚beweisen‘. Nur selten hörte und las man in dieser verbissenen Auseinandersetzung eine um Objektivität bemühte Stimme. (…)
Nach wenigen Monaten erstarb die Auseinandersetzung. Um eine ‚Debatte‘ hatte es sich nicht gehandelt. Denn den Kontrahenten war es nicht darum gegangen, die eigenen Erkenntnisse zur Diskussion zu stellen und dabei auch von anderen zu lernen, womöglich den eigenen Standpunkt zu revidieren. Sie wollten vor allem möglichst viele Unbeteiligte von der eigenen Sichtweise überzeugen. (…) So ist der Historikerstreit Beispiel für das Fehlen einer Streitkultur in Deutschland, wo man nach wie vor lieber kämpft als debattiert
.“

Seligmann: Mit beschränkter Hoffnung, S. 271f.

Das Wort von der „Viererbande“ (gemeint sind die von Habermas angegriffenen Historiker, siehe oben) warf Elie Wiesel in die Runde, die angegriffenen Historiker (unterstützt durch den Publizisten Joachim Fest) wiederum versuchten, liberale Historiker als „linke Aufklärer“ abzuwerten und Habermas zu deren Sprecher zu erheben. Die tonangebenden liberalen Historiker jedoch nahmen ihre Fachkollegen Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vor Jürgen Habermas und Rudolf Augstein mit unterschiedlicher kritischer Distanz in Schutz, setzten sich mit Michael Stürmer politisch auseinander und versuchten, Ernst Nolte mit sachlichen Argumenten ins fachliche Abseits zu stellen.


[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Quellen

  1. a b c d e f Rudolf Augstein et al.: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung.
  2. Die Zeit, 11. Juli 1986

[Bearbeiten] Literatur

  • Rudolf Augstein u. a.: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Piper, München/Zürich 1987, ISBN 3-492-10816-4
    Das Buch enthält nahezu alle wichtigen Texte der Debatte aus dem Jahr 1986 und ist damit die Sammlung, wenn man sich zum Thema informieren will.
  • Andreas Hillgruber: Zweierlei Untergang. Siedler, München 1986, ISBN 3-8868-0187-X
  • Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, 5., überarb. und erw. Aufl., Herbig, München 1997 (1. Aufl. Frankfurt/Main 1987) ISBN 3-7766-9003-8
  • Reinhard Kühnl (Hg.): Vergangenheit, die nicht vergeht. Die „Historiker-Debatte“. Dokumentation, Darstellung und Kritik. Pahl-Rugenstein, Köln 1987, ISBN 3-7609-1114-5
  • Imanuel Geiss: Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit, Berlin 1988, ISBN 3-88680-328-7
  • Rafael Seligmann: Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis, Hamburg 1991, ISBN 3-455-08420-6
  • Imanuel Geiss: Der Hysterikerstreit. Ein unpolemischer Essay, Bonn/Berlin 1992, ISBN 3-416-02370-6
  • Steffen Kailitz: Die politische Deutungskultur im Spiegel des „Historikerstreits“. What’s right? What’s left, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, ISBN 3531137018.
  • Wehler, Hans-Ulrich Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum "Historikerstreit". Beck, München 1988. ISBN 3-406-33027-4
  • Michael Schneider: „Volkspädagogik“ von rechts. Ernst Nolte, die Bemühungen um die „Historisierung“ des Nationalsozialismus und die „selbstbewußte Nation“. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1995, ISBN 3860774638

(Electronic ed.: Bibliothek der FES, 1998)

[Bearbeiten] Weblinks

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