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Mu'tazila

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Mu´tazila المعتزلة  Mu'tazila, DMG al-muʿtazila ist eine inzwischen ausgestorbene rationalistische Glaubensrichtung des sunnitischen Islam, die sich 770847, vor allem aber zu Zeiten des Abbasiden-Kalifen al-Ma´mun allerhöchster Protektion erfreute und 827 in eine Inquisition (Mihna) gegen Andersdenkende (Ibn Hanbal) mündete.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Anfänge

Der Legende nach soll der Kalif al-Ma´mun im Traume Aristoteles gefragt haben, was im eigentlichen Sinne gut sei. Die Antwort soll gewesen sein, dass nur das gut sei, was vernünftig ist. Es fällt auf, dass diese Antwort, selbst wenn es nur ein Traum oder überhaupt eine Legende gewesen ist, zwar typisch aristoteleisch, dennoch aber unvollständig ist. Ohne den Einklang der Vernunft mit dem Gefühl bleibt sie einseitig. Angewandt auf die Religion aber kann das zu schwerwiegenden Disputen und Argumentationsproblemen führen.

Die muslimische Geistlichkeit unter al-Ma´mun sah sich z. B. mit der von ihr selbst aufgeworfenen Frage konfrontiert, wieso Gott das von ihm selbst geschaffene Böse überhaupt bestrafen könne (siehe auch Theodizee). Die Betonung der Vernunft gab ihnen die Antwort und legte die Grundlagen für die neue islamische Rechtschule der Mu´tazila.

[Bearbeiten] Die fünf Prinzipien der Mu'atazila

Die Lehre der Mu'atazila war in zwei Hauptprinzipien und drei weiter Prinzipien gegliedert.

1. at-tawhid (die Absolute Einheit Gottes)

2. al-'adl (die Gerechtigkeit Gottes)

3. al-wa'd wa al-wa'id (das Versprechen und die Drohung, d.h. Die Taten des Menschen beeinflussen den Eintritt ins Paradies)

4. al-manzil bayn al-manzilatayn (Es existiert ein Zwischenstadium zwischen dem Gläubigen und dem Ungläubigen)

5. al-amr bi-l-ma'ruf wa an-nahy 'an al-munkar (das Gute ist zu Gebieten, das Schlechte zu verbieten)

Eine weitere wichtige These war die Ableitung aus dem Koran, das der Koran selbst geschaffen (machluq) ist. Dies erlaubte ihn kritisch zu betrachten, gar zu kritisieren. Nur Gott selbst darf als schaffend (Chaliq) bezeichnet werden.

[Bearbeiten] Hauptvertreter und Gegner

Als frühe Vordenker dieser theologischen Richtung gelten Hasan al-Basri († 728) sowie seine Schüler Wasil († 748) und Amr ibn Ubayd, ihr eigentlicher Gründer aber war Abu al-Hudhayl († 841). Er vertrat die Auffassung, dass Gott nur Gutes wolle und auch tue und dass das Böse nur ein Zwischenstadium zwischen Glaube und Unglaube sei wie ein sündiger Muslim selbst. Diese Zwischenstufe entspricht dem aristotelischen Suchen nach der Mitte ebenso wie die mu´tazilistische Sicht auf den Islam schlechthin als Weg zwischen Versprechen (auf die sieben Himmel) und Drohung (mit Hölle, Fegefeuer und Verdammnis). Der richtige Weg zwischen diesen beiden Extremen jedoch beruht auf aktivem Handeln für das Gute und gegen das Böse – ähnlich den aristotelischen Tugenden.

Ebenso wie bei Aristoteles finden wir logische Argumentationsketten und – wo diese enden – Spekulationen bzw. Interpretationen. Aristoteles hatte bei seiner Vorliebe für diese Logik bemerkt, dass diese Argumentationsketten am Ende zu subjektiven Meinungen führen konnten. Islamische Machthaber aber auch religiöse Modernisierer und Intellektuelle hatten sich ein Instrument geschaffen, jede beliebige Stelle des Korans in ihrem Interesse auszulegen. Der Koran sei nach Auffassung der Rationalisten nicht wie Gott ewig, sondern anders als Gott zeitlich, von Gott für Menschen einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen erschaffen. Vor allem diese These reizte orthodoxe Sunniten wie Ibn Hanbal.

Hauptargument für die Entscheidungsfindung und Interpretation islamischer Prinzipien sollte die Vernunft sein – als Maßstab an Überlieferung und Offenbarung sowie ihre Anwendung auf veränderte politische und soziale Verhältnisse. Die Anhänger dieser Glaubensrichtung distanzierten sich (i'tazala – daher die Bezeichnung Mu'tazila als Part. Aktiv im Arabischen)  von den sunnitischen Doktrinen in der Sündenlehre und stellten die These auf, dass ein Sünder weder gläubig noch ungläubig sei. Im strengen Monotheismus verwurzelt – in al-Ma'muns Dekret ist expressis verbis von der Lehre vom Tauhid („Monotheismus“) die Rede – sind Fragen nach dem göttlichen Wesen, der Prophetie und vor allen Dingen nach der Erschaffenheit des Korans und der Freiheit des Menschen in seinem Handeln von zentraler Bedeutung gewesen.

Die Geschichte jedoch verlief anders. Gegen diese religiöse Staatslehre stellte sich sehr bald die konservative sunnitische Geistlichkeit, deren Hauptargument die unveränderliche Befolgung der Tradition und ihre ständige Nachahmung war. Die Vermischung von göttlichen Anweisungen und menschlichen Gedanken durch den Menschen erklärten sie zur Sünde. Ihre Hauptvertreter waren Ibn Hanbal († 855), al-Maturidi († 941) und später al-Ghazali († 1111). Kein halbes Jahrhundert und kaum drei Herrscher später hatte sie wieder die religiöse Führung im Reiche der Kalifen gewonnen. Die in Opposition zum Staat stehenden Schiiten aber gaben die Konzeption der selbstständigen Entscheidungsfindung nicht einfach auf, entwickelten sie aber weiter. Auch die Mu´tazila genoss außerhalb des Kalifenhofes noch eine Duldung und gewisse Förderung an den Höfen der persischen Bujiden (Schiiten), an denen auch der Aristoteles-Kommentator Avicenna († 1037) als Arzt wirkte. Weitere Gegner der Mu'tazila waren und sind die Hanafiten, die Anhänger von al-Maturidi.

[Bearbeiten] Übernahme durch die Schia

Allerdings setzte jedoch eine Spaltung der Mu´tazila in eine frühe „Basrer“ und eine spätere „Baghdader Schule“ ein. Letztere darf nicht verwechselt werden mit der „Baghdader Schule“ der imamitischen Schiiten, hat diese jedoch entscheidend beeinflusst und kann in gewisser Weise als eine der Wurzeln derselben gelten.

Mit der Machtübernahme durch die Hanafitischen Seldschuken endete auch diese Phase in der Mitte des 11. Jahrhunderts, doch bemühten sich die fremden Machthaber und die Abbasiden-Kalifen fortan, die Mu´tazila als Gegengewicht zu den radikalen Hanbaliten zumindest zu erhalten. Eine wahre letzte Blüte erlebte die Mu´tazila unter Zamakhshari († 1144) aber nur noch in Choresmien bis zur Vernichtung durch die Mongolen (ab 1220).


[Bearbeiten] Literatur

  • Tilmann Nagel, Geschichte der islamischen Theologie, München 1994.

[Bearbeiten] Weblinks

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