Radbruchsche Formel
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Als Radbruchsche Formel wird die These Gustav Radbruchs bezeichnet, wonach sich der Richter im Konflikt zwischen positivem (gesetztem) Recht und Gerechtigkeit unter bestimmten Umständen gegen das Gesetz für die Gerechtigkeit entscheiden müsse. In einer derartigen Ausnahmesituation gelte dann:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur "unrichtiges" Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“
– Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107)
Auch Radbruch meint, dass prinzipiell jedes Recht (also auch das ungerechte), besser ist als kein Recht, so lange eben die Grenze zum Unerträglichen nicht überschritten wird.
Im Fall der kompletten Verleugnung der Gerechtigkeit entbehre das Gesetz überhaupt der Rechtsnatur.
Die Grundaussage der o. g. „Formel“ lässt sich weit zurückverfolgen. So argumentiert etwa bereits Augustinus im Sinne des Naturrechts: „Ein ungerechtes Gesetz ist (überhaupt) kein Gesetz.“ Auch in der Antike finden sich Argumente, dass dem Staat bzw. seinem Gesetz nicht unter allen Umständen zu gehorchen ist.
Die Radbruchsche Formel spielt auch eine große Rolle in der rechtsphilosophischen Diskussion um das Widerstandsrecht und den Tyrannenmord.
Die Radbruchsche Formel wurde von Radbruch erstmals im Jahre 1946 im Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“[1] in der Süddeutschen Juristenzeitung veröffentlicht. In der Gesamtausgabe findet man den Aufsatz in Bd. 3, Seite 83 (90). Dieser Aufsatz ist der wohl praktisch einflussreichste rechtsphilosophische Text des 20. Jahrhunderts, da die Radbruchsche Formel mehrfach direkt Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht und des Bundesgerichtshofs gefunden hat:
- BVerfGE 23, 98, (98 ff.)
- Urteil vom 12. Juli 1951 - III ZR 168/50, BGHZ 3, 94 (Erschießung eines Deserteurs durch Angehörige des Volkssturms in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs)
- Urteil vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92, BGHSt 39, 1 (Strafbarkeit des Schusswaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze)
- Urteil vom 20. März 1995 - 5 StR 111/94, BGHSt 41, 101 (Tötungshandlungen an der innerdeutschen Grenze)
- Urteil vom 5. Juli 1995 - 3 StR 605/94, BGHSt 41, 157 (Rechtsbeugung durch DDR-Arbeitsrichter)
- Urteil vom 15. September 1995 - 5 StR 713/94, BGHSt 41, 247 (Rechtsbeugung durch Strafrichter und Staatsanwälte der DDR)
(Die Zeichenfolge nach dem Datum ist das Aktenzeichen, gefolgt von der Fundstelle, dabei bezeichnet BGHZ die amtliche Sammlung in Zivilsachen und BGHSt die amtliche Sammlung in Strafsachen.)
[Bearbeiten] Quellen
[Bearbeiten] Literatur
Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutschen Juristenzeitung 1946, S. 105 bis 108.
Ralf Dreier/Stanley L. Paulson (Hrsg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, 2. Aufl. 2003 (Anhang 3)
[Bearbeiten] Weblinks
- Informationen zur Radbruchschen Formel mit weiterführenden Links (Institut für Rechtsinformatik der Universität des Saarlandes)
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