Scheinkraft und Trägheitskraft
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Scheinkräfte und Trägheitskräfte sind Kräfte, die nur in sogenannten Nicht-Inertialsystemen auftreten. Sie wirken auf die (träge) Masse eines Körpers und haben die Dimension einer physikalischen Kraft.
Für Nichtphysiker haben Scheinkräfte vor allem Bedeutung in der Wahrnehmung von beschleunigten Zuständen. Vom Menschen werden Scheinkräfte wie reale Kräfte wahrgenommen, da das Gehirn auch in beschleunigten Bezugsystemen (klassisches Beispiel: ein sich drehendes Karussell) instinktiv versucht, die gefühlten Kräfte in Einklang mit den (intuitiv erfassten) Gesetzen in einem Inertialsystem zu bringen. Obwohl tatsächlich im Karussell nur eine in Richtung Zentrum wirkende Kraft auftritt (die Zentripetalkraft), erlebt man die Situation so, als ob es eine nach außen gerichtete Kraft gäbe (die Scheinkraft Zentrifugalkraft), die man nur dadurch ausgleichen kann, indem man sich unter Kraftanstrengung Richtung Zentrum zieht. Diese Falschwahrnehmung entsteht, weil die (nur deformationsempfindlichen) Sinneszellen keine Information über die tatsächliche Orientierung der Kraft (nach außen oder innen) geben, sondern diese vom Gehirn unbewusst daraus geschlossen wird, in welche Richtung wir uns scheinbar unter Einfluss dieser Kraft bewegen würden (nach außen). Dass diese intuitive Interpretation falsch ist, erkennt man daran, dass die gefühlte Kraft sobald man vom Karussell springt sofort zu wirken aufhört, und man sich auch nicht radial nach außen bewegt (wie das Gehirn intuitiv vermutet), sondern tangential in geradliniger Bahn - und das auch nur wegen des Impulses ("Schwung"), den man im Moment des Loslassens hatte, und nicht aufgrund der Wirkung einer Kraft. Die gespürte Kraft war also tatsächlich nur die (nach innen gerichtetete) Kraft, die einen auf dem Karussell gehalten hat.
Eine wichtige Rolle für die Deutung des Gehirns spielt die optische Information, also die eigene Bewegung relativ zur unmittelbaren Umwelt. Deswegen hat man z.B. beim Wasserskifahren durchaus den Eindruck, beim Start vom Motorboot nach vorne gezogen zu werden, während man in der U-Bahn in genau derselben Situation eher den Eindruck hat, nach hinten gezogen (gedrückt) zu werden.
Diese psychologischen Aspekte verwirren oft bei dem Versuch, Scheinkräfte zu verstehen. In der Physik erweist sich aber, unabhängig von dieser psychologischen Natur, die formale Einführung solcher Kräfte zur Behandlung bestimmter Probleme als vorteilhaft:
Trägheitskräfte erlauben die Berechnung dynamischer Probleme nach dem Schema statischer Probleme (siehe d'Alembertsches Prinzip). Sie treten auf, wenn ein Körper beschleunigt, abgebremst oder gedreht wird.
Scheinkräfte erlauben Berechnungen in beschleunigten Bezugssystemen nach dem Schema nicht beschleunigter Bezugssysteme. Sie treten auf, wenn ein Bezugssystem beschleunigt wird; darunter fallen auch das Abbremsen (negative Beschleunigung) und die Drehung (Beschleunigung in eine andere als die Bewegungsrichtung). Das definierende Merkmal von Scheinkräften ist, dass sie bei einer geeigneten Wahl des Bezugssystems verschwinden. Man kann sie also durch einen Wechsel des Koordinatensystems "wegtransformieren". Zu den Scheinkräften zählen die Zentrifugalkraft und die Corioliskraft.
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[Bearbeiten] Trägheitskräfte
Trägheitskräfte wie die Zentrifugalkraft kann man auch dadurch erklären, dass sich ein betrachteter Körper von sich aus geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegen will, er jedoch zum Beispiel in einem Karussell auf eine Kreisbahn gezwungen wird. Die Kraft, die der Körper dieser Bewegungsänderung aufgrund seiner Trägheit entgegensetzt, nennt man Trägheitskraft.
[Bearbeiten] Bezugssysteme
Beobachtet man die Bewegung eines Objekts, so kann man diese Bewegung nur bezüglich eines festgelegten Ortes, z. B. dem Standpunkt des Beobachters, beschreiben. Diesen Ortsbezug nennt man Bezugssystem. Nach Isaac Newton werden die Bewegungen von Objekten allein durch die Kräfte bestimmt, die auf sie einwirken.
Bezugssysteme werden durch Koordinatensysteme dargestellt, in deren Nullpunkt (oder Ursprung) ein virtueller Beobachter gedacht wird. Normalerweise wird ein solches System als ruhend angenommen. In der Newton'schen Theorie ändern sich die Kräfte jedoch nicht, wenn man zwei Koordinatensysteme vergleicht, die sich nur durch ihren Beobachter (also Ursprung) unterscheiden. Der zweite Beobachter kann sich sogar mit konstanter Geschwindigkeit in die selbe Richtung bewegen ("geradlinig gleichförmige Bewegung"), ohne dass sich die Kräfte verändern. Solche Systeme nennt man Inertialsysteme. Nicht-Inertialsysteme sind relativ zu den Inertialsystemen beschleunigt. Sie heißen daher beschleunigte Bezugssysteme. Rotierende Bezugssysteme sind ein spezieller Fall beschleunigter Bezugssysteme. Hier wirkt die Beschleunigung senkrecht zur Rotationsrichtung.
Es ist zu beachten, dass die newtonsche Theorie keine konkrete, empirisch zugängliche Ursache für Trägheitskräfte benennen kann. Es wird dazu ein Konstrukt - der absolute Raum - eingeführt. Danach sind diejenigen Bezugssysteme als Inertialsysteme anzusehen, die gegenüber dem absoluten Raum nicht beschleunigt sind. Dieses Konzept des absoluten Raumes wird zuerst von Mach als eine bloße Tautologie kritisiert. Die Einsteinsche allgemeine Relativitätstheorie beendet schließlich die Idee vom absoluten Raum.
[Bearbeiten] Scheinkräfte
In beschleunigten - also auch rotierenden - Bezugssystemen bewegen sich Objekte, auf die keine äußeren Kräfte einwirken, nicht mehr geradlinig gleichförmig, sondern beschleunigt (natürlich nur aus der Sicht des Beobachters, der selbst beschleunigt wird oder rotiert)! Die Änderung der Geschwindigkeit scheint durch Kräfte verursacht zu werden. Da diese Kräfte von der Wahl des Bezugssystems abhängen und sie im ruhenden System nicht auftreten, nennt man sie Scheinkräfte. Diese treten zusätzlich zu den sonst vorhandenen Kräften auf.
Die Bezeichnung dieser Kräfte als Scheinkräfte soll zum Ausdruck bringen, dass diese nicht auf eine klare physikalische Ursache zurückgeführt werden können, sondern lediglich durch den Wechsel des Bezugssystems (von einem nicht beschleunigten in ein relativ zum beobachteten Ereignis beschleunigtes), hervorgerufen werden. Diese durch die Entdeckung der Relativitätstheorie veraltete Sichtweise beruht noch auf der Idee des absoluten Raumes, in dem sich Massen geradlinig gleichförmig bewegen und sich Trägheitskräfte, hier identisch mit Scheinkräften, durch eine bloße Transformation in ein Nicht-Inertialsystem hervorrufen lassen.
[Bearbeiten] Inertialsysteme
Im Rahmen der klassischen Mechanik beschreiben die Newton-Axiome die Bewegung eines Körpers in einem Inertialsystem.
Die Bewegungsgleichung lautet:
.
Die zeitliche Änderung des Impulses des Körpers ist gleich der an ihm angreifenden äußeren Kräfte
.
In Inertialsystemen gibt es keine Scheinkräfte.
[Bearbeiten] Beschleunigte Bezugssysteme
In beschleunigten Bezugssystemen gilt diese einfache Beziehung nicht, die Bewegungsgleichung wird komplizierter.
Jede zeitabhängige Änderung des Bezugssystems lässt sich in erster Näherung durch eine
- momentane Rotation um eine Rotationsachse
mit Winkelgeschwindigkeit
und eine
- momentane Beschleunigung des Koordinatenursprunges
beschreiben.
Durch Koordinatentransformation erhält man die korrekte Bewegungsgleichung in einem solcherart beschleunigten Bezugssystem:
(Massenträgheitskraft)
(Zentrifugalkraft)
(Corioliskraft)
(Azimuthalkraft).
Die eigentlich nur in Inertialsystemen gültige Newtonsche Bewegungsgleichung lässt sich also auch in beschleunigten Bezugssystemen weiter anwenden, wenn man künstlich weitere Kräfte einführt, die vom Ort und der Geschwindigkeit
des Körpers abhängen.
Alle Scheinkräfte sind proportional zur trägen Masse m des Körpers.
[Bearbeiten] Rotierende Bezugssysteme
Zu einem Körper, der sich in einem Inertialsystem mit der Geschwindigkeit v auf einer Kreisbahn mir Radius r bewegt, kann man ein beschleunigtes Bezugssystem finden, in dem dieser ruht: das gleichförmig rotierende System mit .
In einem solchen System wirkt dann nur eine einzige Scheinkraft auf diesen Körper,
die Zentrifugalkraft .
Sie ist stets vom Rotationszentrum weg gerichtet.
[Bearbeiten] Trägheitskräfte in der post-newtonschen Physik - das machsche Prinzip
Die klassische newtonsche Sichtweise zu den Ursprüngen der Trägheitskräfte wurde zuerst von Ernst Mach in Frage gestellt, der in seinem bekannten Gedankenexperiment zum newtonschen Eimerversuch die Existenz des absoluten Raumes in Frage stellte und die bisherige Begründung für das Auftreten von Trägheitskräften als Tautologie betrachtet. Nach seiner Hypothese wird eine Trägheitskraft durch eine Beschleunigung nicht gegen einen etwaigen absoluten Raum, sondern gegen die restlichen Massen des Universums (Fixsterne, Quasare, etc.) erzeugt. Die im newtonschen System zufällige Übereinstimmung von Fixsternkompass und Trägheitskompass ist laut Mach mitnichten zufällig sondern weist auf einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang hin, den man als das machsche Prinzip bezeichnet.
Albert Einstein bemerkte später, dass eine seiner Motivationen bei der Erstellung der allgemeinen Relativitätstheorie die Idee war, das machsche Prinzip auf eine solide theoretische Grundlage zu stellen. In der Tat erklärt die allgemeine Relativitätstheorie das machsche Prinzip gut, wenn bestimmte kosmologische Annahmen investiert werden. So kann der friedmannsche Kugelkosmos als "machsch" gelten. Beispiel für ein nicht-machsches Universum wäre die gödelsche Lösung. Da die allgemeine Relativitätstheorie das machsche Prinzip jedoch nicht vollständig erklären konnte, verlor Einstein das Interesse später wieder. Eine lokale Auswirkung dieser machschen "Trägheitsinduktion", der sogenannte Lense-Thirring-Effekt, wird allerdings von der allgemeinen Relativitätstheorie vollständig erklärt und kann mittlerweile auch als experimentell nachgewiesen gelten.
Demnach verhält sich beispielsweise die Coriolis-Kraft zur Gravitationskraft ebenso wie die Lorentzkraft zur elektrostatischen Anziehung. In der Tat kann man näherungsweise die Winkelbeschleunigung in der Corioliskraft ersetzen durch einen Massenkreisstrom (den der um den Beobachter rotierenden restlichen Massen im Universum) und eine entsprechende Kopplungskonstante, die sogar von der selben Größenordnung ist wie diejenige zwischen elektrostatischer und Lorentzkraft.