Tschuwaschen
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Tschuwaschen (Eigenbezeichnung: Чăваш, Pl. Чăвашсем, amtliche kyrillische Schreibung; nichtamtliche lateinische Schreibweise Çăvaş, Pl. Çăvaşsem) sind ein turkstämmiges Volk in Osteuropa. Sie bilden heute mit etwa 1,7 Millionen Zugehörigen eine Sondergruppe innerhalb der Turkvölker. Sie gelten im allgemeinen als Nachfahren der als Onoguren bezeichneten Wolgabulgaren.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Geographische Verteilung
Die Hälfte der Tschuwaschen lebt in der Republik Tschuwaschien, einer Teilrepublik der Russischen Föderation. Dort stellen sie ca. 70% der 1,4 Millionen Einwohner. In anderen russischen Teilrepubliken und administrativen Gebieten der Mittleren Wolga und des Ural-Vorlandes stellen sie lediglich Minderheiten. So sind ca. 3,7% der Bewohner Tatarstans Tschuwaschen (Stand 2000).
[Bearbeiten] Ethnische Herkunft und Geschichte
Die Tschuwaschen können unter anderem als Nachfahren der Wolgabulgaren angesehen werden. Gleichzeitig haben sie in ihrer traditionellen Kultur viele Gemeinsamkeiten mit den eine wolgafinnische Sprache sprechenden Mari (Tschermissen) und anderen Bevölkerungsgruppen der Wolga-Ural-Region.
[Bearbeiten] Ethnische Einteilung der Tschuwaschen
Die ältere Ethnologie unterteilte die Tschuwaschen nach sprachlichen und kulturellen Gesichtspunkten in zwei Territorialgruppen. Die Wirjalen lebten in Bezug auf die Lauf der Wolga stromaufwärts (weiter "oben") im nördlichen und westlichen Teil der heutigen Republik Tschuwaschien. Die Anatri lebten in Bezug auf die Wolga mehr stromabwärts. Zu ihnen gehörten die Bewohner im Süden der heutigen Republik und in den weiter südlich und östlich liegenden Gebieten (Oblast Uljanowsk, Samara) und Republiken (Tatarstan, Baschkortostan). Die postsowjetische russische Ethnologie benennt die Anat Jenschi als die dritte größerer Gruppe der Tschuwaschen, die eine Art Übergang zwischen den Wirjalen und Anatri darstellt. Als ihre Wohngebiete wird der Osten und die zentralen Gebiete der heutigen Republik Tschuwaschien angegeben.
[Bearbeiten] Sprache
Die tschuwaschische Sprache wird seit dem 18. Jahrhundert in kyrillischer Schrift geschrieben. Sie nimmt auf Grund ihrer lautlichen Struktur eine Sonderstellung unter den Turksprachen ein. Über ihre Entstehung und Herkunft gibt es viele Theorien.
[Bearbeiten] Religionen
Im Gegensatz zu fast allen anderen Turkvölkern waren die meisten Tschuwaschen schon im 18. Jahrhundert russisch-orthodox. Elemente der animistischen Naturreligion der Tschuwaschen haben sich in veränderter und reduzierter Form bis heute erhalten. Einige tschuwaschische Nationalisten bemühen sich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einigem Erfolg um die Wiederbelebung und Erneuerung des Heidentums. Islamische, jüdische und auch altiranische Einflüsse finden sich in Götternamen, den Bezeichnungen von Wochentagen und einzelnen traditionellen Ritualen wieder. Übertritte von größeren Gruppen und einzelnen Personen zum Islam gab es seit vielen Jahrhunderten bis heute. Oft führten sie auch zu einem Sprach- und Kulturwechsel hin zu den Wolga-Tataren. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts übten atheistische Vorstellungen und in den letzten Jahren auch esoterische Konzepte einen wichtigen Einfluss aus. Heute dürften dennoch 80–90 Prozent der Tschuwaschen christlich getauft sein. Dies ist jedoch nicht mit einer aktiven religiösen Haltung und Praxis gleichzusetzen. Die Zahl der aktiven Kirchgänger ist so gering wie im übrigen Russland und liegt nach verschiedenen Meinungen zwischen 10 und 20 Prozent.
[Bearbeiten] Geschichte
Die Tschuwaschen bildeten mit anderen Völkerschaften das Großbulgarische Reich. Dort wurden sie im 8. Jahrhundert islamisiert. Im 13. Jahrhundert wurden sie von den Mongolen unterworfen und gehörten von 1237-1502 zum Reich der Goldenen Horde und im Anschluss daran zum Khanat Kasan.
1552 unterstellten sich die Tschuwaschen freiwillig dem Schutz des russischen Zaren, der daraufhin das Khanat Kasan zerschlug und es in seinem Reich eingliederte. Doch galten die Tschuwaschen für die Russen als Muslime lange Zeit nur als besonderer Teil der Tataren.
Im 17./18. Jahrhundert konvertierten die meisten Tschuwaschen zum orthodoxen Christentum, da sie der Meinung waren, als Christen nun besser von den russischen Behörden behandelt zu werden.
1917 schlossen sich die Tschuwaschen dem kurzlebigen „Wolga-Ural-Staat“ des Bolschewiken und Tataren M. Sultan Galijew an, der aus der türkischen Gemeinschaft „Wolga-Ural“ hervorging.
1919 erfolgte die Errichtung einer von den Tataren unabhängigen ASSR im Rahmen Russlands.
1989 erfolgte mit dem beginnenden Zusammenbruch der UdSSR die nationale Rückbesinnung der Tschuwaschen und es entstanden zahlreiche Bürgerbewegungen, die zum Teil heftig mit den Unabhängigkeitsbewegungen der Tataren und Baschkiren im Streit lagen. Am bekanntesten war die nationalistische Bewegung Bolgarı Cedıd (Neue Bolgaren), die wollte, dass sich nun auch wieder die Tataren als „Bolgaren“ betrachteten und sich auf ihre Rolle vor der mongolischen Eroberung rückbesinnten. Auch begannen sich die Tschuwaschen wieder bewusst als „Türken“ zu empfinden. Aus der Bewegung „Bolgarı Cedıd“ ging in der Folgezeit die pan-türkische Parteien bzw. Vereinigungen:
- „National-Demokratische Front Tschuwaschiens“ (Çuvaşistan Millî Demokratik Cephesi)
- „tschuwaschisches soziales Kuturzentrum“ (Çuvaş Sosyal Kültür Merkezi)
- „türkische Volksversammlung“ (Türk Halkları Asamblesi)
Die obengenannten Parteien und Bewegungen werden aktiv von der Türkei unterstützt, da sie neben ihrer Muttersprache auch das Türkische verwenden, wie auch die Namen der Bewegungen zeigen. Dagegen steht „Tschuwaschische Volkspartei“ (Çâvaş Kalkınma Partisi), die betont einen eigenständigen Weg geht. Sie sieht sich selbst als wahren Erben der Bürgerbewegung „Bolgarı Cedıd“ an.
Doch ironischerweise entsenden alle diese Bewegungen und Parteien ihre Jugend zu Versammlungen der von der Türkei veranstalteten „Union der türkischen Welt-Jugend“ (Türk Dünyası Gençler »Birliği«) und ihrer Kongresse (zuletzt 2005 in Ankara).
[Bearbeiten] Literatur
- Erhard Stölting: Wenn eine Weltmacht zerbricht, 1990 (S. 145-156)
- Heinz F. Wendt: Fischer Lexikon Sprachen, 1961 (S. 328)
- Helmut Glück (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache, 2005 ISBN 3-476-02056-8
- Heinz-Gerhard Zimpel: Lexikon der Weltbevölkerung, 2000 (S. 90, 551-552)
- Der Neue Brockhaus, Bd. 4, 1938 (S. 484)