Verlagssystem
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Das Verlagssystem ist eine sich seit dem 14. Jahrhundert herausbildende Form der dezentralen Gütererzeugung! Der Verleger beschafft die benötigten Rohstoffe, gibt diese meist vorschussweise an den Produzenten aus und organisiert schließlich den Verkauf des Endproduktes. Das Wort „Verlag“ leitet sich von Vorlage ab. Der Verleger tritt mit Geld und/oder Rohstoffen in Vorlage. Die Produktion selbst wird in Heimarbeit vorgenommen.
Es werden mehrere Varianten des Verlagssystem unterschieden:
- Lohnsystem: Hierbei liefert der Verleger die Rohstoffe und entlohnt den Heimarbeiter über Stückpreise.
- Kaufsystem: Der Heimarbeiter stellt die Rohstoffe selbst, der Verleger nimmt die Ware zu einem von ihm festgelegten Preis ab. Das Kaufsystem ist vor allem dort gebräuchlich, wo der Produzent die Rohstoffe selbst herstellen kann (beispielsweise Leinwandweber)
- Zwischenmeistersystem: Der Verleger liefert die Rohstoffe (teilweise auch die Werkzeuge). Er bestimmt die Produktionsmenge. Der Zwischenmeister ist ein selbstständiger Gewerbetreibender mit eigener Werkstatt und Angestellten.
Gemeinsam ist allen Varianten, dass die verlegten Produzenten meist schnell in eine große Abhängigkeit vom Verleger geraten, da sie nur noch durch diesen einen Zugang zum Markt haben. Die Produktionsmittel bleiben formal das Eigentum des Handwerkers, dieser ist „Selbständiger“ und weitgehend schutzlos. Jegliches Lohnrisiko wird auf die Produzenten verlagert.
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[Bearbeiten] Verbreitung des Verlagssystems
Das Bevölkerungswachstum des 16. und 18. Jahrhunderts führte zu einer breiten Schicht von landarmer, teilweise landloser Landbevölkerung. Die als Bauernbefreiung bekannte, allmählichen Auflösungen der Verpflichtungen gegenüber dem Feudalherren (Frondienst -> Geldpachtsystem), erlaubte es den Bauern zudem freier über ihre Arbeitskraft zu verfügen. Das karge Einkommen konnte und musste durch eine nichtlandwirtschaftliche Tätigkeit aufgestockt werden.
Aufgrund dieser zusätzlichen Einnahmequelle wurden die ländlichen Ehebeschränkungen gelockert. Geheiratet werden konnte nun auch, wenn man über keinen ausreichenden Landbesitz verfügte. Hierdurch wurden mehr Ehen geschlossen und mehr Kinder geboren, was wiederum zum weiteren Anstieg der Bevölkerung beitrug.
Der Verleger nutzte die entstehenden freien Arbeitskräfte, um die Beschränkungen des städtischen Zunfthandwerkes zu umgehen. Auf dem Land hatte er es mit unorganisierten und daher weitgehend schutzlosen Hausgewerbetreibenden zu tun. Letztlich führte die Verlagerung der Produktion auf das Land zu einem erheblichen Druck auf das städtische Zunfthandwerk, welches damit ebenso ins Verlagssystem gezwungen wurde. Ursprünglich hatten die Zunftordnungen bestimmt, dass jeder Handwerksmeister seine Ware selbst verkaufen musste. Teilweise wurde dieses Prinzip aufgegeben als die Zünfte Verkaufsgenossenschaften gründeten. Die Vertriebsmöglichkeiten der Zünfte traten jedoch an ihre Grenzen, wenn die lokalen Absatzmärkte keine ausreichende Nachfrage mehr aufwiesen. In diesem Fall musste auf Fernkaufleute zurückgegriffen werden, die eine bessere Kenntnis der Exportmärkte hatten. Der Verleger übernahm diese Rolle.
Das Verlagssystem verbreitete sich überall dort, wo größere Stückzahlen einheitlich hergestellt werden konnten: im Textilgewerbe (Leinen- und Baumwollweber, Wolltuche und Seide), im Metallgewerbe (Kleineisenproduktion), im Verhüttungsgewerbe, in der Drahtfabrikation, im Waffengeschäft, im Holzgewerbe, im Buchdruck und in der Spielzeugherstellung.
[Bearbeiten] Verlagssystem in der Textilindustrie
Die Landbevölkerung hatte von jeher Textilien für den Eigenbedarf hergestellt. Der Verleger konnte deshalb auf ein breites handwerkliches Können und auf bestehende Produktionsmittel (Spinnräder, Webstühle etc.) vertrauen. Aus diesem Grund wurde das Verlagssystem vor allem im Bereich der Textilproduktion ausgeübt.
Obwohl eine verlegerische Organisationstätigkeit auch in der Textilindustrie schon im ausgehenden Mittelalter beobachtet werden kann lag ihr Höhepunkt im 18. Jahrhundert. Der Verleger wurde oftmals als „Fabrikant“ und das Verlagshaus als „Fabrik“ bezeichnet - insbesondere, wenn die im Verlagssystem produzierte Ware nur ein Zwischenprodukt darstellte (beispielsweise: Kattundrucker lässt im Verlagssystem seine Stoffe herstellen). Das Verlagssystem war neben den entstehenden Manufakturen eine Basis des modernen Fabrikwesens.
Die wirtschaftliche Situation der verlegten Landhandwerker wurde im Laufe der Jahre immer schlechter, vor allem weil nur teilweise in bar entlohnt wurde. Ein Teil des Warenwertes wurde meist mit den Rohstofflieferungen verrechnet. Das Streben des Verlegers nach Profitmaximierung, welche letztlich durch niedrige Produktionskosten erreicht werden sollte, führte zu immer niedrigeren Stückpreisen, welche durch das Überangebot an billiger Arbeitskraft auch durchgesetzt werden konnten. Die bedrängten Familien versuchten dies über eine Produktionssteigerung auszugleichen, was zu einer erheblichen Ausweitung der Kinderarbeit, aber auch zu schlechterer Qualität führte. Letztere wurde vom Verlegen wiederum als weiteres Druckmittel im Lohndumping verwendet.
Zum Ende des 18. Jahrhunderts war das textile Landhandwerk von einer massenhaften Verarmung (Pauperismus) bedroht. Dies führte vielerorts zu Weberaufständen.
Zur selben Zeit wurde das Verlagssystem auch auf die städtischen Handwerksbetriebe ausgedehnt und führte langfristig zum Ende der Weberzünfte. Die hochwertigen Erzeugnisse der Weberzünfte waren vom globaleren Markt verdrängt worden. Die Weber mussten auch hier in immer größerem Maße schlechtere Qualität produzieren, um überhaupt noch im Geschäft zu bleiben. Im Laufe dieses Prozesses kam es auch unter den städtischen Webern zu Aufständen. Die Entwicklung des städtischen Handwerkers reichte dabei, je nach den wirtschaftlichen Verhältnissen, vom Abstieg zum bloßen Lohnhandwerker bis zum Aufstieg zum Verleger.
- Siehe auch Weberaufstand
Die in England beginnende industrielle Revolution führte zum Aussterben des Verlagssystems im textilen Umfeld. Bereits 1783/1784 war mit der Cromforder Spinnerei in Ratingen die erste Textilfabrik auf dem europäischen Festland entstanden. Etwa um 1830 war der Produktionsprozess des Spinnens bereits weitgehend mechanisiert.
Die Mechanisierung des Webens steckte jedoch bis ca. 1820 technisch in den Kinderschuhen. Die ersten mechanischen Webstühle erbrachten noch keine Produktivitätssteigerung. So konnte das Weben noch lange Zeit als Handarbeit betrieben werden. Tatsächlich erlebte die Handweberei in der Mitte des 19. Jahrhunderts quantitativ ihre größte Blüte. Erst die Erfindung des Schnellschützen machte den mechanischen Webstuhl konkurrenzfähig. Zuerst wurde die Leinenweberei, erst später auch die Baumwollweberei mechanisiert. In manchen Gebieten konnte sich die Baumwoll-Handweberei bis in die 80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts halten.
[Bearbeiten] Verlagsbuchhandel
Die Herstellung von Druckerzeugnissen wird im Verlagssystem durchgeführt. Der Verleger vergibt den Druckauftrag (früher an den selbständigen Drucker, heute ist die Produktion meist integriert) und sorgt für den Vertrieb. Der Begriff hat sich hier erhalten.
[Bearbeiten] Heimarbeit im Nachkriegsdeutschland
Heimarbeit im Sinne eines Beitrages zu einem industriellen Prozess hielt sich in Deutschland bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts z.B. im Schwarzwald, wo Teilmontagearbeiten in der Uhrenindustrie, der Elektroindustrie oder auch das Zusammenstecken und -schrauben von Kugelschreibern als Heimarbeit vergeben wurden. Der Untergang dieser Industrien dort oder die vollkommene Automatisierung der Arbeiten oder die Verlagerung der Arbeiten ins Ausland haben die Heimarbeit im Verlagssystem praktisch erlöschen lassen.
[Bearbeiten] Gegenwart
In Ländern der Dritten Welt lebt das Verlagssystem teilweise im Bereich der Teppichherstellung und der Textilindustrie fort. In Hongkong werden Papierblumen und Spielzeug vielfach im Verlagssystem hergestellt. Weit verbreitet ist das Verlagssystem in Chinas Spielzeugindustrie und in der Schmuckindustrie Indiens und Chinas.
[Bearbeiten] Literatur
- Roland Bettger: Verlagswesen, Handwerk und Heimarbeit, Aufsatz in: Aufbrauch ins Industriezeitalter, Oldenbourg Verlag München, hrsg. von Claus Grimm, ISBN 3-486-52721-5
- Elisabeth Hilton: Made in China, in Lettre International Nr. 69, S. 34 ff.
- Die Wirtschaft zur Zeit Reuchlins, Vortrag von Prof. Dr. Gert Kollmer-von Oheimb-Loup, Direktor des Wirtschaftsarchivs Baden-Württemberg am 28. September 2005 in der IHK Nordschschwarzwald Pforzheim [1]