Volksstamm
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Ein Volksstamm ist eine Gruppe von Menschen, die sich zusammengehörig fühlt, jedoch nicht unbedingt ein geschlossenes Territorium einnimmt, oder deren Anrecht auf ein solches Territorium von den umliegenden Gruppen anerkannt wird. Historisch kann der Stamm auch eine politische Untereinheit einer Nation sein, wie etwa im antiken Rom oder im Israel zur Zeit der Richter und Könige. Der Gebrauch des Begriffes hat sich in seiner langen Geschichte mehrfach geändert, was bei der Verwendung des Wortes Stamm immer bedacht werden sollte.
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[Bearbeiten] Essenzialistische und konstruktivistische Definition
Wie bei der Nation gibt es im Wesentlichen zwei Arten, einen Stamm zu definieren. Bei einer essenzialistischen Definition versucht man, die Zugehörigkeit zu einem Stamm anhand von Eigenschaften, die seinen Mitgliedern gemeinsam sind und die angeblich objektiv feststellbar sind, zu treffen, wie etwa Abstammung, Sprache, Religion, Sitten und Gebräuchen.
Die konstruktivistische Definition geht davon aus, dass es lediglich der 'Glaube' an eine gemeinsame Abstammung ist, der Stämme zusammenhält. Wie ethnographische Forschungen gezeigt haben, sind Genealogien in schriftlosen Gesellschaften sehr flexibel und passen sich politischen Veränderungen sehr schnell an. Danach wären Stämme vor allem politische Zusammenschlüsse. So schlossen sich während der Völkerwanderung Gruppen unterschiedlicher Herkunft zu Stämmen zusammen. Den "Kristallisationspunkt" bildete dabei oft ein einzelner Anführer und dessen Nachkommen, der dann später oft als Stammvater der gesamten Gruppe galt. Gerne wurde die Abstammungslinie auch auf eine Gottheit zurückgeführt. Beispiele wären etwa die Alemannen oder die Langobarden. Oft besitzen Stämme auch eine ethnogenetische Erzählung, die berichtet, wie es zu dem Zusammenschluss kam, wie sie die Merkmale erwarben, die sie von anderen Stämmen unterscheiden, und wie sie, oft unter der Führung eines göttlichen Wesens, in ihr späteres Siedlungsgebiet gelangten.
Da in der Antike die Verwandtschaft als wichtigstes Gliederungsprinzip der Gesellschaft galt, wurden auch rein administrative Einheiten meist auf eine gemeinsame Abstammung zurückgeführt, die wohl anfangs rein nominell war, irgendwann aber als real akzeptiert wurde.
[Bearbeiten] Abgrenzung zu Volk und Staat
Die genaue Abgrenzung des Begriffs Stamm von Volk ist problematisch, da die Grenzen oft fließend sind. Der Stamm kann eine Untereinheit eines Volkes oder einer Ethnie bilden, oder man nimmt an, dass Stämme eine Vorstufe des Staates seien. So sehen sich beispielsweise die amerikanischen Irokesen selbst als Volk und Nation an; auch in Deutschland gibt es noch Stammesabgrenzungen, v. a. im heutigen Bayern, wo zwischen vier Stämmen (Altbaiern, Schwaben, Franken und Sudetendeutschen) unterschieden wird.
Als unterscheidendes Merkmal zwischen Stammesgesellschaften und Staaten gilt oft das Fehlen eines Steuersystems und eines stehenden Heeres. Stammesgesellschaften, von denen noch Überreste in wenig erschlossenen Regionen der Erde existieren, werden oft als Vorform staatlicher Organisationsformen angesehen. In der Sichtweise der klassischen Evolutionisten wie Lewis Henry Morgan und Friedrich Engels entwickelte sich die politische Gliederung über die Familie zu Abstammungsgruppen (Gentes) zu Stämmen und schließlich Staaten.
[Bearbeiten] Kritik am Stammesbegriff
Der Begriff "Stamm" bzw. "Ethnos" im Sinne von "Volk", "Bevölkerungsgruppe" wird zunehmend als diffamierend begriffen, da er impliziert, die Gruppe sei zu einer Nationenbildung nicht fähig und weise nur "primitive" politische Institutionen auf. In Bezug auf Afrika ist das Wort "Stamm" von Anfang an ein politisch belasteter Kampfbegriff gewesen und wurde als Überrest einer kolonialistischen Denkweise kritisiert. Die meisten Ethnologen benutzen den Begriff daher nicht mehr.
[Bearbeiten] Geschichte
Im antiken Griechenland war der Stamm ein organisatorische Untereinheit des Staates. Nach Aristoteles war der Genos eine Untereinheit der Phratrie. Gewöhnlich nimmt man daher eine Klassifikation in der Reihenfolge Gens (Geschlecht, Familiengruppe), Phratie, Tritty, Stamm, Stammesbund und Volk (ethne) an. Die Gentes waren endogam, die Heiratsgemeinschaft schloss also nicht den gesamten Stamm ein. Ursprünglich war die Gliederung in Gentes aber wohl auf die Aristokratie beschränkt. Diese Gliederung lag auch der militärischen Organisation zugrunde. In der Ilias (2, 101) empfiehlt Nestor: Ordne die Männer nach Stämmen und nach Phratrien, dass die Phratrie der Phratrie beistehe und der Stamm dem Stamme". In Attika gab es vier Stämme zu je drei Phratrien und dreißig Gentes. Diese Stämme leiteten ihre Abstammung auf einen eponymen Heros zurück, sind aber klar künstlich geschaffene politische und administrative Einheiten. In den athenischen Rat der 400 entsandte jeder Stamm 100 Mitglieder. Wer kein Mitglied eines Stammes war, hatte also keine politischen Rechte. Seit der Reform des Kleisthenes spielte der Stamm keine Rolle mehr in der politischen Organisation, er teilte Attika in Gemeindebezirke (Demen) ein, die fürderhin die politische Grundeinheit bildeten. Zehn dieser Demen wurden zu einem Stamm zusammengefasst, der nun aber über den Wohnort, nicht die tatsächliche oder angenommene Abstammung definiert war (Ortsstamm, Phyle). Dieser wählte den Phylarchen und die militärischen Anführer, Strategen und Taxiarchen, stellte fünf Kriegsschiffe für die Flotte und wählte 50 Mitglieder für die Ratsversammlung. Auch diese Phylen erhielten jedoch einen eponymen Heros zugeteilt, für dessen Kult sie verantwortlich waren.
In Rom waren ebenfalls gentes zu einem Stamm (tribus) zusammengeschlossen. Der Sage nach wurde Rom von einem latinischen, einem sabellischen und einem "gemischten" Stamm begründet, die alle aus jeweils hundert gentes bestanden. Jeweils zehn gentes bildeten eine Curie, die meist der griechischen Phratrie gleichgesetzt wird. Manche Historiker (Mommsen) übersetzen aber auch "gens" als Stamm. Der Senat war aus den Vorstehern dieser 300 gentes zusammengesetzt. In der Reform des Servius Tullius wurden neue Gentes gebildet, es wird also auch hier deutlich, dass es sich um politische Einheiten handelt, die nur vorgeblich auf Verwandtschaftsbeziehungen zurückgehen.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. MEW 21, 25-173 (Berlin 1973) [Zürich 1884].
- H. M. Fried: The notion of tribe (Menlo Park, Cummings 1975).
- S. Humphreys: Anthropology and the Greeks (London 1978), Kapitel 8.
- Adam Kuper: The invention of primitive society. Transformations of an illusion (London, Routledge 1988).
- Bruno Krüger: Stamm und Stammesverband bei den Germanen in Mitteleuropa. ZfA 20/1, 1986, 27-37.
- R. Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Böhlau, Köln/Graz 1961).