Wertewandel
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Der Begriff Wertewandel kennzeichnet einen Wandel gesellschaftlicher und individueller Normen und Wertvorstellungen.
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[Bearbeiten] Bleibende und sich wandelnde Werte
Häufig wird vermutet, dass der Wertewandel erst in neuerer Zeit, zum Beispiel seit den 1970er Jahren, wirke. Tatsächlich haben sich die Wertvorstellungen der Menschheit im Laufe der historischen Entwicklung zu allen Zeiten verändert. Ein Beispiel ist das Vergeltungsprinzip bei Körperverletzungen, wie es im Alten Testament aufgestellt wird („Auge um Auge, Zahn und Zahn“): Während heute mit einer Körperverletzung rechtlich und auch was die moralische Einschätzung betrifft ganz anders umgegangen wird, stellte der Grundsatz „Auge um Auge...“ seinerseits bereits einen Wendepunkt dar. Er wirkte strafmildernd und sollte ausufernde Blutrache vermeiden.
Andererseits gibt es bestimmte "ewige" Wertvorstellungen, zum Beispiel "Du sollst nicht morden; du sollst nicht stehlen" (Zehn Gebote). Wertvorstellungen sind dann dauerhaft, wenn sie sich zwingend aus Gründen der Selbst- und Existenzerhaltung, der Gerechtigkeit oder zur Vermeidung eines chaotischen Zusammenlebens ergeben.
Mit sich ändernden Denkstilen werden alte Begründungen als unlogisch, 'nur' religiös begründet oder nutzlos empfunden, und entsprechende Wertvorstellungen (zum Beispiel Schamhaftigkeit, Feiertagsheiligung, Nahrungstabus) entfallen im Laufe der Zeit bzw. werden neben abweichenden neuen allenfalls toleriert.
Eine Theorie über die Änderung der Werte in einer Gesellschaft kann nicht ohne die Betrachtung der psychologischen Verhaltensmuster der handelnden Personen und ihrer Auswirkungen auf die Kultur aufgestellt werden. Entsprechende Untersuchungen hierzu wurden bereits in den 1950er Jahren von dem amerikanischen Psychologen Clare W. Graves durchgeführt und in seiner Theorie der zyklisch auftauchenden Ebenen der Existenztheorie veröffentlicht. In jüngster Zeit wurde diese Theorie im Konzept der Spiral Dynamics des amerikanischen Psychologen Don Beck weiter ausgebaut und kann als Beschreibungsmodell des Wertewandels heutiger Gesellschaften dienen.
[Bearbeiten] Soziologische Modelle des Wertewandels
Bei der soziologischen Untersuchung des Wertewandels in der heutigen Zeit werden unter anderem zwei Extrempositionen vertreten:
Nach Ronald Inglehart findet seit den 1970er Jahren eine Abwendung von materiellen und Zuwendung zu postmateriellen Werten statt. Als zukünftiges Ergebnis wird eine hohe Engagementbereitschaft und höhere Freiheit angenommen.
Nach Elisabeth Noelle-Neumann gibt es hingegen seit 1968 einen kontinuierlichen Werteverfall. Als Symptome werden Bedeutungsverluste von Kirche und Religion, Autoritätsverluste, Erosion zahlreicher vermeintlicher Tugenden (jetzt eher als "Sekundärtugenden" gesehen), abnehmender Gemeinsinn und ein sinkendes politisches Engagement genannt.
Eine differenzierte Position der Wertesynthese bezieht Helmut Klages. Dieser geht davon aus, dass Wertewandel Erfordernis einer modernern Gesellschaft ist und ein Zwang zur Individualisierung herrscht.
[Bearbeiten] Ronald Inglehart: Die stille Revolution
[Bearbeiten] Grundlegende Hypothesen
Als Gründe für den durch empirische Studien (1970-1977) festgestellten Wertewandel benennt Inglehart zum einen die Mangelhypothese nach Abraham Maslow, welche besagt, dass nach der Deckung physiologischer Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Unterkunft) jene weiteren Bedürfnisse an Bedeutung zunehmen, welche zuvor zu wenig befriedigt wurden. Inglehart: "Den größten subjektiven Wert misst man Dingen zu, die relativ knapp sind."
Zum anderen Vertritt Inglehart die Sozialisationshypothese, welche besagt, dass die grundlegenden Wertvorstellungen eines Menschen weithin jene Bedingungen widerspiegeln, die während seiner Sozialisationsphase (Jugendzeit) vorherrschend waren. Wer also in einer Situation existenziellen Mangels aufgewachsen ist (z. B.: Kriegssituation), wird tendenziell eher materialistische Wertvorstellungen vertreten als jemand, der einen solchem Mangel nicht erfahren hat. Diese Hypothesen legt Inglehart zugrunde und erklärt so den Wandel der Wertevorstellungen (in westlichen Ländern) vom Materialismus zum Postmaterialismus.
Zu den materiellen Bedürfnissen zählen außer der Deckung physiologischer Bedürfnisse aller Art auch wirtschaftliche Stabilität, Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, ferner Ruhe und Ordnung in Staat und Gesellschaft und darüberhinaus leistungsstarke Streitkräfte.
Zu den postmateriellen Bedürfnissen zählen vor allem die Bereiche des Sozialen und der Selbstverwirklichung. Dazu zählen geistige, schöpferische, ästhetische und kontemplative Bedürfnisse aber auch Zugehörigkeitsgefühl, Bedürfnisse nach Mitsprache in Staat und Gesellschaft, Meinungsfreiheit sowie Naturschutz.
[Bearbeiten] Weitere Ursachen des Wertewandels
In seinem 1989 erschienen Buch Kultureller Umbruch führt Ingelhart weitere, auf weiterführenden Forschungen basierende Ursachen für einen immer globaler werdenden Wertewandel an. Neben der wirtschaftlichen Prosperität nennt er:
- technologische Entwicklung, welche immer größeren Teilen der Bevölkerung die Sicherung existenzieller Bedürfnisse garantieren
- Erfahrung von außenpolitischem Frieden für eine ganze Generation der westlichen Welt
- steigendes Bildungsniveau
- die Ausbreitung der Massenkommunikation
- wachsende geographische Mobilität
[Bearbeiten] Noelle-Neumann: Die Gefahr des Werteverfalls
Während Ingelhart die beobachteten Wertveränderungen in der Bundesrepublik als Fortschritt zu einem qualitativ höherwertigen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsniveau interpretiert, warnen andere vor den Gefahren des Wertewandels. Elisabeth Noelle-Neumann sagt voraus, dass das Vordringen von Selbstentfaltungswerten auf Kosten traditioneller bürgerlicher Pflichten (Preußische Tugenden) gesellschaftliche Auflösungserscheinungen zur Folge hat. Der Werteverfall moderner Jugendlicher habe einen 1968 deutlich gewordenen und in seiner Intensität bis dato unbekannten Generationenkonflikt zur Folge gehabt.
Beispielhaft nennt Noelle-Neumann:
- Abnahme der Bindung der Menschen an Religion und Kirche
- Schwindende Akzeptanz der Beschränkung individueller Freiheiten durch Normen, Hierarchien oder Autoritäten
- Bedeutungsverlust tradierte Tugenden wie Höflichkeit, gutes Benehmen, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit
- Ablösung der bürgerlichen Leistungsethik durch zunehmende Freizeitorientierung
- Abnahme von Gemeinschaftssinn und Bindungsfähigkeit der Menschen, sich in erprobten Formen in politischen Gemeinwesen zu engagieren.
In dieser Entwicklung sieht Noelle-Neumann eine Gefahr für die pluralistische Gesellschaft. Einwirkungsmöglichkeiten sieht sie ansatzweise in einer stärker werteorientierten Erziehung und einer Änderung der öffentlichen Meinung.
Befürworter des Werterelativismus bezeichneten die diesbezüglichen Untersuchungen Noelle-Neumanns als unwissenschaftlich.
[Bearbeiten] Helmut Klages: Wertesynthese statt Werteverfall
"Wertesynthese" ist der zentrale Begriff bei Klages. Danach müssen alte und neue Werte nicht in Opposition zueinander stehen, sondern können bei vielen Menschen (vor allem bei Aktiven Realisten) sogar eine produktive Wechselwirkung entfalten. Gensicke zeigte im Anschluss an Klages, dass die heutige Jugend sogar eine generelle Neigung zur Wertesynthese hat. Beide zeigen (siehe Literaturliste) wie das Konzept der Wertesynthese entwickelt wurde und wie die Wertesynthese funktioniert.
[Bearbeiten] Auseinandersetzung mit den Hypothesen Ingleharts
Helmut Klages stimmt mit Inglehart darin überein, dass in den Industriegesellschaften ein Wertewandel stattgefunden hat und kommt durch empirische Studien zu dem Rückschluss, dass Werte wie Gehorsam und Unterordnung deutlich zurückgehen, hingegen Selbstständigkeit und freier Wille normativ ansteigen. In der Tatsache, dass das Wertepaar Ordnungsliebe und Fleiß dauerhaft auf relativ konstantem Niveau bleibt, sieht Klages einen Fehler in der Ingelhart'schen These, dass der Wertewandel komplett in eine Richtung verlaufe.
Klages zweiter Kritikpunkt richtet sich an die These, dass die Korrelation zwischen Höhe des Bruttosozialproduktes und der Ausprägung eines individualistischen Wertekomplexes weniger mit der Zunahme postmaterieller Werte zusammenhängen als vielmehr eine Entwicklung darstellt, deren Ursachen in unserem Bildungs- und Beschäftigungswesen liegen.
Drittens stimmt Klages mit Ingelharts These überein, dass es einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen individualistischen Werten und der Höhe des Bildungsniveaus gibt
[Bearbeiten] Zusammenhang von Bildungsniveau und individualistischen Werten
- Das vermittelte Wissen gibt den Jugendlichen eine Möglichkeit der Relativierung von Wertvorstellungen ihres sozioökonomischen Umfeldes. Dazu kommt, dass sich die Sozialisation Jugendlicher heutzutage meist in peer groups vollzieht, was zu einer Wertevorstellung in Richtung Selbstständigkeit und Selbstentfaltung führt.
- Zumeist Kinder aus den unteren Sozialschichten grenzen sich bei zunehmendem Bildungsniveau bewusst extrem von den Wertvorstellungen ihrer Eltern ab.
- Das moderne Schulsystem stellt die Anforderung der Selbstständigkeit an jeden Schüler. Daran gebunden ist die Forderung zur Fähigkeit der Reflexion, welche eine Notwendigkeit für das Bestehen im Bildungsalltag darstellt. Dieser Zwang zur Selbstentfaltung stellt einen bedeutenden Faktor in der Werteorientierung dar.
- Das moderne Bildungssystem offeriert den Schülern die Möglichkeit der Selbstdarstellung, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
[Bearbeiten] Folgen des Wertewandels
Selbstentfaltung entspricht den Erfordernissen moderner Gesellschaften
- Der Wegfall der großen wertegebenden Institutionen wird durch Bildung kleinerer autonomer Subsysteme aufgewogen oder ganz kompensiert
- Von Seiten der Subsysteme sind vor allem Kreativität, Beweglichkeit und Neugier gefragt, was analog zu individualistischen Selbstentfaltung liege.
- Selbstentfaltung ist keine affektiv betonte und lustvoll erlebte Triebbefriedigung, sondern der Zwang des Individuums, seine Qualitäten zu fördern und ins gesellschaftliche Leben einzubringen
- Von einem Verlust von Werten wie Ordnungsliebe, Fleiß und Pflichterfüllung könne von empirischer Seite keine Rede sein. Vielmehr werden diese situationsangemessen gehandhabt und dadurch weniger offensichtlich
- Selbstentfaltung bedeutet keinesfalls Egoismus und Verantwortungslosigkeit. Dies lässt sich aus der steigenden Toleranz gegenüber diversen Minderheiten belegen.
- Selbstentfaltung hat keine Anonymisierung zu Folge, was durch das Entstehen ganz neuer sozialer Netzwerke bewiesen ist
- Der Wegfall universaler Wertevorstellungen wird durch neue, alle Subsysteme verbindende Werte ersetzt, wie instrumentelle Intelligenz, Flexibilität, Anpassungs- und Umstellungsgeschick oder hochentwickelte Fähigkeit, Misserfolge oder Versagen zu ertragen und produktiv zu verarbeiten
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Thomas Gensicke (2006): Zeitgeist und Wertorientierungen, in: Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2006. Die pragmatische Generation unter Druck, Fischer Taschenbuchverlag: Frankfurt/Main.
- Klages, Helmut/Gensicke, Thomas (2006): Wertesynthese - funktional oder dysfunktional, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 58. JG (2), S.332-351.
- Rössel, J. (2006): Daten auf der Suche nach einer Theorie. Ronald Ingleharts Analysen des weltweiten Wertewandels. In: Möbius, S. & Quadflieg, D. (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: VS.
- Inglehart, Ronald /Welzel, Christian (2005): Modernization, Cultural Change and Democracy, Cambridge University Press: New York
- Klages, Helmut/Gensicke, Thomas (2004): Wertewandel und Big-Five-Dimensionen, in: Siegfried Schumann (Hrsg.): Persönlichkeit. Eine vergessene Größe der empirischen Sozialforschung, Wiesbaden VS: S.279-200
- Gensicke, Thomas (2002): Individualität und Sicherheit in neuer Synthese? Wertorientierungen und gesellschaftliche Aktivität, in: Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus, Fischer: Frankfurt/Main, S. 139-211.
- Themenheft Wertewandel (u.a. mit Noelle-Neumann, Klages, van Deth), „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament“, B29, 2001, im Internet:
http://www.bpb.de/publikationen/VVDQUI,0,0,Wertewandel.html
- Oesterdiekhoff, G. (2001): Soziale Strukturen, sozialer Wandel und Wertewandel. Das Theoriemodell von Ronald Inglehart in der Diskussion seiner Grundlagen, in: Oesterdickhoff, G. & Jegelka, N. (Hrsg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften. Opladen, Leske & Budrich: 41 – 54.
- Klages, Helmut (2001): Werte und Wertewandel, in: Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Auflage, Opladen: 726-738.
- Inglehart, R. & Baker, W.E. (2000): Modernization, cultural change, and the persistence of traditional values, in: American Sociological Review, 65: 19-51.
- Inglehart, R. (1998): Modernisierung und Postmodernisierung. Frankfurt; Campus. Kapitel 1, 2, 3, 11 und Anhang.
- Kadishi-Fässler, B. (1993): Gesellschaftlicher Wertwandel. Die Theorien von Inglehart und Klages im Vergleich, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 19 (1993): 339 – 363.
[Bearbeiten] Weblinks
- [1] 15. Shell Jugendstudie zu Religiosität und Wertorientierungen
- Welche Werte brauchen wir? - In Nordrhein-Westfalen soll "Ehrfurcht vor Gott" als Erziehungsziel in das Schulgesetz aufgenommen werden Telepolis
- Neuer Start für die Aufklärung Telepolis
- Der konservative Kolumnist Stanley Kurtz über den Wertewandel in der US-amerikanischen Gesellschaft hin zu einer Anerkennung nichtmonogamer (polyamorer) Lebensformen, in einem Artikel, welcher Parallelen zum Ende der legalen Diskriminierung schwarzer Menschen zieht. (englisch)