Auf den Schultern von Giganten
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Das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Giganten (auch: auf den Schultern von Riesen) bezeichnet die Charakteristik wissenschaftlichen Arbeitens: Die Giganten sind die früheren Wissenschaftler, auf deren Schultern Generationen späterer Wissenschaftler ihre Forschungsarbeiten aufbauen; es soll Bewusstsein für die Vorleistungen anderer schaffen.
Die Aussage erinnert daran, dass wissenschaftliche Forschung nie geschichtslos entsteht, sondern immer vor dem Hintergrund frei verfügbaren Wissens; in diesem Prozess wird festgehalten und dokumentiert, welche Idee von welchem "Giganten" stammt und welche neu ist (Ideengeschichte). Dieser Prozess wird auch als Wissenskommunismus der Wissenschaften bezeichnet und dient u.a. dazu, die Entstehung von neuem Wissen transparent, nachvollziehbar und kritisierbar zu machen.
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[Bearbeiten] Herkunft des Gleichnisses
Der Soziologe Robert K. Merton griff das Gleichnis in seinem Buch On the Shoulders of Giants (OTSOG) 1965 auf. In dem Klassiker der Wissenschaftstheorie verfolgt er das Zitat zu seinem Ursprung zurück.
Der Ausspruch wird in der Regel irrtümlich Isaac Newton (1643-1727) zugeschrieben:
- If I have been able to see further (than you and Descartes), it is because I have stood on the Shoulders of Giants (Wenn ich weiter sehen konnte (als du und Descartes), so deshalb, weil ich auf den Schultern von Giganten stand. Brief an Robert Hooke, Feb. 5, 1675/76).
Man kann das Gleichnis Auf den Schultern von Giganten zum einen auf Bernhard von Chartres um 1130 zurückführen, der dabei angeblich ein Zitat von Lucan aufgriff: Pigmaei gigantum humeris impositi plusquam ipsi gigantes vident (Auf die Schultern von Riesen gestellte Pygmäen sehen mehr als die Riesen selbst.) Der genaue Weg der Überlieferung dieses Zitats ist nicht mehr feststellbar. Sein Ursprung war mutmaßlich der antike Mythos von Kedalion, der auf den Schultern des blinden Riesen Orion saß und ihn führte.
Didacus Stella griff das Zitat im 16. Jahrhundert auf. Robert Burton (1577-1640) zitierte Didacus Stella im 17. Jahrhundert und formulierte:
- Though there were many giants of old in physics and philosophy, yet I say with Didacus Stella, ‘A dwarf standing on the shoulders of a giant may see farther than a giant himself;’ I may likely add, alter, and see farther than my predecessors [...]. (Obwohl es früher viele Giganten der Physik und Philosophie gab, halte ich es doch mit Didacus Stella: „Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Giganten steht, wird weiter sehen können als der Gigant selbst“; ich könnte wahrscheinlich etwas hinzufügen, ändern und weiter sehen als meine Vorgänger [...]. Anatomy of Melancholy, 1621)
Das Zitat bei Burton war nach Merton schlampig, Didacus Stella war ein Bibelgelehrter und bezog sich auf den heiligen Lukas und nicht auf Lucan, wie es spätere Herausgeber falsch bei Burtons Anatomie der Melancholie wiedergaben. Die Verwechslung kam daher, dass Burton nur "Didacus Stella, in luc 10, tom. ii" zitierte, richtig wäre gewesen "Didacus Stella: In sacrosanctum Jesu Christi Domini nostri Evangelium secundum Lucam[!!!] enarrationum, Band 2, Kapitel 10." Das Gleichnis ist somit gleichfalls ein Beispiel, wie die Herkunft einer Idee über die Zeit hinweg einer anderen Person, hier von Bernhard v. Chartres zu Isaac Newton, zugeordnet wird.
[Bearbeiten] Weitere Verwendungen
Ähnliche Variationen des Sinnbildes kommen vor in Jacula Prudentum des britischen Dichters George Herbert (17. Jahrhundert) im Essay VIII in The Friend von Samuel Taylor Coleridge.
Friedrich Schiller verwendet in der Xenie Kant und seine Ausleger ein verwandtes Gleichnis:
- Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung / Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.
Auch Eric Steven Raymond verwendet das Gleichnis und bezieht es auf die Hackerkultur:
- Offensichtliche Parallelen zur Geschenkkultur der Hacker [...] gibt es in der akademischen Welt sehr viele. [...] die wissenschaftliche Forschung [beruht] wie die Hackerkultur auf der Idee [...], daß die Teilnehmer 'auf den Schultern von Riesen stehen', also nicht immer wieder von vorne anfangen müssen, um die grundlegenden Prinzipien selbst zu erarbeiten (Homesteading The Noosphere, Original: [1]).
Hal Abelson, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wird folgende Variante des Gleichnisses zugeschrieben. Sie drückt auf amüsante Weise aus, dass Wissen und Wissenschaft auch immer wieder hinterfragt werden müssen, um wissenschaftliches Neuland betreten zu können und Dogmen zu vermeiden:
- If I have not seen as far as others, it is because there were giants standing on my shoulders. (Wenn ich nicht so weit sehen konnte wie andere, so deshalb, weil Giganten auf meinen Schultern standen.)
Umberto Eco lässt im Roman Der Name der Rose seinen Haupthelden William von Baskerville das Riesen-Gleichnis vortragen (erstes Gespräch mit Bruder Nicolas). Jedoch am Ende des Romans wandelt William resignierend ein Zitat von Ludwig Wittgenstein ab, das die Riesen nur als zeitweilig wertvoll erscheinen lässt.
- [Der wissenschaftliche Geist] muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen.
Oasis benennen ein Album Standing on the Shoulders of Giants.
Google nutzt das Zitat als Leitspruch für seine Seite Scholar-Suchmaschine (eine Suchmaschine für wissenschaftliche Arbeiten)
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Robert Burton: The Anatomy of Melancholy (1. Auflage: 1621)
- Project Gutenberg Edition (Volltext):
- Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Bodenheim: Athenaeum 1987. ISBN 3810801283 (deutsche Ausgabe; Originalausgabe: 1965); auch Frankfurt a. M. : Suhrkamp (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
- Eric S. Raymond: The Cathedral & the Bazaar. Musings on Linux and Open Source by an Accidental Revolutionary. O'Reilly & Associates, 2001. ISBN 0596001088 (Website)
- Renate Breithecker-Amend: Wissenschaftsentwicklung und Erkenntnisfortschritt: zum Erklärungspotential der Wissenschaftssoziologie von Robert K. Merton, Michael Polanyi und Derek de Solla Price (Internationale Hochschulschriften: Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1991). Münster u.a.: Waxmann, 1992. ISBN 3-89325-110-3