Betrachtungen eines Unpolitischen
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Betrachtungen eines Unpolitischen schrieb Thomas Mann von 1915 bis 1918. Er unterstützte, anders als sein Bruder Heinrich, den Ersten Weltkrieg. Das Buch diente insofern zur Rechtfertigung und Abgrenzung seiner politischen Haltung. Schon kurze Zeit nach der Drucklegung folgte allerdings eine immer stärkere Distanzierung Manns von dieser frühen Phase seines Denkens.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Entstehung
Thomas Mann stand – wie viele seiner Schriftstellerkollegen – dem Ersten Weltkrieg positiv gegenüber. In zwei Essays, die er unmittelbar nach Kriegsausbruch verfasste – Gedanken im Kriege (August/September 1914) und Friedrich und die große Koalition (September bis Dezember 1914) – verteidigte er den Krieg. Anschließend arbeitete er wieder am Zauberberg, aber der Krieg und die Rolle Deutschlands ließen ihn nicht los. Seit Oktober 1915 schrieb er an den Betrachtungen eines Unpolitischen. Bis Januar 1916 entstanden die ersten drei, noch kurzen Kapitel. Die zweite Arbeitsphase dauerte von April 1916 bis 1918, sodass zum Waffenstillstand Ende 1918 das gedruckte Buch vorlag.
Betrachtungen eines Unpolitischen ist ein umfangreiches, schwieriges und polemisches Buch. Es sind Aufzeichnungen, „die eine Revision meiner persönlichen Grundlagen mit allerlei Aktuellem, Zeitkritischem auf recht gewagte Weise verquicken“. Diese „Verquickung“ zieht sich durch das ganze Buch. Aber Kommentare zur aktuellen Politik bleiben doch recht selten und versuchen nur, die Angriffe und Vorwürfe des Zivilisationsliteraten – wofür insbesondere sein Bruder Heinrich steht – aus seiner patriotischen Grundhaltung zurückzuweisen. Fragen der Tagespolitik, zu denen er sich äußert, sind: Eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts, die er ablehnt, obwohl er glaubt, dass sie unvermeidlich sei; oder der Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien, den er ebenso wie die Versenkung der RMS Lusitania und den uneingeschränkten U-Bootkrieg verteidigt. Der wichtigere Aspekt des Werkes ist jedoch der Versuch, den geistesgeschichtlich-historischen Sonderweg Deutschlands zu erklären.
Da Thomas Manns Wahrnehmung der politischen und historischen Wirklichkeit vorwiegend durch die Literatur gesteuert wird, versteht er sich glänzend darauf, Eideshelfer für sein Werk in der Literatur zu finden und unablässig zu zitieren, um seine Thesen zu beweisen, und er zitiert so, dass sich alles in sein Antithesen-Schema einfügen lässt. Der wichtigste und am meisten zitierte Kronzeuge ist Nietzsche, daneben Dostojewski und Goethe. Weitere Autoren, die oft zitiert werden, sind Wagner und Schopenhauer, beide neben Nietzsche Thomas Manns „Dreigestirn“, von den nationalen „Sendungsschriftstellern“ Langbehn und Lagarde, die im Kaiserreich viel gelesen und beachtet wurden, und aus der russischen Literatur Tolstoi und Turgenew.
[Bearbeiten] Inhalt
Das erste Kapitel, der Entstehung nach das letzte, ist eine Reflexion über das in drei Jahren geschriebene Werk. Er nennt den Hauptgrund, warum er das riesige Werk geschrieben habe: „Die Einsicht, aus der es erwuchs, die seine Herstellung als unumgänglich erscheinen ließ, war vor allem die, dass jedes Werk sonst intellektuell wäre überlastet worden“. Gemeint ist der Zauberberg. Die Thematik der folgenden Kapitel des Buches wird kurz erläutert. Thomas Mann erkennt, dass er entgegen seiner Absicht und dem Titel dennoch ein sehr politisches Buch geschrieben hat.
Die drei folgenden sehr kurzen Kapitel Der Protest, Das unliterarische Land und Der Zivilisationsliterat berufen sich auf Dostojewski. Mit ihm wird Deutschland das Land genannt, das immer gegen die römisch-katholische, westliche und literarische Welt protestiert habe. Luther wird, wie noch mehrmals in dem Werk, der gewaltigste Ausdruck dieses Protestes genannt. Der westlichen Zivilisation habe Deutschland als unliterarisches Land nur seinen eigensinnigen besonderen Willen entgegenstellen können, denn es habe kein Wort, es sei nicht „wortliebend und wortgläubig“. Entsprechend seiner These: „In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen“ sei es das Ziel des Zivilisationsliteraten, gegen das innere Wesen Deutschlands hier die Ideale der Demokratie und westlichen Zivilisation durchzusetzen.
Die Bedeutung des „Dreigestirns” Schopenhauer, Wagner und Nietzsche legt Thomas Mann im Kapitel Einkehr für sich dar und zeigt ihren Einfluss auf sein bisheriges Werk, deren zum Teil sich widersprechenden Aussagen er in seiner „Generalrevision“ entsprechend den neuen Bedingungen in seinem Sinn deutet.
Im Kapitel Bürgerlichkeit versucht er Künstlertum und Bürgertum zu verbinden. Ein weiteres Thema dieses Kapitels ist Bürgerlichkeit und Politik. Er selber sei wie der deutsche Bürger unpolitisch und national. Die Revolution von 1848 wird nicht als ein Aufstand für Demokratie gesehen, sondern nur als eine „nationale Sturmflut“ der gleichen Art wie im August 1914.
Gegen Recht und Wahrheit ist eine Abrechnung mit seinem Bruder Heinrich und Romain Rolland, die beide von Kriegsbeginn an auf der Seite der Pazifisten stehen. Gegen sie verteidigt Thomas Mann ausführlich und sehr polemisch seine Kriegsaufsätze.
Das Kapitel Politik ist das mit Abstand längste. Zunächst wird Politik als das Gegenteil von Ästhetizismus definiert. Als Beispiele für Ästheten nennt er Schiller, Flaubert, Schopenhauer, Tolstoi und Strindberg. Ästhetizismus ist für ihn, dass „alles bloß Gesagte bedingt und angreifbar ist, so absolut und apodiktisch es auch im Augenblick“ empfunden werde und dass „das Geistige, das Intellektuelle niemals ganz ernst“ genommen werde. Dennoch sieht er die Demokratie überall auf der Welt sich durchsetzen, auch in Deutschland. Mit Nietzsche meint er zwar, dass durch Bismarcks Reichseinigung Deutschland politisiert und nationalisiert worden sei. Eine weitere Demokratisierung der Staatsverfassung auf Grund der Opfer des Volkes im Kriege lehnt er dennoch ab.
Von der Tugend wendet sich gegen den dünkelhaften Gebrauch des Zivilisationsliteraten von Schlagwörtern wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Wahrheit, die dieser allein für tugendhaft halte.
Im Kapitel Einiges über Menschlichkeit preist Thomas Mann das Leiden, die Demut, das Dienen und den Gehorsam. Menschlichkeit bedeutet für ihn das Wissen um die „Schwäche, Ratlosigkeit und Erbärmlichkeit“ des Menschen, wogegen der Politiker versuche, „das Leben um allen Ernst, alle Würde, alles Schwere und Verantwortlichkeit zu bringen“, wenn er beispielsweise gegen die Todesstrafe opponiere. Den Krieg preist er als Veredelung und Verfeinerung des Menschen angesichts des Todes.
Das Kapitel Vom Glauben stellt eine weitere Antithese auf: den Glauben des Zivilisationsliteraten gegen den Zweifel des Bürgers. Das bürgerliche Zeitalter habe mit dem Zweifel an dem autoritären christlichen Mittelalter begonnen. Der wahre Glaube sei nicht der Glaube an irgendwelche Grundsätze, Worte und Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Zivilisation und Fortschritt, sondern der Glaube an Gott, der der Glaube an die Liebe, an das Leben und die Kunst sei.
Das Kapitel Ästhetizistische Politik erweitert den im Kapitel Politik aufgestellten Gegensatz vom Politiker und Ästheten, indem es den politischen Künstler auch als Ästheten bezeichnet, weil es sich um ein Künstlertum handle, aber ein falsches, „halbes, intellektuelles, gewolltes und künstliches“, und weil er verlange, dass die Kunst politische Folgen haben müsse, was ihm aber nur ein Mittel zum Zwecke seines Erfolges sei. Im Grunde wisse auch der politische Künstler, dass Meinungen im Künstlerischen nichts gelten, er ziehe sich deshalb im Zweifelsfalle mit seiner Politik hinter die Kunst zurück.
Im letzten Kapitel Ironie und Radikalismus verteidigt er sein eigenes ironisches Schaffen gegen die sentimentale und intellektuelle Kunst des Zivilisationsliteraten. Die in den beiden letzten Kapiteln gegebenen Vorstellungen von Ästhetik bleiben für Thomas Manns ganzes Schaffen gültig, auch als die Polemik des Krieges überwunden ist.
[Bearbeiten] Die „konservative Revolution“
Die Betrachtungen eines Unpolitischen lassen sich einer geistesgeschichtlichen Strömung zuordenen, die Konservative Revolution genannt wird. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie war vielen Intellektuellen die Idee gemeinsam, dass nur durch etwas revolutionär Neues die alten konservativen Ideale, die oft aus der Romantik und dessen Abwehr gegen die französische Revolution herrührten, bewahrt werden könnten. Einig war man sich der Ablehnung der Weimarer Republik.
Thomas Mann zählt bis zur Rede Von deutscher Republik auch zu dieser „konservativen Revolution”. Er verwandte sogar diese Formel als einer der ersten, ebenso die Formel „drittes Reich“ (bereits Ende 1912 im Essay Zu Fiorenza). In den Betrachtungen spricht er vom zukünftigen Volksstaat, den es zu verwirklichen gelte, der jenseits der westlichen Demokratie und des damit verbundenen Kapitalismus und jenseits des Sozialismus, wie er sich in Russland zu entwickeln im Begriff war, stehe. Die Betrachtungen sollen ja die Sonderstellung Deutschlands zwischen Ost und West beweisen, es finden sich daher mehrmals Gedanken von „deutscher Mitte“.
[Bearbeiten] Literatur
- Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen Mit e. Vorw. v. Hanno Helbling, Frankfurt am Main 2001
- Thomas Mann, Briefe an Paul Amann 1915-1952, hrsg. von Herbert Wegener, Lübeck 1959
- Thomas Mann, Essays Band 1: Frühlingssturm 1893-1918, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1993
- Thomas Mann, Essays Band 2: Für das neue Deutschland 1919-1925, hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski Frankfurt am Main 1993
- Thomas Mann, Selbstkommentare: Der Zauberberg, hrsg. von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Eich-Fischer, Frankfurt am Main 1993