Mutismus
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Klassifikation nach ICD-10 | ||
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F80 | Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache | |
F80.0 | Artikulationsstörung | |
F80.1 | Expressive Sprachstörung | |
F80.2 | Rezeptive Sprachstörung | |
F80.3 | Erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landau-Kleffner-Syndrom) | |
F94.0 | Elektiver Mutismus | |
ICD-10 online (WHO-Version 2006) |
Mutismus (lat. mutitas Stummheit, mutus stumm; psychogenes Schweigen) ist eine Kommunikationsstörung. Es ist das beharrliche, angstbedingte Schweigen eines Menschen, welches sich im Laufe der Zeit verstärkt und schließlich kaum noch willentlich gesteuert werden kann, wobei keine Defekte der Sprachorgane und des Gehörs vorliegen. Der Mutismus tritt mehrheitlich in Verbindung mit einer Sozialphobie auf. Im Jugend- und Erwachsenenalter ist das Schweigen häufig eingebettet in Depressionen.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Häufigkeit und Verbreitung
Mutismus ist eine sehr seltene und oft unbekannte Kommunikationsstörung von der ca. 1-2 Kinder von 1000 Vorschul- bzw. Schulkindern betroffen sind. Die Angaben zur Geschlechterverteilung (Mädchen:Jungen) sind unterschiedlich. Sie reichen von 1,6:1 (Steinhausen&Juzi 1996) bis 2,6:1 (Dummit et al. 1997). Diese Ergebnisse sind relativ, da sie anhand kleiner Populationen gewonnen wurden (100 bzw. 50 Personen). Der Frühmutismus (Kurth/Schweigert 1972) tritt meistens zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr auf. Der Spätmutismus (Kurth/Schweigert 1972) zeigt sich häufig bei Schuleintritt zwischen dem 5. bis 7. Lebensjahr; daher wird die spätere Form auch Schulmutismus (Zuckrigl 1982) genannt.
[Bearbeiten] Symptome und Beschwerden
Der mutistische Patient spricht überhaupt nicht (totaler Mutismus) oder er schweigt nur bestimmten Menschen gegenüber bzw. in bestimmten Situationen (selektiver Mutismus, auch: elektiver Mutismus). Der Terminus elektiver Mutismus wurde von dem Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater Moritz Tramer (1934) geprägt und hat sich international durchgesetzt.
[Bearbeiten] Ursachen
Mutismus ist mehrheitlich durch eine Disposition (Anlage) bedingt. In den Familien der Betroffenen lassen sich gehäuft folgende Merkmale finden: Gehemmtheit, kommunikativer und sozialer Rückzug, eigenbrötlerisches Verhalten, Ängste und Depressionen. Hinzu kommen psychologische Faktoren der Aufrechterhaltung wie vermehrte Aufmerksamkeit, Mittelpunktstellung in der Familie, Sonderrollen und die Befreiung von Pflichten, die zu einem selbst verstärkenden Krankheitsgewinn führen. Die Störung ist oft mit Sozialangst, Rückzug oder Widerstand verbunden und bedarf einer multifaktorellen Therapie, die sich zwischen Sprachtherapie, Psychotherapie, Familientherapie, Sonder- und Regelpädagogik bewegt.
Meist sprechen die selektiv bzw. elektiv mutistischen Kinder mit den Eltern und Geschwistern, in anderen definierbaren Situationen (mit Fremden, im Kindergarten oder in der Schule etc.) sprechen sie jedoch nicht.
Bei Kindern ist ein totaler Mutismus äußerst selten. Der totale Mutismus tritt häufiger im Jugend- und Erwachsenenalter auf und ist hier in der Regel Bestandteil psychiatrischer Grunderkrankungen wie z. B. der Schizophrenie oder der endogenen Depression.
Mutismus kann bei Kindern (zusammen mit Störungen des Sozialverhaltens und Stereotypien) auch ein Zeichen von schwerem Autismus (frühkindlicher Autismus) sein.
Daneben ist Mutismus auch im Endstadium der Alzheimerschen Krankheit bekannt.
[Bearbeiten] Folgen und Komplikationen
Die ganze Entwicklung (sprachliche, kognitive, soziale und emotionale) ist vom mutistischen Verhalten betroffen. Dies hat Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung, die Ich-Identität und das Selbstbewusstsein. Der Patient leidet unter Sozialangst, seelischem Rückzug oder Widerstand gegen andere oder unter einer depressiven Stimmungslage. Er hat Schwierigkeiten in der Schule, der Ausbildung oder im Beruf und wird teilweise von anderen Leuten gemieden.
Da die Kinder mit Mutismus leichter zu ignorieren sind als hyperaktive oder lernbehinderte Kinder, wird selten richtig diagnostiziert, oder überhaupt bemerkt, dass eine Störung vorliegt. Von den Eltern werden Kinder mit selektivem Mutismus oft als schüchtern oder lustlos begriffen, echte Experten in diesem Gebiet gibt es kaum. Im Umfeld der Eltern, der Geschwister und enger Freunde reden die Betroffenen ganz normal und gelöst, jedoch sobald auch nur der Verdacht besteht, dass jemand anderes mithört, oder nur ein Dritter sieht, dass der Mund bewegt wird, verfällt der Mutist wieder ins Schweigen.
Da Mutismus eine Kommunikationsstörung ist und in der Interaktion mit anderen Menschen auftritt, leiden auch die Kommunikationspartner unter dem Schweigen. Man kann Mutisten nicht zum Reden fordern, denn das "zwingt" sie, immer stiller zu werden.
[Bearbeiten] Behandlung
Die Behandlung erfolgt sprachtherapeutisch, sonderpädagogisch und psychotherapeutisch. Wenn der Mutismus bis in das Jugendalter besteht, ist meist eine zusätzliche pharmakologische Behandlung mit Antidepressiva (z.B. Sertralin®) nötig. Eine mutismusspezifische Behandlungsform ist die Systemische Mutismus-Therapie (SYMUT) von Hartmann (2004, 2006). Sie verbindet sprachtherapeutische und verhaltenstherapeutische Maßnahmen.
[Bearbeiten] Diagnose
Diagnostische Kriterien nach dem DSM-IV sind:
A) Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, (in denen das Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule), wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht.
B) Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation.
C) Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt).
D) Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt wird oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt.
E) Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z. B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (z. B Autismus), Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf.
[Bearbeiten] Differentialdiagnose
Im Gegensatz zur Schizophrenie bzw. Psychose treten beim Mutismus keine Wahnsymptome auf.
Das Sozialverhalten und das Fehlen von Stereotypien differenziert die Störung vom Autismus und Asperger-Syndrom sowie von Deprivationssyndromen (Hospitalismus).
Der Mutismus kann nicht durch Stottern, Poltern oder Stammeln und auch nicht durch ein fehlendes Sprachverständnis (z. B. bei Migrationshintergrund) erklärt werden.
Auch zentral-organische Schädigungen (Schädel-Hirn-Trauma, Aphasie), Sprachentwicklungsstörungen sowie Gehörlosigkeit müssen ausgeschlossen werden. Eine Sonderform, die mit hirnorganischen Läsionen und/oder Inhibitionsmechanismen einhergeht, wird als Akinetischer Mutismus (Cairns et al. 1941) bezeichnet.
Zudem handelt es sich um keinen Mutismus, wenn Menschen aus Trotz (Selbsterhaltung), aus Trauerarbeit (z. B. Verlust eines geliebten Menschen oder Scheidung) oder als bewusstes Vermeidungsverhalten bzw. Abwehrmechanismus (z. B. bei Vorträgen vor großem Publikum), schweigen.
[Bearbeiten] ICD-10 Schlüssel
Die psychisch und nicht organisch bedingten Sprechstörungen (als Entwicklungsstörungen) wie der Mutismus sind in der Kategorie ICD-10 F80 verschlüsselt. ICD-10 F80.0 beschreibt die Artikulationsstörung, ICD-10 F80.1 und ICD-10 F80.2 die expressive bzw. rezeptive Sprachstörung. ICD-10 F80.3 ist die erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landau-Kleffner-Syndrom).
Die ICD-10 subsumiert den "elektiven" Mutismus" (ICD-10 F94.0) unter die Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (dazugehöriger Begriff: Selektiver Mutismus).
[Bearbeiten] Weblinks
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