Stellwagen-Orgel Stralsund
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Stellwagen-Orgel in der Stralsunder Kirche St. Marien gehört zu Norddeutschlands bedeutendsten Barockorgeln. Typisch sind die in deutlich voneinander getrennten Werken gruppierten Pfeifen für ein kontrastreiches Musizieren. Der Prospekt mit seinen im niederländischen Knorpelstil gehaltenen Schmuckmotiven zählt zu den repräsentativsten Orgelprospekten des Frühbarock.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Anlage
Die Orgel verfügt über 51 Register, drei Manuale, Schleifladen und mechanische Spiel- und Registertraktur. Die 3.500 Pfeifen von 8 Millimeter bis 9 Meter Länge und eine Vielzahl an Registern sorgen für einen farbenreichen Klang. Der Prospekt ist nach Werken gegliedert, die beiden Türme links und rechts enthalten das Pedalwerk. In der Mitte der Empore liegt – im Rücken des Organisten – das Rückpositiv, darüber das Hauptwerk. Im Mittelpunkt dieses Hauptwerks steht König David als Stammvater geistlicher Musik. An oberster Stelle befinden sich die Pfeifen des Oberpositivs.
Zahlreiche geschnitzte und bemalte Figuren, Flammenzungen, Fratzen und andere Elemente verzieren die 20 Meter hohe Fassade. Musizierende Engel, Sonne, Mond und Sterne und eine geflügelte Weltkugel als Krönung der Orgel knapp unter dem Gewölbe der Kathedrale zählen zum Schmuckreichtum. Unterhalb des Gehäuses hängt ein Engel, der auf einer Fanfare bläst. Zwei Engel umfassen auch das Familienwappen Stellwagens und die Inschrift „M. [Meister] Friederich Stellwagen hat dieses Werck verrichtet. Anno 1659“.
[Bearbeiten] Geschichte
Die Orgel wurde vom Orgelbauer Friedrich Stellwagen in den Jahren von 1653 (KontraktAusfertigung im Sommer) bis 1659 gebaut. Zunächst wurde der Prospekt nach Stellwagens Angaben von dem Stralsunder Zimmermeister und seinen Gehilfen errichtet. Stellwagen selbst kam erst Mitte 1655 wieder nach Stralsund. Die Orgel wurde im Herbst 1659 abgenommen (geprüft), worauf die heute noch vorhandenen Musikemporen gebaut wurden - entsprechend zu den Emporen in der Lübecker Marienkirche, deren große Orgel (einschneidend umgebaut und erweitert durch Stellwagen 1637-1641) der Stralsunder Marienorgel offenbar als Vorbild diente.
1770 entstanden nach einer Explosion im nahe der Kirche gelegenen Pulverturm starke Schäden an der Orgel. 1775 wurde diese daher von Ernst Julius Marx aus Berlin repariert, der auch einige Umbauten vornahm. Für den Einbau einer Quinta 6' im Pedal z. B. mussten andere Register weichen. Aus Ratsprotokollen der Stadt Stralsund ist ersichtlich, dass die Reparaturarbeiten nicht sehr gewissenhaft durchgeführt worden sind. 1794 musste die Orgel erneut repariert werden. Der mit der Pflege betraute Stralsunder Christian Kindt verringerte dabei u. a. die Chorzahl der Mixturen.
Von 1802 bis 1810 diente die Marienkirche den Franzosen als Proviantmagazin. Erst 1828 konnte vom Berliner Orgelbauer Carl August Buchholz die Orgel wieder spielbar gemacht werden. Buchholz musste viel Zerstörtes ersetzen, passte aber alles dem Vorhandenen an. Somit blieb trotz zahlreicher notwendiger Veränderungen die klangliche Eigenart erhalten.
Zwischen 1863 und 1873 lag die Pflege bei Friedrich Albert Mehmel aus Stralsund, der ebenfalls einige Veränderungen vornahm. So erhielten u. a. das Hauptwerk und das Rückpositiv eine neue Traktur und das Pedal eine Zusatzlade für die beiden neuen 32'-Register. Im Gegensatz zu vielen anderen Orgeln konnten die Pfeifen der Stellwagen-Orgel im Ersten Weltkrieg vor dem Einschmelzen gerettet werden.
1928 wurde die Orgel wieder einmal spielbar gemacht. Anlässlich der Feiern zum 300. Jahrestag des erfolgreichen Widerstandes gegen Wallensteins Truppen erklang die Stellwagen-Orgel wieder. Dank der Ende der 1920er Jahre aufgekommenen Orgelbewegung war sie den Klangidealen der Barockzeit wieder angepasst worden. Für eine notwendige umfangreiche Sanierung jedoch fehlte das Geld. Am 16. Juni 1943 wurde die Orgel zum letzten Mal im Zweiten Weltkrieg gespielt, danach wurde das Instrument in das Gutsschloß in Keffenbrink nahe Grimmen gebracht. Einzig das Balkengrüst sowie einige der größeren Pfeifen verblieben in der Marienkirche. Allerdings gingen einige Teile der Orgel in Keffenbrink verloren, andere wurden beschädigt. Im Winter 1946 wurden die hölzernen Bestandteile des Unterbaus verheizt.
[Bearbeiten] Wiederaufbau
Ein Gutachten des Orgelbauers Karl Schuke nach Kriegsende regte den 1946 beginnenden Wiederaufbau der nunmehr in der Kirche gelagerten Orgelteile an. Die Restaurierung erfolgte in den Jahren 1952 bis 1959; zu ihrem 300. Jahrestag 1959 erklang die Orgel wieder. Weitere Restaurierungen folgten, maßgeblich beteiligt waren die Firmen Carl Giesecke (Göttingen) und Schuke (Potsdam). Der Wiederaufbau verzögerte sich allerdings angesichts der wirtschaftlichen und der politischen Situation in der DDR. Im Jahr 1993 erfolgte eine Generalreinigung des Orgelwerks, die Reparatur defekter Teile und der Umbau des Blasebalgs. In den Jahren 1999 und 2000 erfolgte die Bestandsaufnahme und Dokumentation der Orgel im Hinblick auf eine Restaurierung durch GOArt (das Göteborg Organ Art Center), die Orgelbaufirmen Kristian Wegscheider in Dresden und Alexander Schuke in Potsdam sowie ein Restauratorenteam, finanziert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Im Jahr 2004 begann die umfangreiche Restaurierung, für welche die Hermann-Reemtsma-Stiftung in Hamburg 2,25 Millionen Euro zahlt.
[Bearbeiten] Technische Details
- Register: 51 klingende Register auf drei Manualen und Pedal
- Pfeifen: etwa 3500. Davon sind ca. 550 alter Bestand (incl. einiger Blindpfeifen) sowie Reste einzelner Pfeifen. Ganz überwiegend handelt es sich um Stellwagens Pfeifenwerk, während aus späteren Perioden (vor den Restaurierungs-/Rekonstruktionsarbeiten der Mitte des 20. Jahrhunderts) nur wenig erhalten ist. Obwohl damit etwas mehr als ein Sechstel des ursprünglichen Bestandes die Zeit überdauert hat, umfasst dieser Altbestand im wesentlichen die Prospektpfeifen und erstreckt sich des weiteren über fast alle Stimmen, so daß für die Rekonstruktion gute Voraussetzungen bestehen.
- Windladen: 8 (zwei für das Hauptwerk, eine für das Oberpositiv, eine für das Rückpositiv, vier für das Pedal)
- Balganlage: ursprünglich 12 Keilbälge, derzeit Doppelfaltenmagazinbalg und Stoßfängerbälge
- Stimmtonhöhe: Chorton, a1 = 465 Hz (original)
- Stimmungsart: Ursprünglich ist am wahrscheinlichsten die Mitteltönigkeit anzunehmen, und zwar nach dem in Norddeutschland bis weit in das 18. Jahrhundert hinein grundsätzlich in der Praxis angestrebten und üblichen Standard mit acht reinen großen Terzen. Die ursprüngliche Temperatur wurde wohl seit 1659 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beibehalten, möglicherweise auch bis 1828, als die Orgel „gleichschwebend“ gestimmt wurde (praktische Annäherung an die gleichstufige Temperatur).
- Gesamthöhe des Prospektes: über 20 Meter
- Bildhauerarbeit: im Stil des niederländischen Knorpelbarock
- größte Prospektpfeife: F des Gros.principall.Bas 32', ca. 9 Meter lang, Gewicht 240 kg
[Bearbeiten] Disposition
-
Hauptwerk CD-c3 Oberpositiv CD-c3 Rückpositiv CD-c3 Pedal CD-f1 Principal 16' (1) Principal 8' (1) Gr. Quintadena 16' Gr. Principal 32' (2) Bordun 16' Hohlflöte 8' Principal 8' (1) Principal 16' Octave 8' Octave 4' Gedackt 8' Gedacktundersatz 16' Spitzflöte 8' Gr. Blockflöte 4' (3) Quintadena 8' Octave 8' Hohlquinte 51/3' Kl. Quintadena 4' Octave 4' Spitzflöte 8' Superoctave 4' Nasat 22/3' Dulzflöte 4' Superoctave 4' Hohlflöte 4' Gemshorn 2' Feldpfeife 2' Nachthorn 4' Flachflöte 2' Scharff 4-7fach Sifflöte 11/3' Feldpfeife 2' Rauschpfeife 2-4fach Trompete 8' Sesquialtera 2fach Mixtur 4fach Mixtur 6-10fach Krummhorn 8' Scharff 6-8fach Posaune 16' Scharff 4-6fach Schalmey 4' Zimbel 3fach Trompete 8' Gr. Trompete 16' Dulcian 16' Dulcian 8' Trichterregal 8' Schalmey 4' Jungfernregal 4' Cornet 2' (1) im Prospekt
(2) ab F, im Prospekt
(3) ursprünglich 8'
Nebenzüge
- Tremulant
- Glöcklein
- Zimbelstern
- Trommel
- Vogelgeschrei
- Werkventil
- Ventil zum Oberpositiv
- Ventil zum Pedal
- Ventil zum Rückpositiv
- 3 Koppeln
[Bearbeiten] Weblinks
- Informationen zur Geschichte des Instrumentes und Angaben zu den Konzertveranstaltungen in St.Marien
- Informationen der Mariengemeinde Stralsund zur Orgel
- Stralsunds Orgeln, Orgeln in Pommern und im Baltikum
[Bearbeiten] Literatur
- Evangelische Kirchengemeinde St. Marien Stralsund (Hrsg.): Die Stellwagen-Orgel in Sankt Marien zu Stralsund. Eine Bestandsaufnahme, Chronik und Dokumentation. Verlag Organum Buch, 2006.
Koordinaten: 54° 18′ 36″ N, 13° 05′ 16″ O