Volksetymologie
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Volksetymologien geben einleuchtend klingende, aber falsche Erklärungen über die Herkunft von Wörtern, indem sie in der Sprache isoliert dastehende Wörter an bekannte, ähnlich klingende Ausdrücke anschließen. Volksetymologien werden daher auch als Pseudoetymologien bezeichnet. Der Begriff der Volksetymologie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Aufsatz von Ernst Förstemann geprägt. Sie kommen häufig in mündlich überlieferten Erzählungen vor. Dabei handelt es sich zumeist um homophone Namensdeutungen von Pflanzen, Orten oder Heiligen (z. B. Augustin bei Augenleiden). Es gibt darüber hinaus auch musikalische Volksetymologien.
Die eigentliche Etymologie dagegen gibt Auskunft über die tatsächliche Herkunft und Entwicklung der Wörter einer Sprache.
[Bearbeiten] Beispiele
Volksetymologische Erklärungen beeinflussen insbesondere die lautliche Entwicklung von Wörtern, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- Armbrust – Das Wort Armbrust leitet sich vom lateinischen arcuballista "Bogenschleuder" ab. Das darauf basierende, französische Wort arbaleste wurde dann eingedeutscht, wobei eine Kombination der ähnlich klingenden Wörter Arm (von der Möglichkeit, die Waffe in einer Hand zu halten) und dem mittelhochdeutschen berust/berost (Ausrüstung bzw. Bewaffnung) benutzt wurde. Noch später wurde der zweite Teil des Begriffs mit deutsch Brust identifiziert.
- Hängematte – Die ursprüngliche indianische Bezeichnung war hamáka. So oder so ähnlich heißt das Wort auch heute noch im Französischen oder Spanischen. Für das deutsche Lautsystem aber klingt das Wort fremd, und so erfuhr es zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert lautliche Veränderungen, die in Hängematte resultieren, da diese besondere Liegemöglichkeit mit hängen und Matte verbunden wurde.
- Maulwurf – Volksetymologisch gesehen ist der Maulwurf ein Tier, das mit dem Maul Erde aufwirft. – Tatsächlich hieß das Tier im Althochdeutschen noch muwerf = "Haufenwerfer" (muga, muha, muwa "(Korn-)Haufen"). Im Mittelhochdeutschen wurde daraus moltwerf "Erdwerfer". Als das Wort molt für "Erde; Staub" ausstarb, konnten die Sprecher des Deutschen mit dem moltwerf nichts mehr verbinden. Daher entstand das lautlich ähnliche Maulwurf.
- Rentier – Volksetymologisch ist das Rentier ein "(weg)rennendes Tier" und wird auch öfters fälschlicherweise Renntier geschrieben. Tatsächlich stammt das Wort "Ren" aus dem nordischen (vgl. norw. "rein", isl. "hrein", schwed. "ren") und bedeutet gehörntes, geweihtragendes Tier.
- Zwiebel – Die alte Entlehnung aus lateinisch cipolla wurde umgedeutet zu Zwie-Ball. Es gibt allerdings Dialekte, wo diese volksetymologische Veränderung nicht durchgeführt worden ist, beispielsweise berndeutsch Zibele (wie in Zibelemärit).
- Guter Rutsch ins neue Jahr – Diese Wendung hat ursprünglich nichts mit dem deutschen „rutschen“ zu tun, sondern geht zurück auf jiddisch Rosch ha-Schanah = neues Jahr.
- Die (berlinische) Redensart „Es zieht wie Hechtsuppe“ ist ebenfalls aus dem Jiddischen abgeleitet, wo hech supha Sturmwind bedeutet.
- Hals- und Beinbruch – Auch hier war das Jiddische Vorbild: hasloche un’ broche = Glück und Segen.
- Ballermann – Aus dem spanischen balneario = Badeort, auch Bade-Kurort.
- Mayday – Der Notruf in der Luft- und Seefahrt entstand aus der englischen Aussprache des französischen Hilferufs [venez] m'aider = '[Kommen Sie,] mir zu helfen.
Auch viele Änderungen an der deutschen Rechtschreibung im Zuge der umstrittenen Rechtschreibreform von 1996 wurden von deren Vätern mit einer Angleichung an eine behauptete entsprechende Volksetymologie begründet, zum Beispiel:
- Tolpatsch wurde als ein gemäß Volksetymologie leicht verrückter (toller, wie in Tollwut), ungeschickter, täppischer (lautmalerisch: patsch) Mensch deklariert. Folglich wurde die Schreibweise "Tollpatsch" vorgeschrieben. In Wahrheit kommt das Wort vom ungarischen Wort talpas (Spitzname für den ungarischen Fußsoldaten), einer Ableitung aus dem ungarischen talp "Sohle, Fuß". Nach der Übertragung ins Deutsche erfolgte zunächst der Bedeutungsübergang zu "(österreichischer) Soldat, der eine unverständliche Sprache spricht", später als eine abwertende, aber nicht boshafte Bezeichnung für einen ungeschickten Menschen.
- Quentchen: Hier wurde eine volksetymologische Verbindung des Wortes zu Quantum unterstellt und daher die Schreibweise Quäntchen vorgeschrieben. In Wirklichkeit geht das Quentchen auf lat. quintus "der fünfte" zurück. Es bezeichnete früher ein Fünftel der Gewichtseinheit Lot.
- Schenke: Hier wurde eine volksetymologische Ableitung von Ausschank unterstellt und daher die Variante Schänke neben Schenke eingeführt. In Wirklichkeit stammen alle diese Wörter von schenken ab.
- belemmert: Hier wurde eine volksetymologische Ableitung von Lamm unterstellt und daher die Schreibweise belämmert vorgeschrieben. In Wirklichkeit leitet sich das Wort vom niederdeutschen belemmeren ab, was „hindern, hemmen, beschädigen“ bedeutet.
- aufwendig: Hier wurde eine volksetymologische Ableitung von Aufwand unterstellt und daher die Variante aufwändig neben aufwendig eingeführt. In Wirklichkeit stammen alle diese Wörter von aufwenden und dieses seinerseits von wenden ab.
- einbleuen/verbleuen: Hier wurde eine volksetymologische Ableitung von blau beziehungsweise bläuen im Sinne von „blau färben“ unterstellt und daher die Schreibweisen einbläuen und verbläuen vorgeschrieben. In Wirklichkeit stammt bleuen vom althochdeutschen „bliuwan“ = „schlagen“ ab.
Siehe auch die Artikel Windhund, Vielfraß, Pumpernickel und Fisimatenten oder Spa, sowie Habseligkeiten, das zum "schönsten deutschen Wort" gewählt wurde.
[Bearbeiten] Literatur
- Heike Olschansky: Volksetymologie. Tübingen 1996 (Reihe Germanistische Linguistik 175)
- Annemarie Brückner: Etymologie. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 4 (1984), Sp. 519-527.
- Heiko Girnth/ Andre Klump/ Sascha Michel (2007): 'Du defamierst somit die Verfasser der Gästebuchbeiträge, wo wir wieder bei den Beleidigungen wären'. Volksetymologie gestern und heute im Romanischen und Germanischen. In: Muttersprache 1/2007, S. 36-60.