Über das Böse
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Über das Böse ist ein Buch von Hannah Arendt. Es enthält eine Vorlesung in vier Teilen, die sie 1965 an der New School for Social Research in New York City gehalten hat. Der Originaltitel lautet Some Questions of Moral Philosophy und erschien zuerst in dem Band Responsibility and Judgement, den Jerome Kohn 2003 aus dem Nachlass Arendts herausgegeben hat. Das Werk Über das Böse hat ein Nachwort der Übersetzerin Ursula Ludz und eins von Franziska Augstein mit dem Titel Taten und Täter. Der Text von Hannah Arendt ist ein Roh-Text, das heißt, dass Arendt ihn so nicht veröffentlicht hätte.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Begriff des Bösen im Totalitarismus
Ursula Ludz schreibt, dass die heftigen Reaktionen auf Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem „sie zutiefst erschüttert und verunsichert“ hätten. „Die Vorlesung diente also auch der Selbstverständigung.“ (S. 175) Arendt begründet hier unter anderem ihren Meinungswandel vom Begriff „radikal Böses“ aus ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hin zum Begriff „Banalität des Bösen“ im Eichmannbuch. Sie schreibt Scholem 1963 in dem bekannten Brief: „Sie haben vollkommen recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. … Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. ...tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“ (Nach Auschwitz, S. 78)
Im Totalitarismusbuch schreibt Arendt noch dazu: „Aber in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können.“ (Elemente … S. 941). Aber sie sagt dort auch, „dass wir uns von dem radikal Bösen keinen Begriff machen können.“ (ebd)
[Bearbeiten] Sprachloses Entsetzen
Im ersten Teil der Vorlesung ist das „radikal Böse“ das Thema. Den Begriff übernimmt die Autorin von Immanuel Kant. Sie schreibt: „Da Neigungen und die Versuchung in der menschlichen Natur, doch nicht in der menschlichen Vernunft, verwurzelt sind, nannte Kant die Tatsache, dass der Mensch, seinen Neigungen folgend, versucht ist, Böses zu tun, das »radikal Böse«.“ (S. 28) Arendt stimmt Kant zu, wenn er verneint, „dass ein Mensch das Böse um seiner selbst willen wollen könne.“ Am Ende der ersten Vorlesung umschreibt sie das Böse wie folgt: „Doch das wirklich Böse ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen.“ (S. 45) Und das „größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.“ (S. 101)
[Bearbeiten] Können und Dürfen
In der Vorlesung hat Hannah Arendt alle „spezifisch religiösen moralischen Vorschriften und Glaubenssätze ausgelassen, nicht weil ich [Arendt] sie für unwichtig halte (genau das Gegenteil ist der Fall), sondern weil sie in dem Moment in dem die Moral zusammenbrach, kaum noch eine Rolle spielten.“ (S. 29) Nur ganz wenige widerstanden während der Naziherrschaft und diejenigen, die nicht mitmachten, beriefen sich nicht auf religiöse Gebote, „sondern erklärten einfach wie andere auch, dass sie die Verantwortung für solche Taten nicht übernehmen könnten.“ (S. 30) In solchen Ausnahmezuständen sind die Menschen die zuverlässigsten, die von sich aus sagen: „Das kann ich nicht tun“ und nicht diejenigen, die sich auf eine Vorschrift berufen und sagen: „Das darf ich nicht tun.“ (vgl. S. 52) In den weiteren Vorlesungsteilen untersucht sie historisch diesen Unterschied.
Für diese Menschen, die „nur“ sagen: „Das kann ich nicht tun“ ist der Maßstab das Selbst – sie sind keine Helden oder Heilige. Aber politisch ist es deshalb unverantwortlich, weil ihr Maßstab nicht die Gemeinschaft oder die Welt ist und sie diese somit nicht verändern oder gar verbessern wollen.
[Bearbeiten] Moralische Norm und Idee
Arendt behauptet, dass Platon in der Ideenlehre die Gefolgschaft zu Sokrates aufgekündigt habe. Sokrates hatte noch folgenden moralischen Satz gesagt: „Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun“ (S. 50) Diese „grundlegende Annahme aller Moralphilosophie“ hat dem „Sturm der Zeit nicht standgehalten.“ (S. 48) Bei Sokrates gibt es noch keine Normen oder Vorschriften, wie "du sollst …", "du darfst nicht …". „Platos Lehre von den Ideen führte solche Normen und Maßstäbe in die Philosophie ein, und damit wurde das Problem, wie man Recht von Unrecht unterscheidet, auf die Frage verkürzt, ob ich im Besitz der Norm oder der »Idee« bin, die ich in jedem besonderen Fall anzuwenden habe, oder nicht.“ (S. 65f)
Kants kategorischer Imperativ: „Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ hat, wie der sokratische Satz: „Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun“, stets das „Selbst und damit das Zwiegespräch des Menschen mit sich selbst zum Maßstab.“ (S. 48) Wenn der Mensch gegen diese moralischen Sätze verstößt, so droht dem Gewissen bei Kant die „Selbst-Verachtung“ und bei Sokrates der „Selbst-Widerspruch“ (vgl. S. 51).
[Bearbeiten] Vernunft und Begehren
Der Wille ist nach Arendt der „Schiedsrichter zwischen Vernunft und Begehren.“ (S. 104) Die alten Griechen, Sokrates und Platon, kannten dieses Vermögen noch nicht. Paulus hat dieses Vermögen nach Arendt als erstes erkannt. Der Wille ist nach Arendt die erste Spaltung in mir und unterscheidet sich grundsätzlich vom Denken. Der Wille führt kein Zwiegespräch, keinen Dialog in mir, sondern es ist ein „gnadenloser Kampf“ zwischen mir und mir selbst. Er kann zu dem Dilemma Ich-will-und-kann-nicht führen.
Nach Arendt geht Augustin über Paulus hinaus. Augustin sagt, „dass die Falle, in der der Wille gefangen ist, sich nicht aus der zweigeteilten Natur des Menschen, der fleischlich ist ebenso wie geistig ist, ergibt. Der Wille selbst ist ein geistiges Vermögen, und er besitzt, was den Körper angeht, absolute Macht“ (S. 113). Aber der Wille besitzt keine absolute Macht über den Geist.
In den ersten drei Vorlesungsteilen geht es nach Arendt hauptsächlich darum, was uns daran hindert, Unrecht zu tun, also Böses zu vermeiden. Dies ist auf Vernunft gegründet. Die christliche Ethik fordert aber dazu auf, Gutes zu tun.
Im vierten Vorlesungsteil geht Arendt noch einmal auf Sokrates ein. Was den Menschen hier davon abhält, Unrechtes zu tun, sei die Widerspruchfreiheit in mir selbst. Bei Jesus von Nazaret ist es nicht mehr das Selbst das uns hindert Böses zu tun, sondern „der Täter ist jemand, der die Weltordnung als solche verletzt.“ (S. 121) Es wäre für den Täter besser, nicht geboren zu werden. Arendt zitiert folgende Bibelstelle: „es wäre besser für ihn, »dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer«.“(Mt 18,6 EU) (S. 121) Diese Vorstellung, „er hätte nicht geboren werden dürfen -, ist wirklich eine Vorstellung, die alle Philosophen verabscheuen.“ (S. 123)
[Bearbeiten] Paradoxon des Willens
Im Weiteren kommt Arendt nochmals zum Willen zurück, weil sie bis jetzt eine „halb-wahre Behauptung aufgestellt“ habe. Das Paradoxon beim Willen sei, dass der Wille auf der menschlichen Freiheit beruht, aber dass die Menschen „selbst dann nicht frei sein können, wenn sie weder von Naturkräften noch vom Schicksal oder ihren Mitmenschen gezwungen werden.“ (S. 125) Dies Paradoxon lässt sich nach Arendt nicht auflösen. „Und das Beste, was wir darüber sagen können, ist das was Nietzsche behauptet: Es gibt zwei Hypothesen, die Hypothese der Wissenschaft, dass es keinen Willen gibt, und die des allgemeinen Menschenverstandes, dass der Wille frei ist.“ (S. 126)
Hinter dem Willen als Schiedsrichter gibt es noch etwas, denn der Wille richtet ja nicht willkürlich. Dies ist das Streben der Menschen nach „Glückseligkeit“. „Wenn wir zu unserem alten Sokratischen Kriterium zurückgehen, wo Glückseligkeit bedeuten würde, mit sich selbst im reinen zu sein, könnte man sagen, dass böse Leute die Fähigkeit verloren haben, auch nur die Frage [nach der Glückseligkeit] zu stellen und zu beantworten, insofern als sie, die mit sich uneins sind, die Fähigkeit verloren haben, im Zwiegespräch des Denkens Zwei-in-Einem zu werden.“ (S. 127f)
Der Wille in seiner Schiedsrichterfunktion ist nach Arendt dasselbe wie das Urteilen. Das Urteilen nennt Arendt selbst eines „der geheimnisvollsten Vermögen des menschlichen Geistes.“ (S. 129) Der Wille, der eigentlich frei ist, macht aber aus mir selbst einen Sklaven.
Der Wille hat nach Arendt zwei Funktionen: eine kommandierende Funktion und einen Schiedsrichterfunktion, „wobei angenommen wird, dass er Recht von Unrecht unterscheiden kann.“ (S. 135) Diese Schiedsrichterfunktion analysiert Arendt weiter. Nach Kants Kritik der Urteilskraft entscheidet der Geschmack über schön, hässlich usw. Aber wie weiß ich bzw. wie urteile ich, ob eine Tulpe schön oder hässlich ist?
Diejenigen, deren Urteilskraft mangelhaft ist, haben - nach Kant - keinen Gemeinsinn. Der Gemeinsinn zeige sich in uns, wenn wir ein Allgemeines – Tulpen sind schön – auf ein Besonderes anwenden können. Dies überträgt Arendt nun auf das Gebiet der Moral.
[Bearbeiten] Gemeinsinn als Einbildungskraft
Den Begriff des Gemeinsinns versucht Kant mit der Einbildungskraft zu erklären. Die Einbildungskraft bezeichnet meine Fähigkeit mir etwas vorzustellen, was nicht da ist. Ich kann mir eine besondere Brücke vorstellen. Dabei habe ich immer zwei Einbildungen in meinem Kopf. Erstens die besondere Brücke und zweitens ein schematisches Bild, mit der ich alle Brücken als Brücken identifizieren kann. „Der Gemeinsinn kann, aufgrund seiner Einbildungskraft, in sich alle diejenigen anwesend haben, die in Wirklichkeit abwesend sind“. (S. 141) Meine Urteilskraft erlangt damit zwar keine universelle Gültigkeit, aber „eine gewisse allgemeine.“ Wenn ich so als Weltbürger denke, ist es die »erweiterte Denkungsart« Kants. „Der entscheidende Punkt ist, dass mein Urteil in einem bestimmten Fall nicht nur von meiner Wahrnehmung abhängt, sondern davon, dass ich mir etwas repräsentiere [vergegenwärtige], was ich nicht wahrnehme.“ (S. 141f)
Das repräsentative Denken Arendts beruht also auf dem Gemeinsinn und der Einbildungskraft Kants. Beim Denken repräsentiere ich in mir die Standpunkte vieler Menschen und mein Urteil wird umso repräsentativer sein, „je mehr Standpunkte anderer Leute ich mir in meinem Denken vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtigt werden kann.“ (S. 143) Wir denken also in Beispielen, nehmen uns Menschen als Beispiel.
[Bearbeiten] Cicero und Meister Eckhart
In der Vorlesung hat Arendt zwei Beispiele angeführt. Das erste Beispiel ist Cicero. Cicero sagt, dass er „eher mit Plato auf Abwege geraten wolle, als mit diesen Leuten [Pythagoräer] wahre Auffassungen vertreten.“ Meister Eckhart soll folgendes gesagt haben: „ich wäre lieber in der Hölle mit Gott als ohne ihn im Himmel.“ (S. 100) Beide haben für sich subjektiv entschieden, mit wem sie zusammen sein wollen. „Ich [Arendt] habe versucht zu zeigen, dass unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden.“ (S. 149) Diese Beispiele wählen wir uns selbst aus.
Die Gefahr, die darin liegt, ist einerseits, dass den Menschen es egal ist, mit wem sie leben wollen, wer ihre Beispiele sind. „Diese Indifferenz, stellt moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist.“ (S. 150) Andererseits gibt es die Gefahr, „das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen »skandala«, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.“ (S. 150)
[Bearbeiten] Kritik
Die Vorlesung von Hannah Arendt ist sicherlich nicht stringent und weist auch Lücken auf. Aber dies hat Arendt in Vom Leben des Geistes. Band 1: Das Denken; Band 2: Das Wollen; Band 3: Das Urteilen versucht aufzuheben. Trotzdem ist dieses Buch wichtig, um Arendts Denken zu verstehen.
Aufgrund der Tatsache, dass Hannah Arendt die Sassen-Protokolle nicht lesen konnte, merkt Augstein an, dass Arendt „das Wesen des Nationalsozialismus vielleicht anders beschrieben“ (S. 185) hätte, wenn sie sie gekannt hätte. Franziska Augstein hält Arendt in ihrem Nachwort weiter vor, dass Hannah Arendt nicht eingefallen sei, dass „Eichmann und andere NS-Täter sich von moralischen Selbstbetrachtung durchaus nicht verabschiedet hatten und sich vor Gericht bloß konsequent zu gehorsamen Befehlsempfängern stilisierten, um mit milderen Urteil davonzukommen." (S. 186)
Der erste Punkt ist Spekulation. Der zweite Punkt ist nicht wahr, denn Arendt schreibt 1964: „Es war natürlich voraussagbar, dass die Verteidigung in dem Sinne argumentieren würde, Eichmann sei bloß ein kleines Rädchen gewesen, - dass der Angeklagte so dachte, war wahrscheinlich, und in gewissen Maße tat er das dann auch …“ (Nach Auschwitz, S. 82f) Es stimmt nicht, dass „sie die planvolle Verteidigungsstrategie von Adolf Eichmann und anderen Angeklagten nicht ganz durchschaute.“ (S. 190)
[Bearbeiten] Literatur
- Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 2006, ISBN 3-492-04694-0 (engl. Responsibility and Judgment) Nachwort
- Nach Auschwitz. Essays und Kommentare, Bittermann, 1989, ISBN 3923118813
- The Origins of Totalitarianism. New York, 1951 (dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt, 1955; 10. Aufl. Piper, München 2003, ISBN 3-492-21032-5)
- Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil. New York 1963 (dt. Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1964, 14. Auflage Piper, München 1986, ISBN 3-492-20308-6)
- Das Böse als ethische Kategorie. Wolf Jean-Claude, Passagen Verlag, 2002
[Bearbeiten] Weblink
- Das hätte nie geschehen dürfen. Von Ludger Lütkehaus, in Die Zeit, vom 12. Oktober 2006