Evidenzbasierte Medizin
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Evidenzbasierte Medizin (EbM, v. engl. evidence „Beweis, Nachweis, Hinweis“; die korrekte Übersetzung wäre „Beweisgestützte Heilkunde“ - siehe auch unter Evidenz) zielt darauf, patientenorientierten Entscheidungen in der Medizin öfter eine wissenschaftlichere Grundlage zu geben, als dies oft der Fall ist.
Der Begriff evidence-based medicine wurde Anfang der 90er Jahre von Gordon Guyatt aus der Gruppe um David Sackett an der McMaster University, Hamilton, Kanada, geprägt.
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[Bearbeiten] Definitionen
EbM
- ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der best verfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung. (Zitat: David L. Sackett et al. Was ist evidenz-basierte Medizin und was nicht?)
- Bewusste, ausdrückliche und wohlüberlegte Nutzung der besten Informationen für die Entscheidungsfindung über die Behandlung eines Patienten, Gutachtenbasierte Medizin (Zitat: Deutsche Nationalbibliothek)
EbM beruht demnach auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlich fundierten klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen (= externe Evidenz).
Die EbM beschäftigt sich nicht mit der Durchführung von klinischen Studien selbst, sondern mit der systematischen Nutzung ihrer Ergebnisse.
Eine Einteilung nach EbM-Kriterien von Studien/Veröffentlichungen ermöglicht Aussagen über die wissenschaftliche Evaluierung und über den Evidenzgrad. Nach ÄZQ (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin) gelten nachfolgende Level im Sinne der EbM:
- Level I: Es gibt ausreichende Nachweise für die Wirksamkeit aus systematischen Überblicksarbeiten (Meta-Analysen) über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien.
- Level II: Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus zumindest einer randomisierten, kontrollierten Studie.
- Level III: Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte Gruppenzuweisung.
- Level IVa: Es gibt Nachweis für die Wirksamkeit aus klinischen Berichten.
- Level IVb: Stellt die Meinung respektierter Experten dar, basierend auf klinischen Erfahrungswerten bzw. Berichten von Experten-Kommittees.
Unter Praxis der EbM im engeren Sinne versteht man eine Vorgehensweise des medizinischen Handelns, individuelle Patienten auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten zu versorgen.
Diese Technik umfasst die systematische Suche nach der relevanten Evidenz in der medizinischen Literatur für ein konkretes klinisches Problem, die kritische Beurteilung der Validität der Evidenz nach klinisch-epidemiologischen Gesichtspunkten; die Bewertung der Größe des beobachteten Effekts sowie die Anwendung dieser Evidenz auf den konkreten Patienten mit Hilfe der klinischen Erfahrung und der Vorstellungen der Patienten.
Ein verwandter Begriff ist die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (Evidence-Based Health Care), bei der die Prinzipien der EbM auf alle Bereiche der Gesundheitsversorgung, einschließlich Entscheidungen zur Steuerung des Gesundheitssystems, angewandt werden.
[Bearbeiten] Geschichte
Die Idee der evidenzbasierten Medizin lässt sich auf das in der 2. Hälfte des im 18. Jahrhundert von britischen Ärzten entwickelte Konzept der „medical arithmetic“ zurückführen (William Black: Arithmetic and Medical Analysis of the Diseases and Mortality of the Human Species, London 1789). Erstmalig findet sich die Bezeichnung in dem 1793 publizierten Artikel „An attempt to improve the Evidence of Medicine“ des schottischen Arztes George Fordyce (zitiert bei U. Tröhler: To Improve the Evidence of Medicine. The 18th Century British Origins of a Critical Approach. Edinburgh, Royal College of Physicians of Edinburgh).
In Großbritannien wurde auch eine der ersten kontrollierten klinischen Studien durchgeführt. Schon 1753 veröffentlichte James Lind die Ergebnisse seines Versuchs, den Skorbut mit Orangen und Zitronen zu behandeln.
Im deutschsprachigen Bereich kommt dem in Wien tätigen, ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818-1865) die Erstautorenschaft für die Einführung der „systematischen klinischen Beobachtung“ in die medizinische Forschung zu (1848).
Das 1972 erschienene Buch „Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services“ von Professor Archie Cochrane, einem britischen Epidemiologen, markiert den Beginn der aktuellen internationalen Bemühungen um „Evidence-based Medicine“. Seine weiteren Arbeiten führten zu einer zunehmenden Akzeptanz von klinischer Epidemiologie und kontrollierten Studien. Cochrane wurde dadurch gewürdigt, dass ein internationales Netzwerk zur Wirksamkeitsbewertung in der Medizin - die Cochrane Collaboration - nach ihm benannt wurde.
[Bearbeiten] Cochrane-Library
Die Library der Cochrane Collaboration (die so genannte Cochrane-Library) versammelt systematische Übersichtsarbeiten auf englisch seit 1992 und ist auf fast zweitausend Arbeiten angewachsen. Darüber hinaus enthält sie ein Register mit Zitaten klinischer Studien (ca. 480.000 Einträge), das über die Bestände herkömmlicher Datenbanken (Medline, EMBASE) hinausgeht. Durch ihre elektronische Verbreitung (vierteljährlich aktualisiert im Internet und auf CD-ROM mit einer umfassenden Suchfunktion) hat sie die EbM zu einer allgemein anerkannten Grundlage alltäglicher medizinischer Arbeit gemacht.
In der jüngsten Zeit wird versucht, die Library multilingual zu machen, indem Artikel auf Italienisch, Spanisch und Chinesisch automatisch oder per Hand regelmäßig übersetzt und andererseits auch in diesen Sprachen alle anderssprachigen Artikel (insbesondere englisch) verfügbar gemacht werden. Die Cochrane Collaboration sieht die Einbeziehung der Patientenmeinung in die Gesundheitsversorgung als grundlegend an. Daher gibt es zu jeder systematischen Übersichtsarbeit eine laienverständliche Kurzzusammenfassung (plain language summary).
[Bearbeiten] EbM im deutschsprachigen Bereich
Die Verbreitung der EbM ist im deutschsprachigen Bereich maßgeblich durch die Institutionalisierung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM e.V.) befördert worden. Ziele dieser Fachgesellschaft sind die Weiterentwicklung und Verbreitung von Theorie und Praxis der Evidenzbasierten Medizin.
[Bearbeiten] Der Nutzen der evidenzbasierten Medizin
Das gesamte medizinische Wissen verdoppelt sich derzeit alle fünf Jahre, wobei einzelne Fachgebiete eine sehr viel stärkere Dynamik aufweisen. Bei der Fülle des be- und entstehenden Wissens ist der einzelne Arzt zunehmend überfordert, das für ihn Bedeutende zu bestimmen. EbM setzt sich das Ziel, die Qualität der veröffentlichten medizinischen Daten zu bewerten und damit auch zu verbessern. Damit dient EbM dem Patienten, dem einzelnen Arzt, der einzelnen Forschungseinrichtung und der Gesundheitspolitik. Allerdings ist die EbM selbst noch eine junge Wissenschaft, die sich ebenfalls weiter entwickelt.
Gerd Gigerenzer befürwortet ein Umdenken von lokalen Traditionen der Krankenbehandlung zu den gesicherten statistischen Fakten der EbM. Für ihn ist schon die Begriffsbildung bezeichnend, da informierte Entscheidungen immer noch eher ein Ideal als die Realität darstellen: man kann sich kaum Naturwissenschaftler vorstellen, die etwa Werbung für evidenzbasierte Physik machen müssen.
Der Streit zwischen traditioneller und evidenzbasierter Medizin ähnelt dem Konflikt zwischen Corpuslinguistik und traditioneller Linguistik. Auch dort haben computergestützte Methoden den empirischen Nachweis von vorher eher glaubensbasierten Erkenntnissen leichter gemacht.
[Bearbeiten] Kritik an der evidenzbasierten Medizin
Die wesentlichen Argumente der Kritiker sind folgende:
- Ärzte haben sich „ohnehin schon immer“ wie gefordert verhalten.
- Eine gute Beweisführung sei in vielen Bereichen der Medizin nicht durchführbar oder zu umständlich. Fast alle ärztlichen Handlungen, die komplett unstrittig sind, seien nicht evidenzbasiert und würden es nie sein.
- Fehlen von bewiesenem Nutzen und Fehlen von Nutzen seien nicht das Gleiche. So helfen zum Beispiel Umschläge mit „essigsaurer Tonerde“ als Hausmittel gegen Fieber, obwohl diese noch keinem Doppelblindversuch unterworfen wurden.
- Je mehr Daten in großen Studien zusammengezogen werden, um so schwieriger würde es, den Durchschnittspatienten der Studie mit einem speziellen Patienten zu vergleichen. So seien Studien mit einer großen Anzahl nicht ohne weiteres auf einen speziellen Einzelfall anwendbar. Große Zahlen liefern ein statistisch gesehen genaues Ergebnis, von dem man nicht weiß, auf wen es zutrifft. Kleine Zahlen liefern ein statistisch gesehen unbrauchbares Ergebnis, von dem man aber besser weiß, auf wen es zutrifft. Schwer zu entscheiden, welche dieser Arten von Unwissen die nutzlosere ist. (Beck-Bornholdt, Dubben 2003).
- Kausalitäten können lange ungeklärt bleiben. In Beobachtungsstudien kann man oft nur von Korrelationen sprechen, manchmal von gesicherten Zusammenhängen. Aus anderen Zusammenhängen (etwa randomisierte Studien) kann hingegen auf eine Kausalität (Little, Rubin, 2000) geschlossen werden. Daher sind randomisierte klinische Studien der Hauptbetrachtungsgegenstand der evidenzbasierten Medizin und dieser Kritikpunkt nicht ohne Weiteres nachvollziehbar.
- Weiter werden Trugschlüsse bei den Endpunkten (Surrogat-Marker) von medizinischen Studien diskutiert.
- EbM würde aus Karriere- und finanziellen Gründen stark vorangetrieben.
- Erfahrung, individuelle Entscheidungen und Emotionen würden bei der EbM nicht oder zu wenig anerkannt (stupide „Kochbuchmedizin“).
- Die Forderung den Wert einer medizinischen Behandlung für den einzelnen Betroffenen zu beurteilen, führt zum Begriff value based medicine. Dieser Wert im Kontext zum einzelnen Menschen betrachtet (biopsychosoziales Modell) wird als human based medicine bezeichnet. EbM könne bestenfalls ein erster Schritt auf dem Weg zur HbM sein.
Bei allen vorhandenen Problemen hat sich die evidenzbasierte Medizin in folgendem Punkt als erfolgreich bewiesen: Äußerungen medizinischer „Experten“ sind mehr als bisher hinterfragbar geworden (eminenzbasierte Medizin). Ein Mindestmaß an überprüfbaren Belegen reicht nicht mehr aus, eine zunehmend skeptische Kollegenschaft zu beeindrucken. Behauptungen müssen durch Argumente ersetzt werden, die die einschlägige medizinische Literatur untermauern muss. Medizinisches Wissen ist mehr als bisher hinterfragbar geworden.
[Bearbeiten] Forderungen der evidenzbasierten Medizin
Evidenzbasierte Medizin fordert vom Arzt nicht nur klinische Expertise (das heißt Fachwissen am Krankenbett), sondern auch das Wissen, wie er sich die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung aneignet, wie er sie interpretiert und sie anwendet. Fachwissen ist ebenso erforderlich in der Gesprächsführung mit dem Patienten, vor allem in der Besprechung möglicher Nutzen und Risiken der verschiedenen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Angestrebt werden sollte eine informierte Einwilligung.
Außerdem ist eine Kenntnis der eigenen Wirkung auf den Patienten gefragt und auch ein Bewusstsein darüber, welche Sorte Patient die schwachen Seiten des Arztes zum Vorschein bringt. Allerdings ist evidenzbasierte Medizin keine Einbahnstraße: Vom aufgeklärten und mündigen Patienten darf ebenfalls gefordert werden, sich den gegebenen Erkenntnissen der Medizin nicht zu verschließen.
[Bearbeiten] Quellen
- Guyatt G, Cairns J, Churchill D, et al. [‘Evidence-Based Medicine Working Group’] „Evidence-based medicine. A new approach to teaching the practice of medicine.“ JAMA 1992;268:2420-5. PMID 1404801
- Guyatt GH, Rennie D. User's guides to the medical literature. JAMA 1993;270:2096-2097. Center for Health Evidence Canada
- Definitionen und Instrumente des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin
- Little RJ, Rubin DB. Causal effects in clinical and epidemiological studies via potential outcomes: concepts and analytical approaches. Annu Rev Public Health. 2000;21:121-45.
- Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson WS. Evidence-based medicine: What it is and what it isn't. Brit. med. J. 312 [1996] (71-72)
[Bearbeiten] Literatur
- R. Kunz, G. Ollenschläger, H.-H. Raspe, G. Jonitz, F.-W. Kolkmann: Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2000, ISBN 3-7691-0383-1 (Die Grundlagen der 'EbM' - erstmals Schritt für Schritt an Fallbeispielen aus der Versorgungspraxis im deutschsprachigen Raum.)
[Bearbeiten] Siehe auch
- Evidenz (Begriffsklärung)
- Evidenzklasse, Anzahl der notwendigen Behandlungen, prospektive Studien, retrospektive Studien
- Erkenntnistheorie, Ethik, Medizinische Wirksamkeit, Geschichte der Medizin, Risikofaktor, Stage migration
- Kompendium Evidenzbasierte Medizin, DNEbM, ÄZQ, G-I-N
[Bearbeiten] Weblinks
- Deutsches Cochrane-Zentrum
- Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM e. V.)
- Centre for Evidence-Based Medicine (CEBM)
- http://www.evidence.de/EbM-Links/ebm-links.html
- Swiss Cochrane Working Group
- http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=47063 Evidenzbasierte Medizin (EbM): Begriff entideologisieren