Saint Philibert
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Die Abteikirche Saint Philibert in Tournus gehört zu den schönsten romanischen Kirchen Burgunds. Sie führt ihren Namen nach dem heiligen Philibert, dessen Reliquien in der Zeit der Überfälle der Normannen hierher aus Noirmoutier-en-l'Île, wo er gestorben war, in Sicherheit gebracht wurden.
Die heutige Stadt Tournus ging - wie viele andere Städte auch - aus einer Ansiedlung hervor, die sich rund um ein Benediktinerkloster gebildet hatte. Der kleine Ort vermittelt auch heute noch eine mittelalterliche Atmosphäre. Die in direkter Nähe zur Saône liegende Kirche ist von großer kunsthistorischer Bedeutung und in mehrerer Hinsicht die Vorreiterin entscheidender architektonischer Entwicklungen.
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[Bearbeiten] Fassade
Wie bei vielen anderen Kirchen aus der Bauzeit vor 1100 hat die Fassade einen wehrhaften Charakter. Sie war ursprünglich ein Verteidigungswerk, daher die Schießscharten und die Schmucklosigkeit. Die einzigen Verzierungen, Bogenfriese und Lisenen, sind erkennbar lombardischen Ursprungs. (Steinmetze aus dieser norditalienischen Region rund um Mailand waren um die Jahrtausendwende in ganz Europa berühmt - so wirkten sie u.a. auch am Dom von Speyer mit.)
Die Fassade von St.Philibert stammt aus dem ausgehenden 10. Jh. und ist das früheste erhaltene Beispiel einer Doppelturmfassade (Oursel, Raymond / Stierlin, Henri (Hrsg.): Romanik (= Architektur der Welt, Bd. 15), S. 17). Unmittelbares Vorbild für diese Anordnung der Türme dürfte die zweite Kirche der benachbarten Abtei von Cluny gewesen sein (Baubeginn ab 948), die aber nicht erhalten ist. (Nach Wilckens fand sich die erste Zweiturmfassade in Frankreich bei St-Germain in Auxerre, geweiht 865. Die erste Zweiturmfassade in Deutschland befindet sich - wenn auch unvollendet - am Straßburger Münster von 1015 (Pevsner, Nikolaus: Europäische Architektur von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 31973, S. 81). Mögliche Vorbilder dieser Bauform finden sich an Bauten des 5. und 6. Jh. in Syrien.
Die Turmgruppe, die bereits vorher in Ansätzen an Westwerken vorgebildet war, entwickelte sich in der Doppelturmfassade von Tournus zu einer eigenen Idee, zu einem neuen Baumotiv. Die Fassade war ursprünglich bekrönt von zwei niedrigen Aufbauten, von Turmstümpfen, die sich kaum vom Fassadenblock absetzen und in einer Fläche mit den darunter liegenden Geschossen blieben. Die Türme hatten noch keine eigene Selbständigkeit, sie wuchsen noch nicht als eigene Bauteile hoch. Der heutige Nordturm wurde erst im 12. Jh. erhöht.
Die beiden Fassadengeschosse hatten keinen axialen Bezug zueinander : die Lisenen laufen nicht durch alle Geschosse hindurch nach oben, sondern werden im ersten Geschoss seitlich versetzt fortgeführt. Von einer Fassadengestaltung, die von unten bis in die Türme hinein ein durchgehendes Prinzip verfolgt hätte - wie später in der Hochgotik -, kann noch keine Rede sein. Und doch ist die Anlage von Tournus eine der wichtigen Voraussetzungen für spätere Bauformen.
[Bearbeiten] Vorkirche
Auch im Innenraum dieser Kirche findet man architektonische Urformen und Besonderheiten. Nach der Zerstörung des Vorgängerbaus durch die Ungarn wurde um 950 eine neue, sehr große, flachgedeckte Kirche errichtet. Die Mauern stehen im hinteren Teil der Kirche bis heute. Dieser alten Kirche wurde um 1020 ein Narthex vorgebaut, der – schmaler als das Hauptschiff – ungefähr die Breite des Chorraums hatte. Diese Vorkirche ist eine dreischiffige, zweigeschossige Anlage, die mit der Hauptkirche durch Bogenstellungen verbunden ist. Hier wird die Erinnerung an die älteren Westwerke deutlich, die auch solche Öffnungen zum Hauptraum hin hatten.
Da kurz zuvor in Cluny erstmalig seit der Antike ein Gewölbe geglückt war, versuchte man es auch hier. In der oberen Etage hat sich dieses früheste Tonnengewölbe großen Ausmaßes erhalten. Das Obergeschoss ist noch aus einem weiteren Grund sehenswert : hier finden sich vier handbetriebene Blasebalge, die in früheren Zeiten die Luft zum Spielen der Orgel lieferten.
[Bearbeiten] Langhaus
Das Langhaus ist ebenfalls ungewöhnlich. Kurz nach der Vorkirche wurden es zu Beginn des 11. Jhs. begonnen und 1019 geweiht. Besondere Beachtung verdient auch hier das Gewölbe.
Als die Wölbung des Vorbaus gelungen war, überwölbte man, mutig geworden, um 1050 das noch breitere Hauptschiff. Dabei nutzte man die Erfahrungen vom Bau der nahegelegenen Klosterkirche St. Martin in Chapaize. Trotzdem misslang der Versuch: das Gewölbe drohte einzustürzen. Deshalb riss man es schon 1070 wieder ab und errichtete als Notlösung die einzigartigen Quertonnen.
Jedes Joch hat hierbei im Mittelschiff ein eigenes - quer zur Längsrichtung errichtetes - Tonnengewölbe. Dadurch war es möglich, große Fenster in die Außenmauer einzulassen. Normalerweise hatte ein Mittelschiff in der frühen Romanik ein Tonnengewölbe, das auf den Außenmauern ruhte. Dies ließ keine großen Fenster zu, um das Gewölbe nicht zu gefährden.
In Tournus hat man kurz nach der Jahrtausendwende, also noch am Anfang der Entwicklung der mittelalterlichen Wölbungstechnik, mit den Quertonnen etwas ganz Anderes versucht. Durch diese seltene frühe Maßnahme, auch wenn sie ein Notlösung nach einem Einsturz war, erscheint der hohe Kirchenraum in Tournus wie eine Halle. Schwibbogen über Konsolen spannen sich über das Mittelschiff. Der Blick in die verschiedenen Gewölbeteile demonstriert, in welchem Ausmaß hier im 11. Jahrhundert mit ganz verschiedenen Konstruktionsmitteln experimentiert wurde.
Obwohl die Quertonnen die Kirche sehr hell machen, ist diese Idee nirgendwo nachgeahmt worden. In Vézelay hat man mit Kreuzgratgewölben später Ähnliches erreicht. Die Gotik hat noch später zu diesem Zweck das Kreuzrippengewölbe erfunden.
[Bearbeiten] Chor
Bei der Entwicklung noch einer weiteren Bauform steht Saint-Philibert ganz am Anfang : Hier steht der älteste, erhalten gebliebene Chor mit Radialkapellen, also mit Kapellen, die als einzelne Bauteile strahlenförmig an den Chorumgang angebaut sind. Aus diesen frühen Formen hat sich später der Kapellenkranz entwickelt und die zahlreichen Varianten, die den Chor zu einem dominierenden Element der Kirchenanlage gemacht haben - wie z.B. in der dritten Kirche von Cluny.
Die Anlage dieser Radialkapellen hatte einen liturgischen Sinn. In den Klosterkirchen hatte jeder Mönch, der auch Priester war, die Verpflichtung, jeden Tag eine Messe zu lesen. Gleichzeitig erlebte die Heiligenverehrung einen gewaltigen Aufschwung. So wurden zusätzliche Altäre in der Kirche erforderlich.
Zunächst wurden an den Querschiffen Apsiden angebaut. In jeder dieser Seitenapsiden konnte ein Altar untergebracht werden. In Deutschland erfand man die Doppelchörigkeit, wobei eine Kirche im Osten und im Westen einen Chor (mit Altar) besaß (z.B. der Dom in Worms). Dadurch ging aber der traditionell nach Osten gerichtete Raumcharakter verloren, der den Kirchenraum auf den Hauptalter vor der aufgehenden Sonne hin konzipiert hatte. In Frankreich wurde daher u.a. in Tournus mit den neuen Kapellen hinter dem Chorumgang eine andere Lösung gefunden, die die beiden Erfordernisse vereinte: Die Gerichtetheit der Kirche nach Osten blieb erhalten, gleichzeitig wurde im Ostchor die Zahl der Altäre deutlich erhöht.
Da die Kapellen über Fenster verfügten, wurde so im ausgehenden 11. Jh. der Grundstein für eine sichtbare Veränderung gelegt : Am Anfang stehen die dunklen Chöre der Romanik, am Ende der "Lichtschrein", den Abt Suger seit 1140 mit der Kathedrale von Saint-Denis als erstes gotisches Gebäude errichtete.
Sehenswert ist die Krypta. Die ältesten bekannten Krypten (z.B. in Auxerre) stammen aus der Zeit um 850. Sie hatten rechtwinklige Umgänge. Die Krypta von Tournus stammt ursprünglich aus dem Jahr 875. Ungefähr hundert Jahre später passten die Mönche den Umgang der runden Chorform darüber an und ergänzten die rechteckigen Kapellen. Der von zwei Reihen schlanker Säulen geteilte Hauptraum ist aber auch heute noch rechteckig. Ein Fresko aus dem 12. Jahrhundert ist besonders gut erhalten, es stellt Maria mit dem Kind und den thronenden Christus dar.
Einen Blick wert ist nicht zuletzt ein erhalten gebliebener Kreuzgangflügel aus dem 11. Jahrhundert.