Schamanismus
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Eine allgemein anerkannte Definition von Schamanismus gibt es bisher nicht. Man versteht darunter üblicherweise ein religiös-magisches Phänomen, das zuerst bei verschiedenen indigenen Völkern Sibiriens beobachtet und beschrieben wurde. Oft wird versucht, den Begriff von diesem kulturellen Raum zu abstrahieren und auf ähnliche Erscheinungen weltweit anzuwenden. Die immer noch weit verbreitete Annahme, der Schamanismus stelle die religiöse Praxis der Steinzeit dar, beruht auf Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und bleibt letztlich spekulativ.
Wesentliche Elemente des Schamanismus sind Trance bzw. Ekstase (veränderte Bewusstseinszustände), das Motiv der Seelenreise und die Interaktion mit Geistwesen. Zentrale Figur des Schamanismus ist der Schamane, der eine Mittlerrolle zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt einnimmt und seine besonderen Fähigkeiten zum Wohl seiner Gemeinschaft einsetzt.
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Der Begriff des Schamanismus
Etymologie
Der Begriff "Schamanismus" ist vom deutschen Lehnwort "Schamane" abgeleitet; letzteres etabliert sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Es kommt vom evenkischen (d.h. tungusischen) šaman, dessen weitere Etymologie umstritten ist. Das Wort könnte eine Ableitung von der tungusischen Wurzel ša- (denken, wissen) sein. Eine weitere Interpretation des Wortes greift auf die Manjutungusische Bedeutung "mit Hitze und Feuer arbeiten" zurück.
Möglicherweise handelt es sich aber auch um ein Lehnwort: Vertreter der Theorie, der Schamanismus sei von Indien oder Tibet nach Zentralasien und Sibirien gekommen, leiten den tungusischen Ausdruck vom indischen (Pali) samana (Sanskrit cramana: Bettelmönch, Asket) her.
Bereits im sibirischen Raum gibt es keinen einheitlichen Begriff für die Figur des Schamanen. Anstelle des tungusischen šaman begegnen bei den turk- und mongolischsprachigen Ethnien die Ausdrücke kam (kami, gam, cham) für den Schamanen bzw. udagan für die Schamanin. Im Zuge der Islamisierung ersetzte bei vielen Turkvölkern bakshi (aus sanskr. bikshu) als generischer Begriff für vorislamische religiöse Spezialisten den einheimischen Ausdruck kam.
Zahlreiche weitere Bezeichnungen für Person des Schamanen waren regional stark begrenzt.
Merkmale des Schamanismus
Besonderes Merkmal ist der Einsatz verschiedenster Mittel (u.a. rhythmisches Trommeln, Tanz, Trancetanz, psychedelische Drogen, Fasten) zum Erreichen von Trancezuständen. Diese werden im Allgemeinen interpretiert als Übergang in einen anderen Seinszustand, eine Anderswelt und Kommunikation mit Geistern. Dem Schamanen wird zugesprochen, er erlange dadurch besondere Fähigkeiten der Heilung und Weissagung sowie verschiedenste spezifische magische Kräfte. So ausgestattet versieht der Schamane kulturspezifisch eine teils große Zahl von Rollen – vom Heiler und Exorzisten über den Psychopompos (Begleiter der Seelen ins Totenreich) bis hin zum Zeremonienmeister.
Das schamanistische Weltbild ist in Schichten gegliedert; neben dem besonders häufig nachgewiesenen dreischichtigen Modell (Himmel, Erde, Unterwelt) kommen sieben- oder gar neunschichtige Modelle vor. An einer Achse, dem Weltenbaum, steigen die Schamanen auf und ab. Auf ihren schamanischen Reisen werden sie oft von ihrem Krafttier, manchmal sogar von mehreren, begleitet.
Forschungsgeschichtliche Aspekte und Theorien
Diffusionismus vs. Generalismus
Forschungsgeschichtlich stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Ansichten über den Schamanismus gegenüber. Während Diffusionisten davon ausgehen, dass der Schamanismus als religiöses Phänomen in einer einzelnen Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden sei und sich anschließend auf zahlreiche andere Kulturen ausgedehnt habe, behaupten Generalisten, jeder Mensch besäße schamanische Anlagen. Der Schamanismus wird so zu einer anthropologischen Konstante.
Eine bestimmte diffusionistische Theorie, der Schamanismus sei von Indien nach Zentralasien vorgedrungen, gilt seit Mircea Eliade als widerlegt. Laut Eliade sind nur spezifische Elemente, wie die Vorstellung einer Leiter oder eines Baumes, dem indischen Raum entlehnt.
Generalisierung und Übertragung auf vergleichbare Phänomene
Sämtlichen Forschungen zum Schamanismus liegt somit die Übertragung eines zunächst einzelsprachlichen Begriffs auf anderssprachliche Kulturen zugrunde. Zuerst geschah dies nur im sibirischen Raum, der als kulturelle Einheit konstruiert wurde, anschließend wurden die Konzepte "Schamane" und "Schamanismus" global angewendet. Endlich wurde der Schamanismus als eine Art anthropologisches Konstitutivum gesehen. Dieses Vorgehen hat auch Kritik hervorgerufen.
Es gibt in fast allen frühen Kulturkreisen ähnliche Erscheinungen, wie Animismus, Totemkult, Ahnenkult, Geisterglaube, Praktiken der Naturreligionen.
- Die keltischen Druiden.
- Alter Bön, die ursprüngliche vorbuddhistische Religion Tibets, enthält viele schamanistische Elemente. Auch die im Rahmen des tibetischen Buddhismus (Vajrayana) bekannten, als "Orakel" bezeichneten Medien werden zum Teil auf die vorbuddhistsche Bön-Religion zurückgeführt. Schamanische Rituale gehören zu den in diesen Religionen auch heute noch gebräuchlichen Praktiken.
- Afrikanische Religionen, die später auch nach Amerika gelangten (Voodoo).
- Süd- und mittelamerikanische Indianerkulturen mit noch aktivem Schamanismus, wie etwa bei den Shuar und Conibo
- Moderne schamanisch Praktizierende (siehe auch: Okkultismus, Esoterik)
- Ekstatische Techniken, bei den Propheten im Alten Testament, den Persern, den Sufis (islamische Mystiker).
- Orakel der Antike (Delphi)
- Saturnalien im antiken Griechenland
Eine sehr weit gefasste Auffassung des Schamanismus findet man bei Mircea Eliade, der ihn als Ekstase-Technik definiert.
Die Vorstellung vom prähistorischen Schamanismus
Ein bestimmtes Geschichts- bzw. Zeitmodell des 19. Jahrhunderts, nachdem zeitgenössische "primitive" Kulturen mit prähistorischen, etwa steinzeitlichen Kulturen gleichzusetzen seien, führte zu der Spekulation, der Schamanismus sei bereits in frühester Vergangenheit verbreitet gewesen. Archäologische Funde können dies bestenfalls plausibel machen; beweisbar ist diese Theorie nicht.
Der Archäologe Horst Kirchner (Literaturhinweis siehe unten) hingegen liefert ein eindrucksvolles Zeugnis für die These, dass schon im Aurignacien (um 13.000 v. Chr.) schamanisiert wurde, nämlich die bekannte Zeichnung aus der Höhle von Lascaux (dokumentiert in Broderick: Lascaux, A Commentary, London 1949, Fig. 45, p. 141). Sie zeigt einen Vogelkopf auf einer Stange, einen Bison und einen Mann mit offensichtlichem Ithyphallus in Schräglage. Kirchner zufolge handelt es sich um eine schamanische Séance: "Die Bildkomposition von Lascaux als Darstellung einer schamanistischen Geisterbeschwörung mit Hilfsgeist (Stangenvogel), Schamane (Mann) und Opfertier (Bisonstier)".
Schamanismus in der Moderne
Die ethnologische Erforschung des Schamanismus begann erst, als bereits das Christentum mehr oder weniger starken Einfluss auf die untersuchten Kulturen genommen hatte. Speziell in der Sowjetunion war der Schamanismus aufgrund der atheistischen Ideologie starken Repressalien ausgesetzt, was zu einem deutlichen Niedergang führte. Neuerdings kann jedoch ein Wiedererstarken schamanischer Traditionen beobachtet werden.
Etwa seit den 1960ern existiert im Westen ein gesteigertes Interesse am Schamanismus. Im Rahmen verschiedener esoterischer Strömungen etablierte sich in amerikanischen und europäischen Städten der Neoschamanismus. Da dieser Begriff von Anhängern als pejorativ empfunden wird, schlägt Kocku von Stuckrad den neutralen Ausdruck "moderner westlicher Schamanismus" vor.
Fundamentale Bedeutung für diese Bewegung haben Carlos Castaneda und Michael Harner. Beide haben einen akademischen Hintergrund, berichten aber in ihren Werken von Ereignissen, die sie zum Schamanen werden ließen.
Michael Harner gründete die Foundation for Shamanic Studies, die unter anderem die Verbreitung und praktische Lehre schamanischer Techniken zu ihren Zielen zählt. Harner untersuchte eine Vielzahl von schamanischen Kulturen und formulierte Anfang der Achtziger Jahre das Konzept des Core-Schamanismus, eines "Kern"-Schamanismus frei von Details, die jeweils nur einzelnen Kulturen zu eigen sind.
Neben diesem Ansatz bilden das von Carlos Castaneda popularisierte schamanische Weltbild und zahlreiche weitere Versuche, die schamanische Denk- und Lebensweise in die moderne Welt zu übertragen, den heterodoxen Bereich des Neoschamanismus. Er wird teils dem Phänomen der neuen Religionen, teils der Esoterik zugerechnet. Der Begriff ist umstritten, weil er eine Unterscheidung vom traditionellen Schamanismus impliziert, die seine Vertreter keineswegs so sehen, jedoch wird umgekehrt der Neoschamanismus von traditionellen Schamanen häufig als Profanisierung und Trivialisierung angesehen. Als Fremdbezeichnung ist der Begriff üblich.
Siehe auch
Literatur
- Wladimir N. Basilow: Sibirische Schamanen. Auserwählte der Geister. Schletzer, Berlin 2004 ISBN 3-921539-38-2
- Vilmos Diószegi (Hg.): Glaubenswelt und Folklore der sibirischen Völker. Verlag der ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest, 1963.
- Vilmos Diószegi: Tracing Shamans in Siberia. Anthropological Publications, Oosterhout, 1968.
- Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001 (11.Aufl.). ISBN 3-5182-7726-X
- Hans Findeisen: Schamanentum. Kohlhammer-Verlag. Stuttgart 1957.
- Adolf Friedrich und Georg Buddruss: Schamanengeschichten aus Sibirien. Otto-Wilhelm-Barth-Verlag, München-Planegg, 1955.
- Michael Harner: Hallucinogens and Shamanism. Oxford University Press, New York. 1973.
- Michael Harner: The Jivaro. People of the Sacred Waterfalls. Garden City. 1972.
- Mihály Hoppál (Hg.): Das Buch der Schamanen. Ullstein. München, 2002. (Zwei Bände). ISBN 3-550-07557-X
- Mihály Hoppál and Keith D. Howard (Hg.): Shamans and Cultures. ISTOR Books Nr. 5, Budapest 1993, ISBN 963 05 6590 0
- Ake Hultkrantz: Schamanische Heilkunst. Eugen-Diederichs-Verlag, München 1994. ISBN 3-424-01166-5
- Mongush B. Kenin-Lopsan: Shamanic Songs and Myths of Tuva. ISTOR Books Nr. 7, Budapest 1997. ISBN 963-05-7401-2
- Horst Kirchner: Ein archäologischer Beitrag zur Urgeschichte des Schamanismus. Anthropos 47 (1952).
- Andreas Lommel: Schamanen und Medizinmänner. Callwey, München 1980.
- Gerhard Mayer: Schamanismus in Deutschland. Ergon, Würzburg 2003. ISBN 3-89913-306-4
- Klaus E. Müller: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 3. Aufl. Beck, München 2006 [11997] ISBN 3-406-41872-4
- Wilhelm Radloff: Aus Sibirien. Leipzig und Kasan. 1893.
- Anna W. Smoljak: Der Schamane. Persönlichkeit - Funktionen - Weltanschauung. Schletzer, Berlin 1998. ISBN 3-921539-63-3
- Alfred Stolz: Schamanen – Ekstase und Jenseitssymbolik. dumont, Köln 1988. ISBN 3-7701-1894-4
- Kocku von Stuckrad: Schamanismus und Esoterik. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen. Leuven 2003 ISBN 90-429-1253-7
Werke aus dem Umfeld des modernen westlichen Schamanismus
- Carlos Castaneda: Reise nach Ixtlan. Die Lehren des Don Juan. Fischer, Frankfurt 1975, ISBN 3596218098
- Tom Cowan: Feuer im Kopf – Mystische Traditionen der keltischen Schamanen. Ariston. Hugendubel, Kreuzlingen-München 1998. ISBN 3-7205-2479-5
- Tom Cowan: Schamanismus – Eine Einführung in die tägliche Praxis. Rowohlt (rororo Sachbuch 60732) Reinbek 2000. ISBN 3-499-60732-8
- Felicitas D. Goodman: Trance Rituale für Jugendliche. Pieper's MedienXperimente, Löhrbach 1996? ISBN 3-925817-80-8
- Felicitas D. Goodman: Wo die Geister auf den Winden reiten. Bauer, Freiburg 1995. ISBN 3-7626-0372-3
- Felicitas D. Goodman: Trance – der uralte Weg zum religiösen Erleben. Gütersloher V. H., Gütersloh 1996. ISBN 3-579-00969-9
- Joan Halifax: Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Barth im Scherz-Verlag, Bern 1981, 1983, Hans-Nietsch-Verl., Freiburg 1999. ISBN 3-929475-86-3
- Michael Harner: Der Weg des Schamanen. Ariston. Hugendubel, Kreuzlingen-München 1999. ISBN 3-7205-2091-9
- Sandra Ingerman: Welcome Home. Die Heimkehr der Seele – Schamanische Selbstheilung. Ariston. Hugendubel, Kreuzlingen-München 1999. ISBN 3-7205-2069-2 und Ullstein-Taschenbuch ISBN 3-7205-2559-7
- Sandra Ingerman: Die schamanische Reise. Ein spiritueller Weg zu sich selbst (Buch mit Audio-CD (Trommelspiel)) Ariston. Hugendubel 2006 ISBN 3-7205-2559-7
- Winfried Picard: Schamanismus und Psychotherapie. Param. Ahlerstedt. 2006. ISBN 3-548-74244-0
- Paul Uccusic: Der Schamane in uns. Schamanismus als neue Selbsterfahrung, Hilfe und Heilung. Ariston. Hugendubel, Kreuzlingen-München 1991. ISBN 3-7205-2181-8
- Carlo Zumstein: Schamanismus. Begegnungen mit der Kraft. Diederichs kompakt. Hugendubel, München 2001. ISBN 3-7205-2194-X
- Carlo Zumstein: Der schamanische Weg des Träumens. Ariston. Hugendubel, Kreuzlingen-München 2003. ISBN 3-7205-2394-2
- Carlo Zumstein: Reise hinter die Finsternis. Aus der Depression zur eigenen Schamanenkraft. Ariston. Hugendubel, Kreuzlingen-München 1999. ISBN 3-7205-2089-7
Noch nicht zugeordnet
- Martina Claus-Bachmann: Auf der Suche nach Visionen aus anderen Wirklichkeiten. Gedanken über Trance bei Schamanen und DJs. In: Musik und Unterricht. Themenheft Visionen. Lugert Verlag, Oldershausen 10.1999,57 (Dez.), 14–21. ISSN 1439-1384
- Ulrich Enderwitz: Der religiöse Kultus. Reichtum und Religion. Bd 2. Ça ira, Freiburg i. Br. 1991. ISBN 3-924627-27-4
- G. Rebeka Peyn: Shamana – Tanz der Kraft. Ebele, Neuenkirchen 2005. ISBN 3-933321-89-1
- Roger Uchtmann: Schamanisches Sein als dialektischer Modus. In: Michael Kuper (Hrsg.): Hungrige Geister und rastlose Seelen. Reimer, Berlin 1991. ISBN 3-496-00493-2
Weblinks
- Foundation for Shamanic Studies
- Foundation for Shamanic Studies Europe
- Kurze und prägnante Einführung in deutscher Sprache
- Schamanismus-Information
- Was ist Schamanismus? Schamanismus und Heilen e.V.
- Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP)
- Schamanismus und Musik
- Artikel "Das Weltbild der Schamanen" (pdf)
- Historische Entwicklung und aktuelle Lage des Schamanismus in Sibirien (russisch)
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