Vertragstheorie
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Die Vertragstheorie (engl. social contract theory, frz. théorie du contrat social) oder der Kontraktualismus ist ein Gedankenexperiment, um staatliche Rechtsordnungen moralisch und institutionell zu begründen.
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[Bearbeiten] Motive
Verträge von Untertanen waren im Mittelalter eine potenzielle Verletzung der legitimen Herrschaftsordnung. Autorität war persönlich und beruhte möglichst nicht auf Einigungen, sondern auf Herkunft und Gottesgnadentum. "Unfriedliche" Wahlen waren eine Notlösung gegenüber der "friedlichen" Erbfolge.
Verträge wurden daher bis zur Neuzeit als eine Art Verschwörung beargwöhnt (vgl. Teufelspakt). Ein Hauptmotiv der Vertragstheorien im 17. und 18. Jahrhundert war es daher, vertragliche Ordnungen als Zeugnisse eines gemeinsamen "bürgerlichen" Willens aus ihrer älteren Geringschätzung zu befreien.
[Bearbeiten] Gedankenexperiment
Vertragstheorien versuchen, die vertraglich beschlossenen Gewaltmonopole als folgerichtige historische Entwicklung plausibel zu machen. Sie können als Gedankenexperiment verstanden werden, das sich in einen argumentationsstrategischen Dreischritt gliedert : Naturzustand – Gesellschaftsvertrag – Gesellschaftszustand [1].
Es wird von einem Naturzustand als rechtsfreiem Raum ausgegangen, in dem sich jeder mit jedem im Krieg befindet. Dabei wird die traditionelle christliche Vorstellung einer "Gnade von oben", die für den Frieden sorgt, ausgeblendet. Der Naturzustand ist so unerträglich, dass alle sich wünschen, ihn aufzulösen. Der Gesellschaftszustand als Rechtsraum, in dem die Gesellschaftsmitglieder geordnet zusammenleben, stellt sich als kleineres Übel dar. Daher postuliert die Vertragstheorie, dass diejenigen, die sich im Naturzustand befinden, durch einen Vertrag (also durch freiwillige Übereinkunft) in den Gesellschaftszustand übergehen.
Die Vertragstheorie behauptet nicht, tatsächliche Ereignisse zu beschreiben, sondern ist hypothetisch. Das Gedankenexperiment versucht zu zeigen, dass der rechtsfreie Raum eine Gefangenendilemma-Situation mit sich bringe, also die Unmöglichkeit gegenseitigen Vertrauens. Die Anwendung des Rechts erscheint dann als friedenssichernder Ausweg.
[Bearbeiten] Rechtfertigung staatlicher Rechtsordnungen
Das Herausbrechen des Individuums und des Staates aus der mittelalterlichen Weltordnung und die daraus entstehenden Konflikte (insbesondere die Religionskriege) werfen die Frage nach dem Warum und dem Wie der 'politischen' Ordnung mit bisher unbekannter Vehemenz auf. Eine spezifisch 'moderne' Antwort auf diese Frage ist die Vertragstheorie. Vertragstheorien oder Gesellschaftsvertragstheorien zur Rechtfertigung des Staates entstanden im 17. und 18. Jahrhundert, nachdem es bereits erste Ansätze in der griechischen Antike bei Epikur gegeben hatte.
Aus dem Naturzustand „Bellum omnium contra omnes“ führt nach dieser Sichtweise nur die Regelbindung, vorausgesetzt, dass sie von allen akzeptiert wird. Dieser (egoistische) Konsens erscheint vernünftig und von jedem gewollt.
Für die Vertragskonstruktion sind drei Dinge notwendig:
-
- erstens der Begriff des Individuums, das dem Vertrag zustimmen soll,
- zweitens der Begriff des Staates oder der Gesellschaft (Thomas Hobbes spricht vom „body politic“) als Ergebnis des Vertragsschlusses und
- drittens das Denken in Ursache-Wirkung-Zusammenhängen (Kausalität), hier die Suche nach der ersten Ursache für das Entstehen eines Staatsgebildes.
- erstens der Begriff des Individuums, das dem Vertrag zustimmen soll,
Diese drei Voraussetzungen sind gleichzeitig Merkmale der Moderne, und Gesellschaftsvertragstheorien sind in diesem Sinn modern.
Die Vertragskonstruktion ist die Antwort auf die Frage: „Warum existiert der 'body politic'?“ im Sinne von „Wie ist er entstanden?“. Die Menschen wechseln durch den Abschluss eines Vertrages vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand (Staat). Dabei handelt es sich allerdings um einen gedachten Prozess. Sowohl Vertragsabschluss als auch Naturzustand sind nur Vorstellungen, dass es so gewesen sein könnte.
[Bearbeiten] Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert verloren die Gesellschaftsvertragstheorien als Legitimationstheorien an Überzeugungskraft. Im entstehenden Rechtspositivismus spielten auf vorstaatliche Legitimationsstrategien gegründete Argumentationen keine Rolle mehr.
Anfang des 20. Jahrhunderts rückten Max Webers soziologische Definitionen von Macht und Herrschaft in den Mittelpunkt.
Dass das Konzept der Vertragstheorie im 20. Jahrhundert jedoch nicht überholt war, zeigt John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Rawls greift die Idee des Naturzustands von Hobbes auf, indem er einen „Schleier des Nichtwissens“ annimmt. Dieser „Schleier“ verhindert, dass die Individuen ihre Position in der Gesellschaft und den Zeitpunkt, zu dem sie leben, erkennen. Konsensfähig sind daher Regeln, die immer Vorteile bringen, ungeachtet in welcher Position und in welcher Zeit sich das Individuum befindet. Die Austauschbarkeit von Position und Zeit erlaubt einen Universalisierbarkeitstest von Regeln. Der Naturzustand von John Locke und Thomas Hobbes ist nicht mit dem von Rawls beschriebenen Urzustand zu vergleichen.
[Bearbeiten] Hauptsächliche Theoretiker
- Johannes Althusius
- Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Kap. 13-26
- John Locke, Two Treatises on Government (dt. Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1690)
- Jean-Jacques Rousseau, Du Contract Social (dt. Der Gesellschaftsvertrag, 1762)
- Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)
- John Rawls, A Theory of Justice (dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971)
Zu den bekanntesten Kritikern zählt C. B. Macpherson mit „Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke“ (dt. 1973).
[Bearbeiten] Vertreter des moralischen Kontraktualismus
- David Gauthier, Morals by Agreement (1986)
- James M. Buchanan, The Limits of Liberty (1975)
- Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer: Eine moralphilosophische Untersuchung (2000)
[Bearbeiten] Literatur
- Czaniera, Uwe (2003): "Stärken und Schwächen kontraktualistischer Moralbegründung", in: Aufklärung und Kritik (Sonderheft 7), S. 33-49.
- Deinhammer, Robert (2005): "Gesellschaftsvertrag? Kritische Bemerkungen zur kontraktualistischen Ethik", in: Rechtstheorie 36, S. 402-415.
- Kersting, Wolfgang (1990): "Zur Logik des kontraktualistischen Arguments", in: Gerhardt, Volker (Hg.): Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns. Stuttgart: Metzler, S. 216-237. ISBN 3476006921
- Kersting, Wolfgang (2005): "Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags", Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft. ISBN 3-534-18953-1
[Bearbeiten] Weblinks
- Eintrag (englisch) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (inkl. Literaturangaben)
- Contemporary Approaches to the Social Contract. Eintrag (englisch) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (inkl. Literaturangaben)
[Bearbeiten] Siehe auch
Staatstheorie, Politische Philosophie, Naturrecht, Gesellschaftsvertrag
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ vgl. Kersting, Wolfgang (1990)