Polnischer Korridor
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Der Polnische Korridor war ein 30 bis 90 km breiter Landstreifen, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Ostpreußen vom deutschen Kernland abtrennte. Er bestand aus einem großen Teil der ehemaligen Provinz Westpreußen und Teilen der ebenfalls abgetretenen Provinz Posen. Die Bildung des Polnischen Korridors wurde nach dem Ersten Weltkrieg am 28. Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles beschlossen. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand am 20. Januar 1920 statt.
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[Bearbeiten] Gründe für den Korridor
Nach dem 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson sollte ein unabhängiger polnischer Staat mit einem Zugang zum Meer errichtet werden. Mit diesem Entschluß sollten Polen die typischen wirtschaftlichen Probleme eines Binnenstaates erspart werden.
[Bearbeiten] Vorgeschichte und Bevölkerungsentwicklung
1910 war die gesamte Provinz Westpreußen 25.542 km² groß mit 1,7 Millionen Einwohnern. Davon gaben 64,4 % Deutsch als Muttersprache an, im Regierungsbezirk Marienwerder 58,8 % (Sprachenstatistik 1910) [1] [2]. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass nicht die gesamte Provinz Westpreußen abgetreten wurde, sodass diese Werte die Verhältnisse im Gebiet des Polnischen Korridors nicht exakt wiedergeben. Wie die Tabelle Anteil der deutschen Bevölkerung in den Landkreisen des Polnischen Korridors 1910 (s.u.) zeigt, lag der durchschnittliche Anteil der deutschen Bevölkerung im späteren Polnischen Korridor zu dieser Zeit bei etwa 48,2%, also etwa 16,2 Prozentpunkte unter dem Anteil in der gesamten Provinz Westpreußen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde am 28. Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles die Abtretung preußischer Gebiete an Polen, mit deutscher, polnischer wie auch kaschubisch-sprachiger Bevölkerung, ohne Abstimmung der betroffenen Einwohner, beschlossen. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand am 20. Januar 1920 statt.[3] Zum Teil verstieß dies gegen das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es US-Präsident Woodrow Wilson gefordert hatte.
Dazu gehörte auch die Ostseeküste vom Flüsschen Piasnitz an über die Halbinsel Hela, die Putziger Wiek bis Zoppot (letzteres gehörte bereits zur Freien Stadt Danzig). Der bis dahin unbedeutende Fischerort Gdingen (poln. Gdynia) wurde von Polen innerhalb weniger Jahre zu einer Hafenstadt ausgebaut und durch eine Eisenbahnstrecke mit dem Industrierevier im polnischen Teil Oberschlesiens um Kattowitz (Katowice) verbunden.
Nach der Abtrennung von Deutschland 1920 und der Übergabe des Gebietes an Polen nahm der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung deutlich ab. Dies kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden: Insbesondere aufgrund der Diskriminierung und der Versuche der Germanisierung der polnischen Bevölkerung im und durch den Preußischen Staat verfolgte die polnische Regierung eine regressive Politik gegenüber den dort ansässigen Deutschen, die nun eine Minderheit im polnischen Staat darstellten. Viele Deutsche wurden ausgewiesen, insbesondere Beamte und Berufssoldaten, da sie im preußischen Staat das Mittel der Repression gegenüber der polnischen Bevölkerung darstellten[4], sowie alle, die bei der Volksabstimmung 1921 für den Verbleib des Gebiets bei Deutschland gestimmt hatten. Tausende Angehörige der deutschen Zivilbevölkerung verließen das Gebiet teils aufgrund systematischer Polonisierungspolitik und repressiver Maßnahmen des polnischen Staates – wie beispielsweise Enteignungen und Zwangsräumungen, Schließung deutscher Schulen –, sodass der Anteil der Deutschen an der Bevölkerung deutlich sank. [5] [6] [7] Tausende Deutsche verließen das Gebiet jedoch noch vor dessen Abtretung an Polen, als die Beschlüsse des Versailler Vertrages bereits bekannt, jedoch noch nicht in Kraft getreten waren, da zwischen der Unterzeichnung des Versailler Vertrages und der Übergabe der Gebiete an Polen etwa ein halbes Jahr lag.[8] Gleichzeitig wurden der Zuzug und die Ansiedlung polnischer Familien aus anderen Gebieten Polens, vor allem aber polnischer Familien aus dem Ausland, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens ins Land drängten, durch den polnischen Staat gefördert.
Anteil der deutschen Bevölkerung in den Landkreisen des Polnischen Korridors | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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[Bearbeiten] Bevölkerungsentwicklung bis 1930
Die Bevölkerung des Polnischen Korridors betrug um 1930 etwa 2 Mio., von denen 78 % Slawen (Polen und Kaschuben), 19 % Deutsche und 3 % Juden waren. Die deutsche und jüdische Minderheit lebte überwiegend in den Städten und stellte in der Industrie und im Gewerbe die Mehrheit der Beschäftigten in dieser Region. 94 % der Bevölkerung war römisch-katholisch. Es existierten kleine Minderheiten an Protestanten und Menschen jüdischen Glaubens. Besonders in Thorn war die Bevölkerung stark durchmischt in Ethnie, Glauben und Sprache. Dort war die deutschsprachige Bevölkerung in der Mehrheit (Deutsche, deutschsprachige Juden). Die Juden stellten in Zempelburg die Mehrheit.[11]
[Bearbeiten] Geschichtliche Entwicklung
Nach dem Abzug ostgermanischer Stämme während der Völkerwanderungszeit wanderte der westslawische Stamm der Pomoranen, aus denen später die Kaschuben hervorgingen, in das Gebiet (damals Pommerellen) ein. Im 11. und 12. Jahrhundert fiel das Gebiet unter polnische Herrschaft. Ab 1181 gehörte der westliche Teil (Pommern) durch Lehnseid gegenüber dem deutschen Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Vom nun dort herrschenden Herzoggeschlecht der Samboriden wurden deutsche Siedler ins Land geholt. Erbstreitigkeiten nach dem Erlöschen des Herzoghauses zwischen Großpolen, Pommern, Brandenburg und Böhmen führten dazu, dass 1309 der vom polnischen König zu Hilfe gerufene Deutsche Orden das Land besetzte. Der Orden kaufte Brandenburg einige Landesteile ab. Nach dem Zweiten Thorner Frieden 1466 und der Union von Lublin 1569 setzte dann Polen seinen Gebietsanspruch durch, und das Land gehörte bis zu den Polnischen Teilungen zu Polen. 1772 und 1793 wurde dieses Gebiet von Preußen annektiert. Dies war die Geburtsstunde Westpreußens.[12]
[Bearbeiten] Die Jahre 1919–1945
Am 11. Juli 1920 wurden in den östlich der Weichsel gelegenen westpreußischen Kreisen und im südlichen Ostpreußen Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit dieser Regionen zum Deutschen Reich oder zu Polen abgehalten. Es stimmten für den Verbleib bei Deutschland in Westpreußen 92 % und in Ostpreußen 98 % der Bevölkerung. Das Gebiet um Marienwerder wurde infolge der Abstimmung als "Regierungsbezirk Westpreußen" dem deutsch gebliebenen Ostpreußen angegliedert. Die Freie Stadt Danzig und Ostpreußen wurden durch den Korridor vom übrigen Deutschen Reich abgetrennt. Die in den abgetrennten Gebieten verbliebenen Deutschen waren in der Zwischenkriegszeit häufig Repressalien und Übergriffen ausgesetzt.
Langjährige Verhandlungen um Transitrechte Deutschlands insbesondere auf der Ostbahn durch den Korridor blieben erfolglos. Allerdings entspannte sich die Situation nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes von 1934 scheinbar. Insgeheim wurde jedoch die Möglichkeit, den Korridor durch Krieg zurückzugewinnen, durch die nationalsozialistische Reichsregierung weiter verfolgt, wie etwa die Hoßbach-Niederschrift zeigt.
Erst nach dem Münchener Abkommen unternahm Hitler Ende 1938 einen neuen Anlauf zu einer Lösung der Frage des Korridors und Danzigs im deutschen Sinne. Unter anderem forderte Deutschland nun die Rückgängigmachung der Grenzziehung des Versailler Vertrages und – aufgrund der Übergriffe gegen die deutsche Minderheit in diesem Gebiet – eine Regelung der Rechte der dortigen Minderheiten. Es forderte eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit der Gebiete und machte den Vorschlag, dem in dieser Volksabstimmung unterlegenen Staat als Ausgleich eine exterritoriale Autobahn durch den Korridor zu gewähren.[13] Da Józef Beck auf die deutschen Vorschläge nicht einging, eskalierten seit dem Sommer 1939 die Spannungen zwischen beiden Ländern. Der Streit um den Korridor war die Kulisse für den vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Der darauf folgende Angriff auf die Westerplatte bei Danzig mit den darauf folgenden Kriegserklärungen Großbritanniens (aufgrund der britischen Sicherheitsgarantie an Polen vom 31. März 1939)[14] und Frankreichs an Deutschland am 3. September 1939 markieren den Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Mit dem Sieg über Polen im Herbst 1939 wurde das Gebiet des Korridors wieder an Deutschland angegliedert, um nach dessen Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 zurück an Polen zu fallen, nunmehr unter anderem mitsamt dem südlichen Ostpreußen und Hinterpommern und unter Vertreibung fast der gesamten in diesen Gebieten ansässigen deutschen Bevölkerung, womit sich die – nunmehr geschichtliche – Problematik des Korridors zu einer den gesamten Ostteil des ehemaligen Reichsgebiets umfassenden Problematik ausgeweitet hat, welche aber durch mehrmalige Verzichtserklärungen deutscher Nachkriegsregierungen heute als erledigt angesehen wird.
[Bearbeiten] Literatur
- Johannes Glöckner: Abgetrennt. Korridor nach Königsberg. In: LOK MAGAZIN. Nr. 258/Jahrgang 42/2003. GeraNova Zeitschriftenverlag GmbH München, ISSN 0458-1822, S. 82-83.
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Helmuth Fechner Deutschland und Polen, Würzburg, Holzner 1964
- ↑ Genealogienetz Westpreussen mit weiteren Quellenangaben
- ↑ God’s Playground. A History of Poland. Bd. 2. 1795 to the Present. Oxford University Press, Oxford 2005. ISBN 0199253390, ISBN 0199253404
- ↑ God’s Playground. A History of Poland. Bd. 2. 1795 to the Present. Oxford University Press, Oxford 2005. ISBN 0199253390, ISBN 0199253404
- ↑ Gotthold Rhode Geschichte Polens, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1980, S.482
- ↑ Helmuth Fechner Deutschland und Polen, Holzner Verlag, Würzburg 1964, S.159
- ↑ Hans Roos Geschichte der polnischen Nation 1918 bis 1978 Verlag Kohlhammer, 1979, S. 134
- ↑ "Historia Wąbrzeźna - Tom 1 (dt. Geschichte der Stadt Wąbrzeźno - Band 1)", herausgegeben vom Gemeindeamt in Wąbrzeźno, 2005. ISBN 83-87605-85-9, S. 179ff
- ↑ Helmuth Fechner Deutschland und Polen, Holzner Verlag, Würzburg 1964
- ↑ Richard Blanke, Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918–1939, University of Kentucky Press, 1993, ISBN 0-8131-1803-4, Seite 244 (Appendix B.Population of Western Poland) University Press of Kentucky 1993
- ↑ Olczak Elzbieta, Atlas historii Polski: mapy i komentarze, Demart, 2004, ISBN: 83-89239-89-2
- ↑ Genealogienetz Westpreussen
- ↑ Gordon Craig The Diplomats, Princeton New York 1953 sowie A.J.P.Taylor Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges, Mohn Gütersloh 1962
- ↑ Sidney Aster: The Making of the Second WorldWar, London 1973