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Tanztheater

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Tanztheater im weiteren Sinn (oder Bühnentanz) ist neben Sprechtheater und Musiktheater die dritte klassische Form des Theaters.

Tanztheater im engeren Sinne bezeichnet eine Kunstform des Tanzes, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbildete. Man verwendet hierfür auch den Begriff Modernes Tanztheater, um es noch deutlicher vom klassischen Tanz abzugrenzen. Im Gegensatz zum klassischen Ballett mit seiner hoch stilisierten, traditionellen Bewegungssprache arbeitet das Tanztheater mit experimentellen Bewegungselementen und sucht nach genreübergreifenden neuen Formen für die tänzerische Darstellung. Dabei wird der theatralische Aspekt stark betont.

Vor allem durch Pina Bausch an den Wuppertaler Bühnen wurde diese Form des Modernen Tanztheaters begründet und zur Blüte gebracht. Als weitere Pioniere und Choreografen des Tanztheaters sind Johann Kresnik, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann seit Ende der siebziger Jahre am Bremer Theater und später am Schauspielhaus Bochum, und Susanne Linke als Leiterin des Folkwang-Tanzstudios in Essen, William Forsythe, Saburo Teshigawara und Sasha Waltz u. a. zu nennen. Zahlreiche Tanz-Sparten an deutschen Theatern werden heute von Tanztheater-Kompanien ausgefüllt.

In der freien Szene sind seit den 1980er-Jahren viele Aufführungsorte entstanden, die dem Tanztheater gewidmet sind, wobei der Begriff zumeist sehr weit gefasst wird. In den letzten Jahren ist ein Zusammenwachsen des Tanztheaters mit der Performance − unter dem Sammelbegriff zeitgenössischer Tanz – zu beobachten, der von der bildenden Kunst ausgeht und auf eine Körpertechnik zu Gunsten eines Zusammenspiels von Raum, Licht, Farbe verzichten oder den Event- oder Happening-Charakter einer Aufführung dem sorgsam Einstudierten vorziehen kann.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Begriff und Geschichte

[Bearbeiten] Ursprünge

Der Begriff Tanztheater versucht sich einerseits vom Gesellschaftstanz und andererseits von den Konventionen des Balletts abzugrenzen. Voraussetzung dazu ist die Professionalisierung des Balletts, die der französische König Louis XIV mit seiner Gründung der Pariser Académie Royale de Danse 1663 in die Wege leitete. Louis XIV trat aber noch selber im Hofballett auf. Er setzte die Trennung zwischen Tänzern und Publikum oder zwischen Bühne und Ballsaal noch nicht voraus, die sich im 18. Jahrhundert herausbildete.

Die zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung der Tänzer wurde einerseits als Fortschritt und andererseits als Erstarrung wahrgenommen. Kritiker des professionalisierten und konventionalisierten Bühnentanzes versuchten ihn seit dem 18. Jahrhundert zu verändern. Entweder versuchten sie, das (Hof-)Ballett den "volksnahen" Pantomimen auf den Jahrmärkten anzugleichen, also dem Gesellschaftstanz, dem Maskenspiel etc. wieder größeren Raum zu geben, oder sie bemühten sich, den Bühnentanz den "natürlichen" menschlichen Bewegungen anzugleichen, sich also möglichst aus jeder Konvention zu befreien und mit Hilfe einer hoch entwickelten Kunst jede Maske abzulegen.

Diese Bemühungen hatten gemeinsam, dass sie das Natürliche, Verständliche, Volksnahe gegenüber den unzugänglichen Sitten des Hoftheaters favorisierten, führten aber zu widersprüchlichen Resultaten. Der Komponist und Philosoph Jean-Jacques Rousseau empfahl im abschliessenden Divertissement seines einflussreichen Bühnenwerks Le Devin du village (1752) eine Annäherung des Hoftanzes an den naiven Volkstanz, also einen Abbau des Professionalismus. Der Choreograf Jean Georges Noverre beschritt den gegenteiligen Weg einer Verstärkung des Professionalismus: Er vermehrte die klassischen Ballettpositionen im Versuch, sie zu überwinden (was sich nicht durchsetzte), und band andererseits den "reinen" Tanz an eine Bühnenhandlung zurück (was sich durchsetzte). So wurde er zum Begründer des Handlungsballetts.

Als sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Handlungsballett von der Oper emanzipiert und durch den Spitzentanz eine schwer erreichbare Professionalität durchgesetzt hatte, setzten neue Reformversuche des Bühnentanzes ein. Sie setzten sich den stark konventionalisierten, aber überaus erfolgreichen und dauerhaften Repertoireballetten wie Giselle (1841) oder Schwanensee (1877) entgegen, die mit Märchenhandlungen eine Überwindung der Schwerkraft und des Alltags propagierten. Diese Reformbemühungen sind der Ursprung des modernen Tanztheaters. In ihren grundsätzlichen Belangen spiegeln sie noch die Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts.

[Bearbeiten] Tanztheater vor dem Zweiten Weltkrieg

Wahrscheinlich hat Kurt Jooss, ein Schüler Rudolf von Labans, den Begriff geprägt. Eine historische Herleitung aus einer gemeinsamen Quelle ist weder beim Begriff noch beim Genre des Tanztheaters möglich. Verschiedene Strömungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang aus dem Mainstream verschwunden waren, haben sich später im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung wieder durchgesetzt und gemeinsam auf neue Formen im Bühnentanz eingewirkt.

Spezifisch deutsch und mit dem erklärten Ziel, die abgehobene Ästhetik des klassischen Balletts und seine zeitlos märchenhaften Fabeln zu verdrängen, war der stark an die Persönlichkeit des jeweiligen Tänzers gebundene Ausdruckstanz gewesen, wie ihn Mary Wigman in den 1920er Jahren in Berlin lehrte.

Eine parallele Bewegung war zeitgleich die Entwicklung des Modern Dance in den USA, der mit anderen Bewegungsmitteln auch die Darstellung des Individuums, der Psyche, des Alltags - damals in einem ungebrochenen Verhältnis zur Gemeinschaft - suchte.

Zunächst war der Ausdruckstanz in seinem „deutschen Charakter“ von den Nationalsozialisten begrüßt und vereinnahmt worden, diese Einschätzung wandelte sich aber, als er – nachdem Rudolf von Laban noch den Schauteil der Olympischen Spiele 1936 choreografiert hatte – nicht mehr von propagandistischem Nutzen war. Als „überfremdet“ und „undeutsch“ verlor der Ausdruckstanz offiziell jede Bedeutung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die ihn ausübenden Tänzer und Choreografen ein Heim an der Essener Folkwang-Schule. Die Anerkennung durch das Publikum blieb aber aus, unter Umständen, weil er als Kunstform zu einer Zeit und Ästhetik zurückführte, von der man sich distanzieren wollte. Diese Entwicklung vollzog sich in beiden Teilen Deutschlands.

[Bearbeiten] Durchsetzung des Neoklassizismus

Stattdessen gewann der Neoklassizismus an Boden, wie ihn exemplarisch John Cranko ab 1961 mit dem von Nikolas Beriozoff übernommenen exzellenten Stuttgarter Ballettensemble etablierte. In Ostdeutschland wurde das Vorbild des russischen Balletts stilbestimmend.

[Bearbeiten] Die Gegenbewegung der 1960er Jahre

Als in den 1960er Jahren die Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Realität und den vom bildungsbürgerlichen Publikum geschätzten wirklichkeitsfernen Ballettdarstellungen auf der Bühne immer größer wurde, regte sich Widerstand bei jungen Choreographen. Sie suchten nach neuen Themen und Ausdrucksformen. So lautete nach eigenen Angaben Johann Kresniks Frage an Balanchine, in dessen Ensemble er mittanzen durfte: „Was mach ich als Achtundzwanzigjähriger auf der Bühne im weißen Trikot, während ich eine Tänzerin von einer Diagonale in die andere schleppe?“ (J. Schmidt, Tanztheater)

Das Sprechtheater hatte die traditionellen Vorgaben schon abgelegt und seine jungen Regisseure hatten sich zu Experiment, Performance und Antiästhetik bekannt. Das Den Haager Nederlands Dans Theater, dessen Choreografen Hans van Manen und Glen Tetley sowohl dem Modern Dance verpflichtet als auch von der Ausdruckstanzästhetik Mary Wigmans bzw. ihrer US-amerikanischen Schülerin Hanya Holm beeinflusst waren, zeigte bereits neue, viel beachtete Wege im Tanz.

[Bearbeiten] Die jungen Choreographen

1968 zeigte Johann Kresnik beim Choreographen-Wettbewerb der Kölner Sommertanzakademie Paradies?, eine politische Darstellung, in der ein Mensch an Krücken von Polizisten mit dem Knüppel verprügelt wird, wozu ein Tenor „O Paradies“ singt. Im Januar 1970 kommt Pina Bauschs Stück Nachnull auf die Bühne, das sich ebenfalls von der traditionellen Bewegungsästhetik verabschiedet und eine Endzeitstimmung tänzerisch umsetzt. Gerhard Bohner geht 1972 von der traditionell orientierten Berliner Oper nach Darmstadt und versammelt hervorragende Solisten zu einem Ensemble, das sich Tanztheater nennt. Die alte Ensemblehierarchie wird aufgegeben und man versucht, nach dem Prinzip der Mitbestimmung in der Gruppe zu arbeiten, was sich auf lange Sicht nicht bewährt.

Kresnik geht nach Bremen und macht dort choreographisches Theater, Bausch etabliert sich 1973 in Wuppertal und tritt von dort ihren zunächst mühsamen Weg an. Die Folkwang-Schule unter Leitung von Kurt Jooss und das Folkwang-Tanzstudio werden zur neuen Ausbildungs- und Aufführungsstätte für solide moderne Tanztechnik, die Klassik und Modern zu einem vielseitig einsetzbaren Handwerkszeug vereint. Aus dieser Schule gehen Reinhild Hoffmann und Susanne Linke hervor.

[Bearbeiten] Ästhetische Prinzipien

Gemeinsamkeiten der Tanztheater-Choreographien bestehen zunächst einmal in der Ablehnung der ballettüblichen Ästhetik. Was gezeigt wird, muss nicht schön sein. Eine durchgehende Geschichte ist eher selten, oft werden montageartig aneinander gereihte Szenen gezeigt, die zu einem speziellen Thema zusammengestellt werden. Die Musik - oder akustische Begleitung, wie Geräusche - muss auch nicht "aus einem Guss" sein, sondern richtet sich nach dem jeweils Dargestellten. Sie wird meist nicht von einem Orchester gespielt, sondern kommt als Compilation vom Band. Tanz ist nicht das einzige Ausdrucksmittel, es können Sprache, Gesang und Pantomime eingesetzt werden. Der Stilisierungsgrad der Bewegungen ist unterschiedlich hoch, es werden oft Alltagsgesten verwendet. Bei der eingesetzten Körpersprache können alle Formen des Tanzes und der Bewegung verwendet werden.

Die erzählten Geschichten sind meist neu. Sie beleuchten den Menschen in der Zeit und der Gesellschaft. Das Individuum in seinem Austausch mit anderen, der Alltag, Gefühle, Situationen sind wichtig. Dabei werden oft Versatzstücke aus bekannten Geschichten, Archetypen und Mythen in die neuen Handlungsabläufe eingebaut und neu interpretiert. Humor und Satire können eine wichtige Rolle haben. Die Tänzer geben – im Gegensatz zum klassischen Ballett – Persönliches preis, nicht selten agieren sie nackt. Sie sind Persönlichkeiten, die mit ihrem Charakter und ihren Eigenarten auf der Bühne stehen und nicht physisch perfekt sein müssen. Der Ausdruck und die Intensität sind entscheidend. Dabei wird auch die alte Balletthierarchie aufgegeben: die Aufteilung in Star und Ensemble existiert nicht mehr. Statt dessen werden Charakterdarstellungen geschaffen, die alle gleichwertig nebeneinander stehen.

[Bearbeiten] Weitere Entwicklung

Das deutsche Tanztheater hat weltweit Ansehen und Einfluss auf das choreografische Schaffen erlangt. Die Pioniere der ersten Stunde haben viele Nachfolger gefunden, die Tanztheater auf ihre Weise interpretieren und sich von den großen Vorbildern inzwischen gelöst haben. Von einer einheitlichen Definition kann daher heute noch weniger als zu seiner Blütezeit ausgegangen werden. Pina Bausch selbst hat inzwischen wieder zu einer stärkeren Betonung des Tanzes gefunden, ebenso Susanne Linke, die nie so stark auf andere Mittel gesetzt hatte. Reinhild Hoffmann inszeniert inzwischen auch Opern. Andere Choreografen, wie Forsythe, bewegen sich ständig im Grenzbereich zwischen Tanz und Tanztheater. Joachim Schlömer, der an der Folkwang-Schule studierte, 1991 das Ulmer Tanztheater übernahm und jetzt die Zusammenarbeit zwischen der freien Szene und institutionellem Theaterbetrieb fördert, möchte mit dem Etikett "Tanztheater" gar nicht mehr belegt werden, weil die Kategorie seiner Ansicht nach eine inzwischen auch schon einengende "Schublade" darstellt.

[Bearbeiten] Literatur

  • Schmidt, Joachim, Tanztheater in Deutschland, Propyläen 1992. ISBN 3-549-05206-5
  • Schulze-Reuber, Rika, Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft, R.G. Fischer Verlag 2005. ISBN 3-8301-0807-9

[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Weblinks

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