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Fortschritt

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Unter Fortschritt versteht man eine als Verbesserung bewertete Veränderung des Zustandes, gelegentlich auch ein wertfreies Näherkommen an ein Ziel. Die Deutung von Geschichte unter der Interpretation einer Fortschrittsentwicklung bezeichnet man als fortschrittstheoretische Geschichtsdeutung, der gegensätzliche Ansatz wird als verfallstheoretischer Geschichsdeutungsansatz bezeichnet (z.B. Goldenes Zeitalter).

Der vieldeutige Begriff hat erhebliche geschichts- und kulturphilosophische Auswirkungen und prägt in besonderer Weise das Weltbild der westlichen Moderne.

Vielen Menschen im westlichen Kulturkreis erscheint die Idee, dass es "Fortschritt" gibt, so selbstverständlich, dass sie nicht daran denken, dass es auch völlig andere, dazu im Widerspruch stehende, weltanschauliche Axiome gibt. Das Fortschrittsdenken setzte sich in der Neuzeit in Europa und in Nordamerika durch. Insbesondere mit der Französischen Revolution und mit der Aufklärung bekam die Vorstellung eines ständigen Fortschritts der Menschheit einen erheblichen Schub.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Was ist Fortschritt?

Das Fortschrittsdenken beinhaltet folgende geschichtsphilosophischen Axiome:

  • Die geschichtliche Entwicklung verläuft linear.
  • Der allgemeine Zustand wird zunehmend besser, eventuell durch Rückschläge unterbrochen ("Kulturoptimismus").
  • Eventuell kommt noch die Vorstellung hinzu, dass die Veränderungen einem Ziel zusteuern ("Teleologie").
  • Oft ist mit dem Fortschrittsglauben die Vorstellung verbunden, dass sich Geschichte planvoll entwickle.

[Bearbeiten] Die Linearität der geschichtlichen Veränderung

Durch die Vorstellung der Linearität werden grundlegende Begriffe unserer politischen Orientierung impliziert. So gilt als fortschrittlich oder progressiv, wer auf diesem (eindimensionalen!) Weg vorangeht, also den geschichtlichen Prozess gewissermaßen beschleunigt. Als konservativ in diesem Sinn gilt hingegen, wer den linearen Bewegungsablauf bremsen oder anhalten will, als reaktionär, wer ihn umkehren, also rückwärts gehen, will. Zu beachten ist, dass diese Begrifflichkeiten zum Aneinandervorbeireden führen, wenn der Gesprächspartner das Axiom einer linearen geschichtlichen Veränderung gar nicht akzeptiert, oder wenn er sie in eine andere Richtung verlaufen sieht.

[Bearbeiten] Technischer Fortschritt

Siehe Hauptartikel: technischer Fortschritt

[Bearbeiten] Kulturoptimismus

Der Kulturoptimismus unterstellt, dass Veränderung im Regelfall eine Verbesserung ist. Daraus resultiert eine positive Bewertung des "Neuen" sowie eine negative Bewertung des "Alten", also "Überholten". Entsprechend diesem Denken wird unsere heutige Zivilisation als besser als frühere bewertet und es wird angenommen, dass zukünftige Zivilisationen besser als unsere heutige sind.

Das Fortschrittsdenken beinhaltet oft auch die Vorstellung, "Utopien" (griech. ou tópos = kein Ort, Nirgendwo), etwa gesellschaftspolitischer Art, verwirklichen zu können. Noch nie Dagewesenes erscheint dem Kulturoptimisten als grundsätzlich erreichbar, ja geradezu als Inhalt des politischen Denkens.

[Bearbeiten] Teleologie

Der Glaube an ein Endziel der geschichtlichen Veränderungen ist sehr alt und beruht in unserem Kulturkreis auf alten biblischen Vorstellungen. Die Vorstellungen, wie dieses Endziel auszusehen habe, sind allerdings höchst unterschiedlich. Gleichwohl ist ein vom Ende her gedachter Zweck eine verbreitete Vorstellung. Religiös gibt es den Glauben an ein "Drittes Reich" (nach dem ersten bis Jesus Christus und dem zweiten danach), das ewig ("tausendjährig") besteht. Wie erkennbar, hat Adolf Hitler diese mythischen Vorstellungen aufgegriffen, um sie auf sein, allerdings irdisches, Reich zu übertragen.

Auch der Kommunismus hat, auch unter dem Einfluss von Hegel, eine solche teleologische Vorstellung. Die klassenlose Gesellschaft der marxistischen Theorie, die letztendlich auch den Staat absterben lässt, ist eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann. Wann dies zu erreichen ist und ob das gewissermaßen automatisch kommt, oder ob es durch Handlungen (Klassenkampf) herbeigeführt werden muss, darüber sind sich die verschiedenen Fraktionen marxistischer Weltanschauung uneinig.

Nicht immer ist mit dem Fortschrittsdenken ein teleologisches Konzept verbunden. Fortschritt kann auch ohne bestimmtes Ende, also ergebnisoffen, gedacht werden.

[Bearbeiten] Entwicklung, Vorsehung

Häufig ist mit dem Fortschrittsdenken die Vorstellung verbunden, dass der Lauf der Geschichte im Prinzip bereits feststehe. Wir könnten dann diesen Lauf entweder gar nicht oder nur geringfügig oder allenfalls im Tempo des Ablaufs beeinflussen. Das heute sehr verbreitete Wort von der Entwicklung kommt aus dieser Vorstellung: Danach ist der Ablauf der Geschichte bereits vorher z.B. von Gott "aufgewickelt" worden. Diese bereits aufgewickelte Geschichte ent-wickelt sich jetzt. Wir können den Faden der Geschichte also nicht ändern. Wir können allenfalls etwas bremsen oder beschleunigen, was bereits unter dem Punkt Linearität beschrieben wurde. In einer religiös neutraleren Form wird nicht von Gott, sondern von der "Vorsehung" gesprochen, also einer wie auch immer gedachten Institution, die den Lauf vorhersieht und - das steckt zwar nicht im Wort, aber in der üblichen Anwendung des Wortes - Entscheidungen so trifft, dass die Entwicklung planmäßig ablaufen kann.

Wo Philosophen, die dem Fortschrittsdenken verpflichtet sind, Vorhersagen für die Zukunft machen, sind dies Extrapolationen aus der Vergangenheit. So beschreibt Karl Marx mit "ehernen Gesetzen" der Geschichte nicht etwa eine Wiederholung oder ein Gleichbleiben des aus der Vergangenheit Bekannten, sondern eine Weiterentwicklung, deren Zielrichtung sich aber aus der Vergangenheit ermitteln lässt.

[Bearbeiten] Alternative geschichtsphilosophische Konzepte

[Bearbeiten] Kulturpessimismus

Dem Kulturoptimismus des (ständigen) Fortschritts der Menschheitszivilisation steht der Kulturpessimismus derer gegenüber, die einen ständigen Abstieg von einem als gut oder paradiesisch empfundenen Urzustand zu erkennen glauben. Kulturpessimisten gibt es aus christlicher Sicht (siehe Paradies) ebenso wie aus einer Hochachtung des "edlen Wilden" ("bon sauvage") im Gegensatz zum verderbten zivilisierten Menschen. "Zurück zur Natur" ist einer der Schlachtrufe. Auch Bewunderer der Antike wie der dem Faschismus nahestehende Kulturphilosoph Julius Evola (Buchtitel "Inmitten von Ruinen", womit die antiken Ruinen gemeint sind) zählen zu denen, die im "Zurück!" eine moralische Verbesserung der Menschheit erhoffen (siehe auch Dekadenz; Goldenes Zeitalter).

[Bearbeiten] Gleich bleibende Verhältnisse

Eine andere geschichtsphilosophische Sicht glaubt, dass die Verhältnisse - zumindest mit einiger Abstraktion - immer gleich bleiben. Daraus folgt, dass die Vertreter dieser Sichtweise davon überzeugt sind, dass man aus der Geschichte empirisch allgemeine Gesetze ableiten kann, die zeitlos gültig sind. Einer der bekanntesten Denker dieser Richtung ist Niccolò Machiavelli. Aber auch alle empirischen Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass zumindest Teile der untersuchten sozialen Strukturen und ihrer Gesetzmäßigkeiten auch für die Zukunft erhalten, also konstant, bleiben.

[Bearbeiten] Zyklischer Verlauf der Geschichte

Wiederum eine andere geschichtsphilosophische Vorstellung ist die vor allem in östlichen, d.h. von Indien beeinflussten, Ländern vorherrschende Vorstellung, Geschichte laufe zyklisch ab. Nach dieser Vorstellung gibt es weder Fortschritt zum Guten noch ein Abgleiten ins Schlechte, aber auch keinen Stillstand, sondern eine kreisartige Bewegung. Geschichte verändert sich ständig, kommt aber wieder da heraus, wo sie begonnen hat.

[Bearbeiten] Kritische Zeitenwende

Aus Erwägungen der Systemtheorie stammt der Begriff der Globalen Beschleunigungskrise, der von dem Physiker Peter Kafka geprägt wurde. Danach führt ein sich beschleunigender Fortschritt mit sehr schnellem und global vereinheitlichtem Strukturwandel zwangsläufig in eine instabile Gesamtlage der menschlichen Zivilisation und der menschenfreundlichen Biosphäre. Diese Sichtweise ist jedoch nicht kulturpessimistisch, weil die Krise nicht als unausweichlicher Niedergang und Untergang verstanden wird, sondern als ein singulärer Wendepunkt in der Geschichte des Fortschritts, an dem die "Anführer" der Evolution - die Menschheit - wahrscheinlich zu einer zukunftstauglicheren Neuorientierung in den Leitideen ihrer Zivilisation finden.

[Bearbeiten] Siehe auch

wikt:
Wiktionary
Wiktionary: Fortschritt – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme und Übersetzungen

technischer Fortschritt, Produktivitätsfortschritt

[Bearbeiten] Zitate

  • Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts. - Theodor W. Adorno (Fortschritt, 1962)
  • Ist es ein Fortschritt, wenn ein Kannibale Messer und Gabel benutzt? - Stanisław Jerzy Lec
  • Der Begriff 'Fortschritt' allein setzt bereits die Horizontale voraus. Er bedeutet ein Weiterkommen und kein Höherkommen. - Joseph Roth
  • Der vernünftige Mensch paßt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab. - George Bernard Shaw
  • Fortschritt bedeutet, daß wir immer mehr wissen und immer weniger davon haben. - Josef Meinrad
  • Der materielle Fortschritt befriedigt keines der Bedürfnisse, die der Mensch wirklich hat. - Winston Churchill
  • Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt. - Albert Einstein
  • Fortschritt ist Rückkehr zur Vernunft. - Bertolt Brecht
  • Fortschritt ohne Abweichung von der Norm ist nicht möglich - Frank Zappa

[Bearbeiten] Literatur

  • Mark Blaug: Economic Theory in Retrospect. 5. Aufl., Cambridge 1997, S. 129 ff. ISBN 0-521-57701-2 (kritische Betrachtung der Auffassung Ricardos zum technischen Fortschritt).
  • Hubert Cancik: Die Rechtfertigung Gottes durch den „Fortschritt der Zeiten“. Zur Differenz jüdisch-christlicher und hellenisch-römischer Zeit- und Geschichtsvorstellung [1983], in: ders., Antik — Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. von Richard Faber, Barbara von Reibnitz und Jörg Rüpke, Stuttgart / Weimar 1998, S. 25-54.
  • Hans-Günter Funke: Zur Geschichte Utopias. Ansätze aufklärerischen Fortschrittsdenkens in der französischen Reiseutopie des 17. Jahrhunderts, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1985, S. 299-319.
  • Peter Kafka: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise, München Wien 1994. ISBN 3-446-17834-1.
  • Pauline Kleingeld: Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995.
  • Helmut Kuhn / Franz Wiedmann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964 (= Verhandlungen des 7. Deutschen Kongresses für Philosophie, Münster 1962).
  • Till R. Kuhnle: Das Fortschrittstrauma. Vier Studien zur Pathogenese literarischer Diskurse, Tübingen 2005. ISBN: 3-86057-162-1.
  • Rudolf W. Meyer (Hrsg.): Das Problem des Fortschrittes – heute, Darmstadt 1969.
  • Friedrich Rapp: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992.
  • Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006 (analysiert das Aufkommen der Fortschrittsidee in der Geschichtsphilosophie). ISBN 3-7965-2214-9.
  • Robert Spaemann: Unter welchen Umständen kann man noch von Fortschritt sprechen?, in: ders., Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1994, S. 130-150.
  • Ulrich van Suntum: Die unsichtbare Hand. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 2000, S. 117 ff. ISBN 3-540-41003-1 (ökonomisch fundierte Betrachtung des Zusammenhangs zwischen technischem Fortschritt und Arbeitslosigkeit).
  • Pierre-André Taguieff: L'Effacement de l'avenir, Paris 2000. ISBN 2-7186-0498-0.
  • Pierre-André Taguieff:Du Progrès. Biographie d'une utopie moderne, Paris 2001. ISBN 2-290-30864-1.
  • Pierre-André Taguieff: Le Sens du progrès. Une approche historique et philosophique, Paris 2004. ISBN 2-08-210342-0.
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