Modernisierung (Soziologie)
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Modernisierung bezeichnet einen Typus des gesellschaftlichen Wandels, der zu einer zunehmenden Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft gegenüber Veränderungen führt, gleichzeitig aber selber zahlreiche, häufig als Krisen empfundene Umbrüche verursacht. Historisch orientiert sich der Begriff ursprünglich an der Entwicklung der europäischen Geschichte seit der frühen Neuzeit und umfasst insbesondere die Prozesse der Individualisierung, Säkularisierung und Rationalisierung. Im wirtschaftlichen Bereich drückt sich diese Modernisierung am stärksten und am plötzlichsten in Form der Industrialisierung aus.
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[Bearbeiten] Schlüsselereignisse der Modernisierung
Im Geschichtlichen Rückblick erkennt man drei Schlüsselereignisse, die die Moderne in Richtung Individualismus maßgebend geprägt haben. An erster Stelle ist hier die Amerikanische Unabhängigkeitsbewegung zu nennen. Sie kämpft um nationale Selbstbestimmung nach Außen und greift die nationale Frage als erstes von vielen Bewegungen auf. Die Nationalstaatsgründung ist ein Leitthema der Moderne und gleichzeitig einer von vielen Schritten in die Moderne. Als zweites ist die bürgerliche Revolution in Frankreich zu nennen. Sie setzt die Ideen der Aufklärung um und macht ihren Schritt unter dem Gesichtspunkt der "liberalen Frage": Volkssouveränität und Verfassung sind nur einige der Errungenschaften des um politische Selbstbestimmung kämpfenden liberalen Bürgertums, die zur Errungenschaft und Eigenschaft der soziologischen Moderne werden. An dritter Stelle kann man die Industrielle Revolution in England als maßgebendes Ereignis der Moderne auffassen: Neben Volkssouveränität und Verfassung ist die Sicherung des Eigentums eine entscheidende Eigenschaft der Moderne. Eigentum und Individualismus führen hier zwar einerseits zur Sozialen Frage aber leiten anderseits die Entfaltung der wirtschaftlichen Produktionskräfte ein, die für die Moderne so Elementar sind. Arbeit, Boden und Kapital bekommen durch die Industrielle Revolution eine völlig neue Bedeutung und tragen zu dem Charakter der Moderne ebenfalls maßgeblich bei.
Bereits im Zeitalter der Moderne betrachtet man auch noch ein weiteres Ereignis als Schlüsselereignis der Modernisierung. Und zwar kann man die bolschewistische Oktoberrevolution als Modernisierung in Richtung Kollektivismus betrachten, wenn man die oben genannten Ereignisse im Gegensatz dazu als Modernisierung in Richtung Individualismus bezeichnet. Im Jahre 1917 besteht in Russland die "demokratische Frage". Erst ist es unklar, wie das politische System aussehen soll, ob es den westlichen Weg des Individualismus geht oder ein Staatssystem anderer Prägung sein soll, das einen anderen Weg in die Moderne beschreitet. Schließlich kommt es durch die Machtübernahme der bolschewistischen Bewegung zu der Beschreitung dieses Weges. Der Gegensatz der modernen Systeme im Westen und im Osten führen schließlich zur Systemkonkurrenz der beiden modernen Gebilde "Individualismus" und "Kollektivismus",
[Bearbeiten] Glanz und Elend der Modernisierung
Seit der Aufklärung und ihrem dem Fortschritt verpflichteten Denken hat das Moderne oft positive Beiklänge, nicht unähnlich dem jüngeren Schlagwort Globalisierung. Bereits aber das durchaus moderne Denken der Romantik hat im frühen 19. Jahrhundert kritisch die Folgen der Rationalisierung behandelt (typisch dafür: die romantische Ironie). Die Kehrseite der Modernisierung (z.B. Pauperismus) wird ab der Mitte desselben Jahrhunderts auch vielfach in den gesellschaftlichen Diskurs einbezogen, wodurch das Wort ambivalente Züge bekam. Zugespitzt zum Widerspruch hat dann Karl Marx darauf seine Revolutionstheorie fußen lassen.
Weil Modernisierung im alltäglichen Sprachgebrauch oft positiv besetzt ist, wird der Begriff gerne für die Politik von Verbänden benutzt. Da jedoch eine Automatisierung von Herstellungsprozessen den Verlust von Arbeitsplätzen nach sich zieht, weckt das Wort auch feindselige Reaktionen betroffener sozialer Gruppierungen.
[Bearbeiten] Soziologie
Bereits Klassiker der Soziologie befassten sich mit Aspekten der Modernisierung, wenngleich nicht immer unter diesem Schlagwort. So hat Tönnies das Wort vermieden, um – gestützt auf seine Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft – eine Theorie der Neuzeit zu entwickeln. Doch bereits bei Max Weber beginnt dann das Wort Modernisierung auch in der Soziologie mehrdeutig zu werden - zum Teil bis heute.
Im Strukturfunktionalismus wird Modernisierung strenger und wertungsneutral aufgefasst. Dabei hauptsächlich als zunehmende soziale Differenzierung (so am Beispiel Japans bei Marion Levy), nicht selten freilich als unumkehrbarer sozialer Wandel.
Ausgangs des 20. Jahrhunderts wurde (ursprünglich in der deutschen Soziologie, besonders von Ulrich Beck) das Schlagwort von der reflexiven Modernisierung (auch als reflexive Moderne) geprägt, um das Aufkommen einer nicht-traditionellen Kritik an ihr mit ihren eigenen Mitteln zu bezeichnen – im Grunde eine Wiederaufnahme einer fast 200-jährigen Debatte, bei vielen Benutzern aus Unkenntnis der Geistesgeschichte aber als innovativ dankbar aufgegriffen.
[Bearbeiten] Literatur
- Frank Borschel: Industrialisierung und Globalisierung im 20. Jahrhundert: ursprüngliche Akkumulation und nachholende Modernisierung in der Begriffswelt von Karl Marx - zur Geschichte der Modernisierung im 20. Jahrhundert. Berlin: Wünsche, 2005.
- Andreas Groh: Die Gesellschaftskritik der politischen Romantik : eine Neubewertung ihrer Auseinandersetzung mit den Vorboten von Industrialisierung und Modernisierung. Bochum: Winkler, 2004.
- Reinhard Kößler: Transformation oder Modernisierung?: zur Konzeptionalisierung gesellschaftlicher Umbrüche, nicht nur in Osteuropa. Magdeburg: Inst. für Soziologie, 2004.
- Dietrich Harth: Zwischen Restauration und Modernisierung: zur Literaturgeschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Hagen: Fernuniv., 2004.