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Soziale Frage

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Begriff Soziale Frage bezeichnet die sozialen Missstände, die zur Zeit der Industriellen Revolution auftraten, also dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. In England war der Beginn dieses Übergangs etwa ab 1750 zu verzeichnen, in Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Schon geraume Zeit zuvor kristallisierte sich seinerzeit dramatisches Elend großer Bevölkerungsgruppen heraus.

Kernprobleme der Sozialen Frage waren die Armut und Existenzunsicherheit von Bauern, ländlichem Gesinde, Arbeitern und kleinen Angestellten.

Inhaltsverzeichnis

Soziale Frage im 19. Jahrhundert

Merkmale

Die Soziale Frage ist meistens mit dem raschen sozialen Abstieg von vielen ohnehin wirtschaftlich schwachen sozialen Gruppierungen verbunden. Die zwei Schlüsselmerkmale waren dabei ein sich beschleunigendes Bevölkerungswachstum sowie die Reformfolgen zumal der Bauernbefreiung und der Gewerbefreiheit.

Die überwiegend noch auf dem Lande lebende Bevölkerung wuchs in Europa nach 1815 aus noch nicht vollständig geklärten Ursachen ungewöhnlich stark an. Gründe dafür können in der gesamteuropäischen Klimaerwärmung liegen, die sicherere Ernten ab dem Ende der vielhundertjährigen „Kleinen Eiszeit“ in den 1780er Jahren ermöglichte. Außerdem waren sie Folge einzelner, vor allem medizinischer und hygienischer Fortschritte, z.B. nach der Einführung der Pockenimpfung durch Edward Jenner 1796 und soliderer chirurgischer Ausbildung, zunächst für die Militärchirurgie unter Napoleon I.

Die Bauernbefreiung durch Aufhebung der Leibeigenschaft erzwang von den Landwirten eine Abgeltung alter Fronlasten, die die nunmehr „freien“ Bauern auf zu kleinen Höfen beließ und in die Verschuldung trieb, so dass sie durch das so genannte Bauernlegen aus ihrem Besitz gekauft wurden. Die Aufhebung des Zunftzwangs führte zum Anstieg der Gesellenzahl, sinkenden Löhnen im Handwerk und steigender Arbeitslosigkeit, zum „Handwerksburschenelend“.

Die Soziale Frage schließt die Suche nach Ursachen und Lösungen ein. Politische und wissenschaftliche Versuche, das Phänomen auf eine einzige Ursache zurückzuführen, haben sie stets begleitet und können regelmäßig ihren ideologischen Ursprung nicht verleugnen.

Entstehung und Problemdruck

Der Begriff, der erstmals von Gerhard West zitiert wurde, setzte sich etwa ab 1830 langsam durch und umschreibt zunächst die mit dem Bevölkerungs- und Städtewachstum entstehende Verelendung, dann die mit dem Gesellenüberschuss (daher auch der „Handwerksburschenkommunismus“ von Wilhelm Weitling) und den Arbeitsbedingungen der Frühindustrialisierung (12-Stunden-Tag, Kinder- und Frauenarbeit) verbundenen Konflikte. Die soziale Krise wurde vielfach fühlbar (Unterernährung und frühes Siechtum, Untergang kleiner Wirtschaftsbetriebe – Höfe, Einzelhandel, Handwerk –, Wohnungsnot in den anwachsenden Großstädten, starke Binnenmigration, neue Kriminalitätsformen).

Hierbei ist zu beachten, dass es signifikante Armut auch schon vorher gegeben hat, sowie auch - vor allem kirchliche und kommunale - Versuche ihrer Milderung. Wichtig wurden aber jetzt ihre neuartigen Formen und die Tendenz, dass „Armut“ nach der die Monarchien und Kirchen beunruhigenden Französischen Revolution 1789 in der öffentlichen Meinung und in alten und neuen Wissenschaften (Jurisprudenz, Nationalökonomie, Soziologie) entsprechend thematisiert wurde.

Die Brisanz der Sozialen Frage kann man wie folgt erklären: Es war ein als völlig neuartig empfundener und radikaler sozialer Wandel von ganzen damit unerfahrenen Gesellschaften. Die europäische spätfeudale Agrargesellschaft mit handels- und gewerbekapitalistischen Städten als deren überregionalen Märkten (Max Weber) wandelte sich zu einer kapitalistischen - erst merkantilistischen, dann industriellen - Gesellschaft (siehe: Industrielle Revolution).

Die allmähliche Auflösung der traditionellen sozialen Gemeinschaften wie etwa der Großfamilie oder der Bindung an den Grundherrn zerriss auch die traditionell engverflochtenen sozialen Netze. Die Bevölkerungsexplosion führte zu verstärkter Landflucht in die Städte und einem Überangebot an Arbeitskräften. Dieses Überangebot drückte das Lohnniveau, so dass mehrere Mitglieder einer Familie eine Lohnarbeit suchen mussten; die dadurch auf den Arbeitsmarkt drängenden Frauen und Kinder senkten das Lohnniveau weiter, Arbeitszeiten von 12 und mehr Stunden pro Tag, sowie Nacht- und Sonntagsarbeit wurden erzwingbar, auf Gesundheit (chronische Vergiftungen, Silikose) und betrieblichen Unfallschutz wurde kaum geachtet. Folge dieser Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse war eine umfassende Verelendung: Erbärmliche Wohnverhältnisse (Slums, verwanzte Mietskasernen, oft nur ein Zimmer pro Familie, tagsüber Schlafburschen in den gleichen Betten), infolgedessen ein Rückgang der Familienbindung und -bildung mit ganz neuartigen persönlichen Vereinzelungen, Verrohung der Sitten, Schulmangel, auch Kinderprostitution, dazu zunehmende Prostitution überhaupt mit ausgebauter Zuhälterei als eigene Subkultur, Kreditwucher, Lebensmittelverfälschungen, städtische Bandenbildung, insgesamt also körperliche und psychische Schäden (Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, „Englische Krankheit“ durch Vitaminmangel, Krätze, Verlausung, Trunksucht) und sinkende Lebenserwartung.

Lösungsversuche

Zur Lösung dieser Probleme engagierten sich bäuerliche, bürgerliche, kirchliche Initiativen und nach ihrem Aufkommen dann sozialistische (marxistische) Bewegungen; dann auch der Staat und die Wissenschaften.

Gesellschaft

Neben zunächst den neuzeitlichen Genossenschaften und z.B. dem katholischen Kolping-Bund wurden bald die Gewerkschaften aktiv, schließlich dann auch Parteien (im Deutschen Reich u.a. die SPD). Aus der Sicht der Arbeiterbewegung war die Soziale Frage ein Resultat des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit (siehe Marxismus).

Die Unternehmen, in deren Betrieben die Arbeiter angestellt waren, versuchten deren Lage zu verbessern, indem sie ihnen günstige Wohnungen stellten (Werkwohnungsbau), zuweilen auch werkärztliche Dienste einrichteten und die Löhne etwas anhoben.

Auch die parallel anwachsende Frauenbewegung (Lohnangleichung, Kampf gegen die Prostitution), nach 1900 auch die Jugendbewegung (Hinwendung aus grauer Städte Mauern zur Natur) waren Antworten auf die Soziale Frage, alle mit durchaus voneinander abweichender Strategien der Problembekämpfung.

Staat

Die staatliche Sozialpolitik des Deutschen Reiches versuchte eine Entschärfung dieser Konflikte durch Sozialreformen. Erste konkrete Lösungsansätze sind in den Sozialgesetzgebungen Otto von Bismarcks zu finden, die 1883 mit dem Krankenversicherungsgesetz ihren Anfang nahmen. Dieser sozialpolitische Ansatz wurde alsbald von anderen Staaten übernommen (kopiert).

Aus historischer Sicht ist festzuhalten: „Eine positive Lösung der sozialen Frage stellt Bismarcks Sozialgesetzgebung dar. Bismarck erkennt das Kernproblem: Die Unsicherheit der Existenz des Arbeiters“.[1] [2]

Auch die Sozialreformen unter Wilhelm II. trugen zur Linderung bei.

Wissenschaften

In den Wissenschaften wandten sich zumal die Nationalökonomie (vgl. den Kathedersozialismus) und die Sozialmedizin dem Problemfeld zu. Vgl. auch „Die soziale Frage bis zum Weltkriege“ (zuletzt Berlin/New York 1982) des ersten deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies.

Kirchen

Im Jahr 1891 thematisierte Papst Leo XIII. in seiner Enzyclica "Rerum novarum" (Über die Arbeiterfrage) die sozialen Verwerfungen und Missstände und benannte dabei zugleich Lösungswege. [3]

Soziale Frage im 20. Jahrhundert

Ende des Schlagworts von der „Sozialen Frage“

Die großen Krisen ab 1914 (Erster Weltkrieg 1914-18, die Hyper-Inflation bis 1923, die „Weltwirtschaftskrise“ ab 1929, die populistische Verbrechensherrschaft ab 1933 und der Zweite Weltkrieg (1939-45)) wurden nicht mehr als „Soziale Frage“ diskutiert. Der Ausbau des Sozialstaats und die Anhebung des allgemeinen Wohlstandniveaus nach 1950 trugen maßgeblich dazu bei, dass die „Soziale Frage“ als Arbeiterfrage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest in den Industrieländern als Begriff in Vergessenheit geriet.

In seiner Pfingsbotschaft im Jahr 1941 (über die soziale Frage) erinnerte Papst Pius XII. an die Kernforderungen jener Enzyclica und ermahnte eindringlich alle Menschen und Nationen, schnellstmöglich nach Lösungen zu suchen:

[...] „Doch die Zukunft hat ja ihre Wurzeln in der Vergangenheit, und die Erfahrung der letzten Jahre muß Uns Lehrmeisterin sein in Voraussicht kommender Verhältnisse. Darum glauben Wir die heutige Gedächtnisfeier benützen zu sollen, um im Geiste Leos XIII. und seine für den anhebenden sozialen Ablauf der Zeiten geradezu seherischen Gedanken entwickelnd, zu drei Grundwerten des Gemeinschafts- und Wirtschaftslebens weitere Richtlinien sittlichen Gehaltes zu geben. Die drei Grundwerte, die sich gegenseitig bedingen, durchdringen und fördern, sind die Nutzung der Erdengüter, die Arbeit und die Familie.

Nutzung der Erdengüter
"Rerum novarum" stellt Grundsätze über das Eigentum und den Lebensunterhalt des Menschen auf, die durch den Zeitablauf nichts von ihrer urwüchsigen Kraft verloren, und die noch heute, nach 50 Jahren, ihre lebendige und lebenspendende Fruchtbarkeit bewahrt und vertieft haben. Wir selbst haben in Unserem Rundschreiben an die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Nordamerika "Sertum laetitiae" die Öffentlichkeit auf die Wurzel jener Lehren hingewiesen; sie liegt, wie Wir sagten, in der unumstößlichen Forderung, "daß die Güter, die Gott für die Menschen insgesamt schuf, im Ausmaß der Billigkeit nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Liebe allen zuströmen". Inder Tat hat jeder Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen von Natur grundsätzlich das Recht der Nutzung an den materiellen Gütern der Erde, wenn es auch den Bemühungen der Menschen und den Rechtsformen der Völker überlassen bleibt, die Verwirklichung dieses Rechtes näher zu regeln. Dieses grundsätzliche individuelle Nutzungsrecht kann durch nichts, auch nicht durch andere unbezweifelbare friedliche Rechte auf die äußeren Güter aufgehoben werden. Denn zweifellos fordert zwar die gottgegebene Naturordnung das Privateigentum und den freien zwischenmenschlichen Güterverkehr durch Tauschen und Schenken, sowie die Ordnungsbefugnis der öffentlichen Gewalt über diese beiden Einrichtungen. Trotz alledem aber bleibt doch dies alles dem natürlichen Zweck der Erdengüter unterstellt und darf keineswegs von jenem ursprünglichen Nutzungsrecht aller an ihnen losgelöst werden. Es hat vielmehr dazu zu dienen, eine zweckentsprechende Verwirklichung dieses Rechtes zu ermöglichen. So allein kann und so soll erreicht werden, daß Besitz und Gebrauch der materiellen Güter dem menschlichen Zusammenleben fruchtbaren Frieden und lebensvolle Festigkeit, nicht kampf- und neidgeladene, nur auf dem erbarmungslosen Spiel von Macht und Ohnmacht beruhende, stets schwankende Beziehungen geben.
Das naturgegebene Nutzungsrecht an den Erdengütern steht in engster Beziehung zur Persönlichkeitswürde und zu den Persönlichkeitsrechten des Menschen. Es gibt mit den genannten Auswirkungen dem Menschen die sichere materielle Grundlage, die ihm für die Erfüllung seiner sittlichen Pflichten von höchster Bedeutung ist. Denn durch die Wahrung jenes Nutzungsrechts wird der Mensch instand gesetzt, in rechtmäßiger Freiheit einen Umkreis dauernder Obliegenheiten und Entscheidungen auszufüllen, für die er unmittelbar dem Schöpfer verantwortlich ist und die gleichzeitig seine persönliche Würde sicherstellen: er hat nämlich die ganz persönliche Pflicht, sein leibliches und geistiges Leben zu erhalten und zu entwickeln, um so das religiös-sittliche Ziel zu erreichen, das Gott allen Menschen gesetzt und als oberste Norm gegeben hat, eine Norm, die vor allen anderen Pflichten immer und in jeder Lage bindet.
[...] Auch die nationale Wirtschaft als die Wirtschaft der in der staatlichen Gemeinschaft verbundenen wirtschaftenden Menschen hat keinen anderen Zweck, als dauernd die materielle Grundlage zu schaffen, auf der sich das volle persönliche Leben der Staatsbürger verwirklichen kann. Wird dies erreicht und dauernd erreicht, dann ist ein solches Volk in Wahrheit wirtschaftlich reich, eben weil die umfassende Wohlfahrt aller und somit das persönliche Nutzungsrecht aller an den irdischen Gütern nach dem vom Schöpfer gewollten Zweck verwirklicht ist.
Daraus, geliebte Söhne und Töchter, könnt ihr aber auch sehr deutlich sehen, daß der wirtschaftliche Reichtum eines Volkes nicht eigentlich in der Fülle der in ihrem Wert rein materiell zählbaren Güter an sich liegt, sondern darin, daß diese Fülle wirklich und wirksam die hinreichende materielle Grundlage bildet für eine berechtigte persönliche Entfaltung seiner Glieder. Wäre dies nicht oder nur sehr unvollkommen der Fall, dann wäre der wahre Zweck der nationalen Wirtschaft nicht erreicht. Trotz der etwa verfügbaren Güterfülle wäre ein solches um seinen Anspruch betrogenes Volk keineswegs wirtschaftlich reich, sondern arm. Wo aber die genannte gerechte Verteilung wirklich und dauernd erreicht wird, kann ein Volk auch bei geringerer Menge verfügbarer Güter ein wirtschaftlich gesundes Volk sein. Diese Grundgedanken über den Reichtum und die Armut der Völker euerer Beachtung zu empfehlen, scheint Uns heute besonders am Platze zu sein, wo man allzu geneigt ist, Armut und Reichtum der Völker ganz falsch zu messen, nämlich nach rein quantitativen Maßen des verfügbaren Raumes und des Umfangs der Güter. Wo man aber den Zweck der nationalen Wirtschaft richtig sieht, wird von ihm ein Licht ausstrahlen, das den Ehrgeiz der Staatsmänner und Völker von selbst in eine Bahn lenkt, die nicht dauernd Lasten an Gut und Blut fordert, sondern Früchte des Friedens und allgemeinen Wohlstandes einbringt. [...]“
[4]

Neue soziale Frage

In Deutschland begann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der damaligen wirtschaftlichen Krise, insbesondere der rasch zunehmenden Massenarbeitslosigkeit [5], eine Diskussion unter dem Stichwort Neue soziale Frage. Ausgangspunkt für diese Debatte war die These, dass die zur Zeit der Industriellen Revolution entstandene Soziale Frage durch den Auf- und Ausbau des Sozialstaates weitgehend gelöst sei [6]. Im modernen Sozialstaat hätten sich jedoch neue Formen der strukturellen Armut und mangelnden gesellschaftlichen Teilhabe ergeben, die es zu beheben gelte (z. B. bei Nichtorganisierten, Alten, Alleinerziehenden usw.), und mit der parteipolitischen Argumentation gegen die SPD, dass sie das übersähe, weil sie auf die gar nicht mehr aktuelle Notlage der Industriearbeiterschaft fixiert sei.[7]

Soziale Frage im 21. Jahrhundert

Erst in den Jahren um die Jahrtausendwende[8] wurden jene sozialen Verwerfungen aufgegriffen und thematisiert, die - weltweit - als Begleiterscheinung der sich ab Mitte der 1970er Jahre rasant entwickelnden Computer-Technologie (der "Digitalen Revolution" bzw. "Dritten industriellen Revolution") zu beobachten sind: Massenarbeitslosigkeit, Armut und Verslumung auch unter Erwerbstätigen (Working Poor). Hinzu kommen ferner weitere Formen mangelnder Teilhabe (sozialer Exklusion), die von Einigen als Gefährdung der politischen Stabilität wahrgenommen werden - vgl. z.B. Zweidrittel-Gesellschaft, Parallelgesellschaft.

In der politischen Debatte in Deutschland lautet das Credo hinsichtlich der "Sozialen Frage unserer Zeit" gegenwärtig, "Bildung"[9] bzw. "die Frage des Zugangs und der Teilhabe am Wissen" [10] sei die Soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Unterdessen sind in den staatlichen Sozialleistungen (vgl. Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld) Ausgaben für Bildung nicht vorgesehen. Einer (vorläufigen) Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge[11] waren hiervon im Mai 2006 beispielsweise etwas mehr als 7,1 Millionen Empfänger von Leistungen nach dem SGB II betroffen (davon ca. 5,2 Millionen ALG-II-Empfänger sowie rund 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche als Empfänger von Sozialgeld[12]), so dass zur Zeit - bezogen auf die Einwohnerzahl - rund jeder zehnte Bundesbürger von Leistungen nach dem SGB II abhängig und somit vom Zugang und der Teilhabe am Wissen ausgeschlossen ist.

Zitate

  • Reichskanzler Otto von Bismarck in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag am 20. März 1884:
„[...] der eigentliche Beschwerdepunkt des Arbeiters ist die Unsicherheit seiner Existenz; er ist nicht sicher, dass er immer Arbeit haben wird, er ist nicht sicher, dass er immer gesund ist, und er sieht voraus, dass er einmal alt und arbeitsunfähig sein wird. Verfällt er aber der Armut auch nur durch längere Krankheit, so ist er darin nach seinen eigenen Kräften vollständig hilflos, und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine eigentliche Verpflichtung außer der ordinären Armenpflege nicht an, auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat. Die ordinäre Armenpflege lässt aber viel zu wünschen übrig [...].“ [2]
„Wir sind der festen Ansicht, dass die gegenwärtige Gesetzgebung allen berechtigten Anforderungen der Humanität genügt und in bezug auf die Interessen der Industrie und auf die Wohlfahrt der Arbeiterbevölkerung die Grenze bildet, welche nicht überschritten werden darf. Es scheint doch vernünftiger, die Kinder angenehme Arbeit verrichten zu lassen, als sie dem Müßiggang und der Verwilderung preiszugeben. Ein Gesetz, welches die Arbeit der Kinder im schulpflichtigen Alter ganz verbietet, würde Sorge und Not vieler Arbeiterfamilien verlängern und die Lebenshaltung verschlechtern. Unter diesen Verhältnissen würden auch die geschützten Kinder in ihrer körperlichen Entwicklung durch ungenügende Nahrung mehr leiden als durch Fabrikarbeit [...].“
  • Zitat aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 441/90, Urteil vom 1. Juli 1998):[13]
„Der Mensch wird in seiner existentiellen Befindlichkeit in Frage gestellt, wenn er - aus welchen Gründen auch immer - einer Ordnung ausgesetzt ist, in der für ihn der Zusammenhang zwischen abverlangter Arbeit und angemessenem (gerechtem) Lohn prinzipiell aufgehoben ist. Die dann in Betracht kommende Feststellung von Ausbeutung eines zum Objekt degradierten Menschen ist unserer Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert geläufig. Sie ist auch in die Sozialethik der Kirchen aufgenommen. [...] Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 13. Januar 1987 (BVerfGE 74, 102 <120 f.> ) die enge Beziehung zwischen Arbeitspflicht und Menschenwürde anerkannt und ungerechte Arbeit ausgeschlossen.“ [...]
  • Lohn unter Sozialhilfe-Niveau ist (verfassungs)rechtlich unzulässig.
    Sozialgericht Berlin, Urteil vom 27. Februar 2006 (Az: S 77 AL 742/05)[14], aus den Entscheidungsgründen:
    [...] „Aus dem Würdegebot und dem Sozialstaatsprinzip folgt dabei, dass Maßstab nicht das pure Überleben ist (BVerfG Beschluss vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05)[15], sondern dass das soziokulturelle Existenzminimum gesichert sein muss. Das so verstandene Existenzminimum hat zu gewährleisten, dass auch wesentliche persönliche, familiäre, soziale und kulturelle Bedürfnisse auf bescheidenem Niveau befriedigt werden und auf dem Niveau dieses Existenzminimums lebende Personen in der Umgebung von nicht leistungsbeziehenden Mitmenschen ähnlich wie diese leben können (BVerwG Urteil vom 11.11.1970, Az. V C 32/70). Der Preis der Ware Arbeitskraft, der als Arbeitsentgelt durch den Arbeitgeber zu leisten ist, darf unter diesen verfassungsrechtlichen und staatsvertraglichen Prämissen keinesfalls unter das soziokulturelle Existenzminimum des Arbeitnehmers sinken, wenn dieser eine durchschnittliche Arbeitsleistung vollschichtig erbringt. Inwieweit der Markt und die Produktivität eines Betriebes oder Wirtschaftsbereiches im Vergleich zum übrigen Markt etwa angesichts einer extremen, strukturellen Massenarbeitslosigkeit eine andere Preisgestaltung zulassen oder zu gebieten scheinen, ist angesichts der Wertentscheidung des Grundgesetzes für den Sozialstaat, aber auch des einfachgesetzlichen Gesetzgebers, wie sie sich in der Ratifizierung der EuSC widerspiegelt, irrelevant. Die Würde des Einzelnen würde verletzt, könnte dieser aus einer durchschnittlichen vollschichtigen Arbeitsleistung gerade sein physisches Überleben sichern, oder selbst das nicht. Er würde in seinem Wert unzulässig auf ein pures Marktobjekt reduziert, weil ausschließlich die bloße Erhaltung seiner Arbeitskraft oder noch weniger: der bloße durch geringe Nachfrage und übergroßes Angebot bestimmte Preis, nicht aber sein Wert entscheidendes Entgeltkriterium wäre. Sein Menschsein, sein Subjektsein, würde völlig bedeutungslos. Daher kann die von der bundesdeutschen Verfassungs- und Rechtsordnung vorgegebene unterste Grenze für die Entlohnung, die auch die Tarifparteien bindet, nicht die Grenze zum "Hungerlohn" sein.“ [...]

Literatur

Monographien

  • Ferdinand Tönnies: Die soziale Frage, [1909, zuletzt 1982: Die soziale Frage bis zum Weltkriege], Berlin/New York: de Gruyter

Siehe auch

Weblinks

Quellen

  1. a b Bruno Huhnt, Industrielle Revolution und Industriezeitalter, Seite 73, unter Hinweis auf die Ausführungen Otto von Bismarcks zur Begründung seiner sozialpolitischen Gesetzgebung, Reden im Deutschen Reichstag am 15. und 20. März 1884; Hg.: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, 1966
  2. a b Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Bibliothek - Münchener Digitalisierungszentrum (MDZ), Reichstagsprotokolle, Bd. 082, 05.Legislaturperiode 04.Session 1884, 9. Sitzung am Donnerstag, 20.03.1884 (Sitzungsbeginn: Seite 133), Rede Otto von Bismarck: Seite 161 ff., Seite 165
  3. Papst Leo XIII: Enzyklika RERUM NOVARUM (1891) oder Online-Texte zur katholischen Soziallehre
  4. Pfingstbotschaft 1941, Ansprache seiner Heiligkeit Papst Pius XII. zur Fünfzigjahrfeier des Rundschreibens "Rerum novarum" Papst Leos XIII. über die soziale Frage. (Pfingstsonntag, 1. Juni 1941) oder Online-Texte zur katholischen Soziallehre
  5. Vgl. Werner Bührer: Wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 270: Deutschland in den 70er/80er Jahren, 2001
  6. Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 3., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2003. - Online (Bundeszentrale für politische Bildung)
  7. Heiner Geißler, Die neue soziale Frage, 1976
  8. Vgl. beispielsweise das Kapitel "Gesellschaft im Umbruch"; Sozialwort der Kirchen vom 28. Februar 1997
  9. "Eine Ära geht zu Ende. Das muß auch die Schule lernen und lehren." in: DIE ZEIT Nr. 39/1997
  10. Positionspapier der CDU: "Neue soziale Marktwirtschaft" (PDF-Datei; ca. 1,9 MB)
  11. Bericht der Bundesagentur für Arbeit, Mai 2006, xls-Datei (77 KB)
  12. Vgl. Sozialgesetzbuch II, § 28
  13. Deutsches Fallrecht (DFR): BVerfGE 98, 169 - Arbeitspflicht, Rdnr. 189 ff., 190 f. (Abweichende Meinung des Richters Kruis mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG)
  14. Lohn unter Sozialhilfe-Niveau ist (verfassungs-) rechtlich unzulässig (SG Berlin, Urteil vom 27.02.2006, Az: S 77 AL 742/05)
  15. Online: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.05 (Az.: 1 BvR 569/05)
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