Psychomotorik
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Als Psychomotorik (Psyche: griech.: ψυχή = Seele; Motorik:) bezeichnet man das Zusammenspiel von psychisch-seelisch-emotionalem Erleben und Bewegungserleben bzw. der Motorik des Menschen.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Begriffsdefinition
Die verschiedenen Schulen der Psychomotorik betonen das Zusammenspiel des psychischen Erlebens des Menschen bzw. seiner psychisch-seelisch-emotionalen Entwicklung und der Entwicklung von Motorik und Wahrnehmung. Dabei werden die Einflüsse der sozialen und materiellen Umwelt auf das Gefüge von Psyche und Motorik mitberücksichtigt. Die unterschiedlichen Schulen und Richtungen der Psychomotorik unterscheiden sich in erster Linie hinsichtlich einiger ihrer Grundannahmen über die Entstehung beeinträchtigter Bewegungsabläufe und auffälligen Verhaltens. Ihre theoretische Fundierung ist teilweise unterschiedlich. Die Begründer der Ansätze bedienen sich zur Unterfütterung ihres praktischen Vorgehens jeweils verschiedenster psychologischer, pädagogischer, soziologischer und medizinischer Theoriegebäude. So werden beispielsweise aus Konzepten der psychoanalytischen und kognitiven Psychologie jeweils geeignete Elemente herausgenommen und zur Begründung herangezogen. Die Konzepte der Psychomotorik finden sich auch, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, unter den Begriffen Bewegungspädagogik, Bewegungstherapie, Motopädagogik, Mototherapie, psychomotorischer Therapie etc. Die Psychomotorik ist sowohl ein pädagogisches wie auch ein therapeutisches Konzept.
[Bearbeiten] Erste Entwicklungen der Psychomotorik
Die Entwicklung der Psychomotorik in Deutschland begann Mitte der 1950er Jahre durch den Diplomsportlehrer Dr. Ernst J. Kiphard. Den Begriff Psychomotorik übernahm er von der deutschen Rhythmikerin Charlotte Pfeffer, die 1938 ihren ersten Aufsatz "Psychomotorische Therapie" veröffentlichte. In seiner jahrelangen Arbeit mit verhaltensauffälligen, insbesondere beziehungsgestörten und aggressiven Kindern und Jugendlichen wurde sichtbar, dass sein Sportangebot eine positive Wirkung auf die emotionale Entwicklung der Kindern hatte. Im Hinblick auf diese therapeutische und unterstützende Wirkung begann der Sportlehrer sein Bewegungsangebot systematisch auszubauen. "Kiphard führt motorische und sensomotorische Auffälligkeiten bei Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen, auf eine minimale cerebrale Dysfunktion zurück. Die hier entstehenden Defizite im Bereich Wahrnehmung und Bewegung führen seiner Ansicht nach zu sogen. Sekundärstörungen wie motorischer Unruhe, Hyperaktivität, emotionaler Labilität, gehemmtem und ängstlichem Verhalten, Mangel an Motivation, sowie zu Störungen in Ausdauer und Konzentration. Auch wird die Fähigkeit zu einer angemessenen Steuerung des eigenen Verhaltens im Allgemeinen dadurch beeinträchtigt." Hier sieht Dr. Kiphard den Einsatz der Psychomotorischen Übungsbehandlung für notwendig: Motorische Betätigung und die Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und Ängsten sollen zu einer Harmonisierung und Stabilisierung der Persönlichkeit des Kindes führen. Als Lehrstuhlinhaber für Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität Frankfurt hat Kiphard das Konzept der Psychomotorik weiterentwickelt.
[Bearbeiten] Weitere Entwicklungen
Die Psychomotorische Übungsbehandlung nach Kiphard geriet besonders ab Mitte der 1980er Jahre als zu sehr medizinisch-psychiatrisches und defizitorientiertes Konzept in Kritik. Es wurde die Berücksichtigung des "kindlichen Standpunktes" gefordert. Es entstanden neue Schulen der Psychomotorik wie der "Kindzentrierte Ansatz" nach Renate Zimmer und der "kompetenzorientierte Ansatz" nach Friedhelm Schilling. Der "kindzentrierte Ansatz" (kindzentrierte Mototherapie nach Volkamer und Zimmer) weist Parallelen zur nichtdirektiven Spieltherapie nach Virginia Axline auf, und holt seine theoretische Fundierung aus der Persönlichkeitstheorie nach Carl Rogers. Er möchte dem Kind einen Bewegungs- und Sozialerfahrungsraum bieten um selbständig Wege zur Bewältigung seiner emotionalen Schwierigkeiten und seiner Probleme im Bewegungsausdruck zu finden. Durch selbstgesuchte und kaum gesteuerte Bewegungserlebnisse soll das Selbstkonzept des Kindes gestärkt werden. Zentral ist hierbei dass das Kind sich seiner eigenen Wirksamkeit und Handlungsmöglichkeiten bewusst wird. Der Kompetenzorientierte Ansatz, der als Erweiterung der Übungsbehandlung betrachtet werden kann, basiert auf der Annahme, dass Kinder mit Bewegungsstörungen psychische Schwierigkeiten entwickeln, die zur Kompensation dieser mangelnden Kompetenz im Bewegungsverhalten- und Können dienen sollen. Die Aggressivität eines Kindes wird dann z.B. als Kompensation für ein motorisches Problem verstanden. Hier soll die Psychomotorik dazu dienen dem Kind Raum zum nachträglichen Aufbau von Bewegungskompetenzen zu geben. Darausfolgend können Fehlverhaltensweisen vom Kind aufgegeben werden. Theoretische Grundlagen des Ansatzes sind unter Anderem bei der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers und der materialistischen Handlungstheorie Alexeij Leontjews sowie bei Jean Piaget zu finden. Auch der Kompetenzorientierte Ansatz wird häufig für seine immer noch defizitorientierte Sichtweise kritisiert. Anfang der 1990er Jahre formulierte Jürgen Seewald den "Verstehenden Ansatz" der Psychomotorik welcher sich wesentlich auf das psychoanalytische Verständnis vom Menschen stützt. Weiterhin bezieht er sich mit den Grundannahmen seines Ansatzes auf die leibphänomenologische Sichtweise Maurice Merleau-Ponty´s. Seewald entwickelte sogenannte "Leib- und Beziehungsthemen" des Kindes, anhand derer innerhalb der psychomotorischen Therapie Probleme und deren Ursprung beim Kind erkannt werden sollen. Daraufhin kann der Pädagoge/Therapeut dem Kind im psychomotorischen Setting Bewegungs- und Beziehungsangebote machen die langfristig zu einer nachträglichen Verarbeitung und Bewältigung der Probleme führen. Die Leib- und Beziehungsthemen beruhen unter Anderem auf der "Theorie der Psychoszialen Entwicklung" von Erik Erikson. Seewalds Ansatz stützt sich im wesentlichen auf den Beziehungsaspekt. Mitte der 90er Jahre veröffentlichten Rolf Balgo und Reinhardt Voss ihre "Systemische Psychomotorik", basierend auf der Systemtheorie, dem radikalen Konstruktivismus, der Kybernetik 2. Ordnung und dem Autopoesis-Konzept. Sie forderten dazu auf, die Psychomotorische Entwicklung des Menschen als adäquate Anpassung des Kindes auf seine jeweilige materielle und vor allem soziale Umgebung zu verstehen. Zu "behandeln" ist demnach nicht das Kind mit seelischen und motorischen "Auffälligkeiten", sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb derer sich das Kind befindet.
[Bearbeiten] Verwandte Entwicklungen außerhalb Deutschlands (Auswahl)
[Bearbeiten] Jean Ayres
Jean Ayres, eine amerikanische Ergotherapeutin, die dem Kreis der perzeptuell-motorischen Schulen in den USA entstammt, hat die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychomotorik im wesentlichen geprägt. Sie entwickelte in den 1960er Jahre das Konzept von der sensorischen Integration (SI) und erweiterte mit ihrer Forschung im wesentlichen den Kenntnisstand von der menschlichen Motorik und Wahrnehmung und insbesondere deren Wirkungen aufeinander. Die bereits in medizinischen Fachkreisen bekannten Fakten über Anatomie und Funktion des Bewegungsapparates und der Wahrnehmung erweiterte sie im wesentlichen um die Erkenntnis der Wirkungen aufeinander und der untereinander bestehenden Abhängigkeiten.
Die Theorie besagt, das alle Bereiche des Zentralnervensystems, welches sämtliche Informationen die der Körper über Bewegung und Wahrnehmung (Gleichgewicht; Tiefensensibilität; taktile Wahrnehmung; visuelle Wahrnehmung; auditive Wahrnehmung etc.) erhält verarbeitet, integrierend zusammenwirken müssen, um dem Menschen ein verständliches Bild von sich selbst und seiner Umwelt abzubilden welches ihn handlungsfähig macht. Dies ist der Prozess der sensorischen Integration. Er ist Grundlage für alle Lern- und Verhaltensprozesse beim Menschen und läuft unbewusst ab. Der Ansatz geht mit seiner Annahme von einer linearen Verarbeitung davon aus, dass, wenn etwas auf der Ebene des sensorischen Inputs gestört ist, auch alle folgenden Abläufe in ihrer Verarbeitung betroffen sein müssen. Bei Ayres dienen Übungen zur angepassten Bewegung der Verbesserung der sensorischen Integration, das Behandlungsziel ist die Normalisierung und Optimierung neuronaler Prozesse. Ayres entwickelte die Sensorische Integrationstherapie deren Grundlagen vor allem im Bereich der Ergotherapie Bestand haben, jedoch auch eine wissenschaftliche Basis bieten für die Arbeit der Psychomotorik.
[Bearbeiten] Aucouturier und Lapierre
Bernard Aucouturier und André Bruno Lapierre sind Vertreter der sogenannten "Psychomotorischen Praxis Aucouturier", eines tiefenpsychologischen, eigenständigen Ansatzes der Psychomotorik in Frankreich. In Deutschland vertritt diesen Ansatz insbesondere Marion Esser, die sich für eine stärkere Verbreitung und Umsetzung der französischen Schule der Psychomotorik einsetzt.
Aucouturier und Lapierre begründen ihr Konzept auf den Theorien der Psychoanalyse und legen den Fokus ihrer therapeutische Bemühungen auf die motorische Ausdrucksfähigkeit und die Sinnhaftigkeit des kindlichen Handelns. Das Handeln des Kindes wird hier verstanden als Repräsentation des Anderen bzw. dessen was das Kind im Anderen erlebt hat.
[Bearbeiten] Einsatz der Psychomotorischen Therapie; Einsatz von Bewegungspädagogik
Psychomotorik wird im pädagogischen und therapeutischen Zusammenhang insbesondere - und historisch geprägt - z.B. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eingesetzt. Welche "Schule" der Psychomotorik hier ihren Einsatz findet hängt dann im wesentlichen von der ausführenden Fachkraft ab. Die meisten PsychomotorikerInnen verbinden sinnvollerweise die gegebenen Ansätze und mischen psychiatrisch-medizinische Diagnostik und Vorgehensweise mit pädagogischen und tiefenpsychologischen um ganzheitlich an das Kind oder den Jugendlichen heranzugehen und ihm Hilfe auf einer breiten Ebene anbieten zu können. Eine psychomotorische Therapie wird in einigen Bundesländern von den Krankenkassen bezahlt und in psychomotorischen Praxen durchgeführt. Des Weiteren bieten Vereine Psychomotorik an. Psychomotorische Elemente finden sich meist auch innerhalb der Arbeit von PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen und auch von LogopädInnen. Inzwischen gibt es auch in vielen Kindergärten sowie innerhalb des Schulsports - selbstorganisiert oder durch einen Träger von außerhalb durchgeführt- Psychomotorische Angebote. Im heilpädagogischen und Sonderpädagogischen Kontext findet die Psychomotorik traditionell Einsatz in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die Behinderungen (geistig, seelisch, körperlich) haben oder von Behinderungen bedroht sind. Heil- und Sonderpädagogik verstehen sich als Teilbereich der Allgemeinen Pädagogik. Die Klientel, mit der sie sich beschäftigen, stellt jedoch spezifische Ansprüche, die einer besonderen pädagogischen Begleitung bedürfen. Kinder und Jugendliche mit Behinderung können Probleme in den Bereichen Sensorik, Motorik, Emotion, Kommunikation und der Kognition aufweisen. Gerade diese Felder können mit Hilfe pädagogischer Maßnahmen positiv beeinflusst werden. Die Psychomotorik kann in diesem Kontext einen bedeutenden Beitrag sowohl zur Bewegungserziehung als auch zu einer positiven Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit von Menschen mit einer Behinderung leisten. Mit der Absicht, den Kindern und Jugendlichen Ich-, Sozial- und Sachkompetenz zu vermitteln, steht sie im Einklang mit den Zielvorstellung der Heil- und Sonderpädagogik.
[Bearbeiten] Psychomotorik im gesellschaftlichen Kontext
Im gesellschaftlichen Kontext wird dem Thema Bewegung innerhalb der kindlichen Entwicklung immer mehr Bedeutung zugeschrieben. Zum Einen gibt es inzwischen zahlreiche entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse, welche die Bedeutung der Bewegung und Wahrnehmung für eine stabile frühkindliche Entwicklung in den Bereichen Emotionalität, Sprachentwicklung, Sozialverhalten und Kognition aufzeigen. Zum Anderen bewirken gesellschaftliche Entwicklungen wie zunehmende Verstädterung mit einer steigenden "Verinselung" von Kindheit, Kinderarmut, Medienkonsum von Kindern, Ernährung etc. eine Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten für Kinder.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Balgo, Rolf (1998): Bewegung und Wahrnehmung als System. Systemisch-Konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. Reihe Motorik Band 21: Schorndorf. ISBN 3-7780-7021-5
- Fischer, Klaus (2003): Einführung in die Psychomotorik. Reinhardt: München. ISBN 3-8252-2239-X
- Kiphard, Ernst J. (1995): Mototherapie Teil I. Verlag modernes Lernen: Dortmund. ISBN 3-8080-0226-3
- Kiphard, Ernst J. (1994): Mototherapie Teil II. Verlag modernes Lernen: Dortmund. ISBN 3-8080-0227-1
- Kiphard, Ernst J. (2001): Motopädagogik. Psychomotorische Entwicklungsförderung. Verlag modernes Lernen: Dortmund. ISBN 3-8080-0486-X
- Köckenberger, Helmut (Hrsg. 2004): Psychomotorik: Ansätze und Arbeitsfelder. Verlag modernes Lernen: Dortmund ISBN 3-8080-0501-7
- Lapierre, André; Aucouturier, Bernard (1998): Die Symbolik der Bewegung. Psychomotorik und kindliche Entwicklung. Reinhardt: München. ISBN 3-497-01444-3
- Passolt, Michael / Pinter-Theiss, Veronika: Ich hab eine Idee... Psychomotorische Praxis planen, gestalten, reflektieren. Verlag modernes Lernen: Dortmund. ISBN: 3808005092
- Zimmer, Renate (2002): Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung. Verlag Herder: Freiburg im Breisgau. ISBN 3-451-26621-0
- Seewald, Jürgen (1992): Leib und Symbol: ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung. München: Fink.
[Bearbeiten] Weblinks
- ak'P - Der Aktionskreis Psychomotorik
- ´I´B´P - Das Psychomotorik-Institut
- Förderverein Psychomotorik e.V. Bonn
- Verein zur Bewegungsförderung Psychomotorik e.V. München
- mops e.V. - Motopädagogik- und Psychomotorikverein Regensburg
- Kleine Sinne - Institut für Motopädie und Mototherapie - Mannheim
- Deutsches Forum für Psychomotorik
- Psychomotorische Praxis
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