Todesnacht von Stammheim
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Der Ausdruck Todesnacht von Stammheim bezeichnet die Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977, in der die inhaftierten Anführer der linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Gefängniszellen in der JVA Stuttgart-Stammheim Selbstmord begingen. Das Ereignis war der Schlusspunkt des Deutschen Herbstes, in dem die zweite Generation der RAF versuchte, die Gefangenen freizupressen. In direkter Folge wurde am darauffolgenden Tag der von der RAF entführte Hanns-Martin Schleyer ermordet.
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[Bearbeiten] Vorgeschichte
1972 waren die Mitglieder der ersten Generation der RAF nach einer Anschlagsserie mit mehreren Todesopfern verhaftet worden. 1973 wurden die Top-Gefangenen im Hochsicherheitstrakt der JVA Stuttgart-Stammheim zusammengelegt und in einem extra gebauten Gerichtsgebäude neben der JVA vor Gericht gestellt. RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof nahm sich schon 1976 in ihrer Zelle das Leben. Nach einem langwierigen Verfahren waren die verbliebenen Häftlinge Baader, Ensslin, Raspe und Irmgard Möller im April 1977 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden. Die Anwälte legten Berufung ein, sodass die Urteile noch nicht rechtskräftig waren. Im Herbst 1977 versuchte die zweite Genration der RAF, die Häftlinge aus der ersten Generation freizupressen. Am 5. September 1977 kam es zur Schleyer-Entführung durch die RAF. Als die Bundesregierung unter Helmut Schmidt nicht nachgab, kam es zur Entführung des Lufthansaflugzeugs Landshut durch eine Gruppe palästinensischer Terroristen der PFLP. Am frühen Morgen des 18. Oktober 1977 wurde die Flugzeugentführung durch die GSG 9 beendet. Die 86 Geiseln konnten befreit werden.
[Bearbeiten] Waffen im Hochsicherheitstrakt
Die RAF-Mitglieder Susanne Albrecht und Monika Helbing berichteten 1990 nach ihrer Enttarnung in der DDR, dass für den Fall des Scheiterns der Befreiungsaktionen der kollektive Selbstmord der Gefangenen von Anfang an geplant gewesen sei. Zu diesem Zweck waren drei Schusswaffen in den Hochsicherheitstrakt eingeschmuggelt worden. Die Waffen wurden von Rechtsanwalt Arndt Müller eingeschmuggelt. Das RAF-Mitglied Volker Speitel arbeitete bei Müller als "Kanzlei-Gehilfe" und hatte die Waffen in Ungarn erworben. Speitel fertigte einen Hohlraum in dem gehefteten Handaktenband des Anwalts an, so dass eine Waffe ohne Griffschalen gerade eben hineinpaßte. Anschließend verklebte er die Stelle mit Buchbinderleim, so dass die Akte durchgeblättert werden konnte. Die Handakte wurde dann im Gerichtssaal an die Häftlinge übergeben, die diese mit in ihre Zellen nehmen durften. Auf diese Weise brachte Müller, der für seine stoische Ruhe bekannt war, eine Fotokamera der Marke Minox, mehrere Kochplatten, ein Transistorradio der Marke Sanyo, diverse elektronische Kleinteile und insgesamt drei Schusswaffen in den Hochsicherheitstrakt. Anschließend schaffte Müller auch noch Sprengstoff und Zünder in die JVA. Nach dem Tod der Häftlinge wurden 650 Gramm Sprengstoff gefunden. Später wurde Arndt Müller wegen des Waffenschmuggels und anderer Straftaten zu vier Jahren Haft und weiteren fünf Jahren Berufsverbot verurteilt. Er und Speitel legten Geständnisse ab. Jan-Carl Raspe erhielt eine Pistole der Marke Heckler & Koch, Typ HK 4, die er in einem Mauerversteck hinter einer Fußleiste in seiner Zelle verbarg. Baader erhielt einen Revolver der Marke FEG, Kaliber 7,65 mm, die er zunächst ebenfalls in einem Mauerversteck und später in seinem Plattenspieler versteckte. Die dritte Waffe, ein Colt Detective Special, Kaliber 38 wurde erst einen Monat nach den Selbstmorden in Zelle 723 entdeckt, nachdem der Putz abgeschlagen worden war. Sie lag ebenfalls in einem Mauerversteck. In Zelle 723 saß bis August 1977 Helmut Pohl ein. Mit den Elektroteilen hatte Raspe zudem über die von Zelle zu Zelle verlaufenden Leitungen des ehemaligen Anstaltsrundfunks und die für die Gefangenen erlaubten Plattenspieler eine Wechselsprechanlage gebastelt, über die sich die Gefangenen vermutlich unbemerkt verständigen konnten. Spekulationen, dass die Anstaltsleitung sowie die zuständigen Polizeibehörden die Gespräche der Gefangenen abhörten, wurden von offizieller Seite wiederholt dementiert.
[Bearbeiten] Verlauf
Wahrscheinlich ist, dass Raspe am 18. Oktober 1977 gegen 00.40 Uhr aus seinem Radio von der gelungenen Geiselbefreiung erfuhr und dies an die anderen Gefangenen über die Wechselsprechanlage weitergab. Danach versuchten alle vier verbliebenen Häftlinge, sich umzubringen. Nur Irmgard Möller überlebte. Gegen 7.40 Uhr schloss Justizobersekretär Gerhard Stoll Raspes Zelle auf. Drei weitere Kollegen sind dabei. Raspe sitzt mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett, mit dem Rücken lehnt er an der Wand. Er blutet aus Mund, Nase und Ohren und einer Schusswunde in der rechten Schläfe. Auf der Matratze liegt eine Waffe. Raspe atmet zwar noch und wird ins Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht, verstirbt aber gegen 9.40 Uhr. Gegen 7.50 Uhr öffnen die Beamten Baaders Zelle. Er liegt auf dem Rücken auf dem Boden in einer großen Blutlache. Baader ist tot. 40 Zentimeter neben ihm liegt eine Pistole. In Gudrun Ensslins Zelle entdecken die Beamten unter einer Decke, mit der das Fenster verhängt ist, zwei Füße. Sie hat sich am Fensterkreuz mit einem Kabel erhängt. An dem gleichen Fenster hatte sich Ulrike Meinhof ein Jahr zuvor auf die gleiche Art das Leben genommen. Irmgard Möller liegt gekrümmt auf ihrer Matratze. Sie hat in der Herzgegend acht Stichverletzungen und ist blutverschmiert, aber am Leben. Nach einer Notbehandlung vor Ort wird sie ebenfalls ins Krankenhaus gebracht und überlebt.
[Bearbeiten] Spekulationen
Nach heutigen Erkenntnissen gibt es an einem Selbstmord der Gefangenen keine vernünftigen Zweifel mehr. Aus dem Umfeld der RAF und ihren Sympathisanten wurde behauptet, dass es sich um staatlich angeordneten Mord gehandelt habe, um weitere Freipressversuche zu verhindern. Diese Spekulationen dauern bis heute an und werden durch einige Indizien vermeintlich gestützt. Auch die RAF-Anwälte Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Karl-Heinz Weidenhammer sprachen in den 1970er Jahren von Mord. Inzwischen haben jedoch alle drei diese These widerrufen. Die überlebende Irmgard Möller spricht bis heute von Mord und bestreitet, dass es eine Absprache zum kollektiven Suizid gegeben habe.[1] Jedoch hält RAF-Mitglied Susanne Albrecht dem entgegen, dass es sich "um geplante Selbstmorde handelte, die zur politischen Agitation als Mord hingestellt werden sollten. Die Eingeweihten nannten dieses Vorhaben Suicide Action". Allerdings ließen die publizierten Untersuchungsergebnisse Raum für Spekulationen. Besonders das Ergebnis eines Gutachters des Bundeskriminalamtes, die Pulverschmauchspuren würden daraufhin deuten, dass Baader durch einen Genickschuss getötet worden sei, der "aus einer Entfernung zwischen 30 und 40 Zentimeter abgefeuert worden sei",[2] galt Kritikern als Indiz dafür, dass es sich um eine als Selbstmord getarnte Mordaktion gehandelt habe. Sowohl die durch die Ermittlungsbehörden beauftragte Obduktion der Leichen als auch die zweite Untersuchung auf Betreiben von Angehörigen und Anwälten ergaben keinerlei Anhaltspunkte für ein Fremdeinwirken. Die Europäische Kommission untersuchte 1977/78 die Todesumstände der Stammheimer Gefangenen und konnte keinerlei Hinweise feststellen, die gegen einen Selbstmord sprechen. Die geheimen Teile der damaligen Gutachten wurden Ende der 1990er Jahre veröffentlicht. Seitdem gilt die Selbstmordthese in der Fachliteratur als bewiesen.
[Bearbeiten] Einzelnachweise
- ↑ http://www.rote-hilfe.de/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/1997/4/interview_mit_irmgard_moeller Interview mit Irmgard Möller aus dem Jahr 1997
- ↑ zitiert nach Aust, Stefan: Der Baader Meinhof Komplex, Hoffmann und Campe, Hamburg 1985, ISBN 3-426-03874-9, S.583ff.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Rote Armee Fraktion
- Liste der Mitglieder der Rote Armee Fraktion
- Zeittafel Rote Armee Fraktion
- Schleyer-Entführung
- Landshut (Flugzeugentführung)
[Bearbeiten] Quellen
- Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hoffmann & Campe, Hamburg 2005, ISBN 3-455-09516-X.
- Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Edition Hamburg, Hamburg 2006, ISBN 3-936096-65-1.
- Butz Peters: RAF - Terrorismus in Deutschland.Droemer Knaur, München 1993, ISBN 3-426-80019-5.
- Butz Peters: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF. Argon-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-87024-673-1.