Wehrkraftzersetzung
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Wehrkraftzersetzung umfasst ganz allgemein alle Äußerungen und Handlungen, die die Kampfkraft der Truppe negativ beeinflussen. Dazu gehören demotivierende Äußerungen, z.B. Zweifel am siegreichen Ende des Kriegs, Kritik an den politischen und militärischen Führern und Äußerung von Unzufriedenheit mit der Staatsform in einem totalitären Regime. Wehrkraftzersetzende Handlungen sind z.B. Fahnenflucht, Selbstverstümmelung (gemeint ist Selbstverletzung in welcher Form auch immer, um sich der Erfüllung des Wehrdienstes zu entziehen) und "Feigheit vor dem Feind". Kriegsdienstverweigerung wird und wurde in verschiedenen Armeen ebenso dazu gezählt. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz verankert. Wehrkraftzersetzung z.B. in Form von Störpropaganda ist allerdings auch in der BR Deutschland eine Straftat.
[Bearbeiten] Wehrkraftzersetzung im Zweiten Weltkrieg
Mit der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) wurde der Begriff „Wehrkraftzersetzung“ juristisch gefestigt und eine Voraussetzung für die Kriminalisierung von Kritik und Dissens gegen die NS-Regierung geschaffen. Die am 17. August 1938 erlassene KSSVO ist äquivalent zum „Heimtückegesetz“ vom 20. Dezember 1934 und stellt eine Steigerung desselbigen dar. Kritische Äußerungen der Soldaten konnten bis dahin bloß als Verstoß gegen das „Heimtückegesetz“ mit Gefängnis bestraft werden, die KSSVO stellte die Todesstrafe in Aussicht, nur in minder schweren Fällen Zuchthaus oder Gefängnis. Mit der Einführung der „Kriegsstrafrechtsverordnung“ (KStVO) wurde dem Angeklagten gleichzeitig jede Berufungsmöglichkeit genommen und seine Position somit weiter geschwächt. Wie groß der Entscheidungsspielraum und das Maß an Willkür der Militärrichter war, zeigt folgendes Zitat des Chefs des Allgemeinen Marinehauptamtes bei einer Tagung vor Militärjuristen 1942:
- ...ähnliche Verhältnisse liegen bei den zersetzenden Äußerungen vor, die als Verstöße gegen das Heimtückegesetz gesehen werden können. Die langwierige Vorlage beim Justizminister zur Anordnung der Strafverfolgung erübrigt sich, wenn Sie die Äußerung als Zersetzung der Wehrkraft anpacken, was in fast allen Fällen möglich sein wird.
Die im Laufe der Vorbereitungen für die Expansionsfeldzüge der Wehrmacht geschaffene Verordnung diente in den Kriegsjahren als Terrorinstrument und zur gezwungenen Aufrechterhaltung des Durchhaltewillens der Soldaten. Gerade im späteren Verlauf des Kriegs war die Angst vor einer neuen Revolution wie 1918 sehr groß, jeder aufkeimende Widerstand sollte erstickt werden, um eine Wiederholung des vermeindlichen „Dolchstoßes“ zu verhindern.
Anfang 1943 ging die Zuständigkeit auf den Volksgerichtshof über, der leichte Fälle an die bei den Oberlandesgerichten eingerichteten Sondergerichte abgeben konnte. Der Volksgerichtshof verhängte in der Regel die Todesstrafe.
In §5 der KSSVO heißt es:
- Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft ... wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zersetzen versucht.
Anscheinend bot das Wort „öffentlich“ einigen Interpretationsspielraum: Selbst Äußerungen im Kreise der Familie konnten gegen den Angeklagten verwandt werden. Die vage Formulierung der Verordnung ermöglichte es, jede Art von Kritik zu kriminalisieren, auch bei Zivilisten. Hierdurch war der Denunziation ganz vorsätzlich ein Angriffspunkt gegeben worden, um die Kontrolle über die Bevölkerung noch umfassender zu machen. Dass Wehrkraftzersetzung im dritten Reich keineswegs als Kavaliersdelikt galt, zeigt folgender Erlass des Chefs der Nationalsozialistischen Führungsoffiziere der Luftwaffe vom 1. November 1944:
- Es ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden, daß, wer an dem Führer Zweifel äußert, ihn und seine Maßnahmen kritisiert, über ihn herabsetzende Nachrichten verbreitet oder ihn verunglimpft, ehrlos und todeswürdig ist. Weder Stand noch Rang, noch persönliche Verhältnisse oder andere Gründe können in einem solchen Fall Milde rechtfertigen. Wer in der schwersten entscheidenden Zeit des Krieges Zweifel am Endsieg äußert und dadurch andere wankend macht, hat sein Leben ebenfalls verwirkt!
Als weitere Zersetzungsbeispiele seien angeführt, u.a.:
- Äußerungen gegen die nationalsozialistische Weltanschauung,
- Zweifel an der Berechtigung des uns aufgezwungenen Lebenskampfes […]
- Verbreitung von Nachrichten über Kampfmüdigkeit und Überlaufen deutscher Soldaten
- Zweifel am Wehrmachtbericht
- Pflege von privatem Umgang mit Kriegsgefangenen
- Herabsetzung der als wichtiges Kampfmittel im Kriege eingesetzten deutschen Propaganda
- Erörterungen der Möglichkeiten bei Verlust des Krieges,
- die Behauptung, dass der Bolschewismus „so schlimm nicht sei oder daß die Demokratie unserer westlichen Nachbarn in Erwägung gezogen werden könne".
Mit Defätisten, die durch ihre Äußerungen keineswegs irgendein militärisches Wirken beeinflussten, wurde Kurzer Prozess gemacht. So wurde der Heilgymnast und Masseur Norbert Engel zum Tode verurteilt, nachdem er gegenüber einer Krankenschwester Bedauern über das Scheitern des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 geäußert hatte: „Wenn es geklappt hätte, wäre in fünf Tagen der Krieg aus gewesen und wir hätten nach Hause gehen können.“ Engel konnte sich jedoch durch Flucht seiner Hinrichtung entziehen.
Die Einführung der KSSVO läutete eine neue Stufe der Verfolgung politischer Gegner der Nationalsozialisten ein, der viele Tausend zum Opfer fielen. Bis zum 30. Juni 1944 sind laut Wehrmachtkriminalstatistik 14.262 Verurteilungen wegen Wehrkraftzersetzung ergangen, laut Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt dürfte die Zahl der während des Kriegs Verurteilten bei 30.000 gelegen haben. Die Zahl der Verurteilungen und der Anteil der Todesurteile zum Ende des Krieges nahm stetig zu, denn in dem Maße, wie die Kampfhandlungen verlustreicher wurden und der Endsieg in immer weitere Ferne rückte, mehrten sich kritische Äußerungen. Aufgrund der Formulierung der Verordnung ging einer Verurteilung in der Regel eine Denunziation durch Kameraden voraus, vereinzelt wurden die Betroffenen auch durch Äußerungen in Briefen oder Schmierereien an Wänden überführt. Dass nicht noch mehr Kritikäußernde verurteilt wurden, hängt wohl mit der Natur einer Denunziation zusammen: Ein potenzieller Denunziant konnte wohl kaum sicher sein, im Verlauf der Ermittlungen nicht selbst solche Äußerungen vorgeworfen zu bekommen. Der Tatsache, dass jeder Soldat hinsichtlich der möglichen Konsequenzen wehrkraftzersetzender Äußerungen belehrt wurde, dürfte als Hemmschwelle zur Meldung wohl zu verdanken sein, dass nicht noch mehr Menschen Opfer der Militärjustiz wurden.
[Bearbeiten] Bundesrepublik Deutschland
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Ahndung der Wehrkraftzersetzung durch §§109-109k des Strafgesetzbuches (Straftaten gegen die Landesverteidigung) geregelt. Besonders anzumerken ist der § 109 d (Störpropaganda gegen die Bundeswehr), der wahrheitswidrige Äußerungen unter Strafe stellt, die die "Tätigkeit der Bundeswehr stören", sowie § 109 StGB (Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung).
[Bearbeiten] Literatur
- Peter Hoffmann, in: Aufstand des Gewissens, Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945, herausgegeben von Heinrich Walle, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1994
- Die anderen Soldaten, herausgegeben von Norbert Haase und Gerhard Paul, Fischer Taschenbuchverlag GmbH, Frankfurt am Main, 1995
- Kristian Kossack: Vergessene Opfer, verdrängter Widerstand, herausgegeben vom deutschen Versöhnungsbund, Gruppe Minden
- Ungehorsame Soldaten. Dissens, Verweigerung und Widerstand deutscher Soldaten (1939-1945), St. Ingbert 1994
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