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Jean Gebser

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Jean Gebser (* 20. August 1905 in Posen; † 14. Mai 1973 in Wabern bei Bern) war Philosoph, Schriftsteller, Übersetzer und einer der ersten Bewusstseinsforscher, die ein Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte des Menschen etabliert haben.


Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Leben

Jean Gebser (eigentlich Hans Gebser) berichtet über seine Kindheit und Jugend in der autobiographischen Erzählung „Die schlafenden Jahre“. 1931 verließ er Deutschland und lebte ab 1932 einige Zeit in Spanien, wo er mit Federico García Lorca und anderen spanischen Dichtern befreundet war. 1936 erschienen seine Übertragungen spanischer Gedichte ins Deutsche unter dem Titel „Neue spanische Dichtung“. Im selben Jahr begann er (zunächst auf Spanisch) mit der Ausarbeitung der Schrift „Rilke und Spanien“, die erst 1940 auf Deutsch erschien. Ab 1937 lebte er in Paris und lernte dort die französischen Dichter Eluard, Aragon und Malraux sowie den Maler Picasso kennen. 1939 verließ Gebser Frankreich und ließ sich in der Schweiz nieder, die ihm zur Wahlheimat wurde. 1943 erschien sein „Abriss der Ergebnisse moderner Forschung“ unter dem Titel „Abendländische Wandlung“, dann „Der grammatische Spiegel“ (1944) und „Lorca oder das Reich der Mütter“ (1949).

Im Winter 1947 hatte er mit der Ausarbeitung seines Hauptwerks „Ursprung und Gegenwart“ begonnen. 1949 wurde der 1. Band beendet und veröffentlicht. Von 1950 bis 1952 arbeitete er am 2. Band, der 1953 erschien. Auf zahlreichen Kongressen und Vortragsreihen, die meist in Buchform erschienen sind, sprach er mit anerkannten Wissenschaftlern und Denkern über den Anbruch eines „aperspektivischen“ Zeitalters, wie er ihn in „Ursprung und Gegenwart“ evident machte, und über die neue, „aperspektivische“ Weltsicht. Zu seinen Freunden zählten C. G. Jung, Adolf Portmann, Karl Kerényi und der Maler Siegward Sprotte.

1961 unternahm er eine Asienreise, die literarischen Niederschlag in dem Buch „Asien lächelt anders“ (erschienen 1968) fand. Sein letztes Werk ist „Verfall und Teilhabe“, das er kurz vor seinem Tod abschloss und das 1974 erschienen ist. Er starb am 14. Mai 1973 in Wabern (Kanton Bern).

[Bearbeiten] Werk

[Bearbeiten] Grundgedanke

Gebsers Werk umfasst neben philosophischen Schriften auch zahlreiche Gedichte, eine autobiographische Erzählung und Bücher über die Dichter Lorca und Rilke.

Ein Grundgedanke prägt sein ganzes Werk: Wir leben in einem Zeitalter der Wandlung, und diese Wandlung führt zum Durchbruch eines neuen Bewusstseins. In der Vorlesung „Die neue Weltsicht“ beschreibt Gebser, wie ihm im November 1932 blitzartig der Gedanke kam, der für sein weiteres Werk grundlegend war: „Auf die kürzeste Formel gebracht, lautet dieser Gedanke: Überwindung des Raumes und der Zeit.“ Und er erläutert weiter: „Was heißt das? Es heißt, daß wir bewußt Raum und Zeit überwinden sollen; es heißt keinesfalls, daß Raum und Zeit abgeschafft werden sollen, wohl aber, daß wir uns bis zu einem gewissen Grade von beiden zu befreien haben, ohne aber in die magische, bewußtseinsschwache Raumzeitlosigkeit zurückzugleiten.“[1]

Gebser war der Meinung, „daß es gar nicht darauf ankommt, vielerlei Verschiedenes zu denken, sondern einen oder zwei Haupt- oder Grundgedanken möglichst klar zu Ende zu denken.“[2] Jean Gebsers Grundgedanken führen zu weitreichenden Konsequenzen.

[Bearbeiten] Gebsers Arbeitsweise

Jean Gebser kann am Besten als „Kulturphilosoph“ bezeichnet werden. Er selbst verfasste einen Aufsatz mit dem Titel „Kulturphilosophie als Methode und Wagnis“, der uns Einblick in sein Selbstverständnis als Denker und in seine Arbeitsweise gewährt. Dort heißt es über die kulturphilosophische Arbeit: „Die vorbereitende Arbeit ist jeweils zuerst phänomenologischer, dann komparativer, dann koordinierender Art.“[3] Gebser glaubt in jahrelanger Arbeit ein solches Grundanliegen gefunden zu haben, das den Kulturphänomenen unserer Zeit zugrunde liegt. Es ist, so Gebser, der Versuch einer Überwindung des Raumes und der Zeit.

Nun wird man sich fragen, wie Gebser diesen Grundgedanken einerseits in einer blitzartigen Eingebung empfangen, andererseits jedoch in jahrelanger Arbeit als Grundanliegen der schöpferischen Bemühungen unserer Zeit entdecken konnte. Es sei jedoch auf die Tatsache hingewiesen, dass selbst in der Naturwissenschaft häufig dem Forschen eine blitzartige Eingebung, eine Ahnung, ein Gedanke vorausgeht, der dann beim Suchen Bestätigung erfahren und in die Klarheit der Evidenz gehoben werden kann.

Seinen Grundgedanken fand Gebser in Physik, Biologie und Psychologie („Abendländische Wandlung“) ebenso wie in der Dichtung unserer Zeit („Rilke und Spanien“, „Der grammatische Spiegel“). In seinem Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“ finden wir die Ergebnisse jahrelanger kulturphänomenologischer und kulturphilosophischer Arbeit.

[Bearbeiten] Gebsers Bewusstseinsgeschichte

Gebser wird heute meist assoziiert mit der Bewusstseinsgeschichte, welcher der erste Band von „Ursprung und Gegenwart“ (mit dem Titel „Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewusstwerdung“) gewidmet ist. Dabei wird oft übersehen, dass auch sein Entwicklungsmodell vor allem der Darstellung der Manifestationen des neuen Bewusstseins dienen sollte. Denn um das Neue konkret machen zu können, muss man sich des Vergangenen erinnern. Nur so werden die Fundamente ersichtlich, auf denen das Neue steht. Nur so kann man das wirklich Neue vom nur scheinbar Neuen, das nur eine maskierte Manifestation des Alten ist, unterscheiden lernen.

Gebser zeigt auf (vor allem durch die kulturphänomenologische Betrachtung der Äußerungen vergangener Zeiten und durch die Untersuchung der Worte und ihrer Wurzeln), dass sich vier Bewusstseinsstrukturen nachweisen lassen, die den heutigen europäischen Menschen konstituieren und die in seiner Kulturgeschichte aufeinanderfolgend in Erscheinung traten. Er nennt diese Bewusstseinsstrukturen die archaische, die magische, die mythische und die mentale. In unserer Zeit ereignet sich der Durchbruch des neuen, des integralen Bewusstseins, dessen Grundthema die Überwindung des Raumes und der Zeit ist.

An dieser Stelle müssen einige der schwersten Missverständnisse, die sich angesichts der Bewusstseinsgeschichte von Jean Gebser einstellen können, ausgeräumt werden. Sie sollte vor allen Dingen nicht als ein System missverstanden werden, das der lebendigen Wirklichkeit aufgezwungen wird, sondern stellt vielmehr den Versuch dar, aus den Phänomenen heraus die Gegebenheiten der einzelnen Strukturen deutlich zu machen.

Die Bewusstseinsstrukturen werden gelegentlich als „Bewusstseinsphasen“ bezeichnet. Dies erweckt den Eindruck, als seien die Bewusstseinsstrukturen aufeinander gefolgt, indem eine Struktur die andere ablöste. Doch jede Struktur bleibt wirksam, auch nachdem eine neue Struktur aus ihr „herausmutiert“ ist! Deshalb spricht Gebser von Bewusstseinsstrukturen, und nicht von „Phasen“. Auch den räumlichen Ausdruck „Bewusstseinsebenen“ meidet er absichtlich, denn die Bewusstseinsstrukturen sind „nicht bloße Raumgefüge“, sondern können „vor allem auch Gefüge raumzeitlicher, ja selbst raumzeitfreier Art“ sein.[4]

Ferner ist Gebser der Meinung, dass das Bewusstsein sich nicht kontinuierlich „entwickelt“ hat, sondern dass sprunghafte, diskontinuierliche Wandlungen der Strukturen geschahen. Sobald eine Struktur „defizient“ wird, sobald sie also erschöpft ist und sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere Bewusstseinstruktur zum Durchbruch, die keine kontinuierliche Weiterführung der alten Bewusstseinsstruktur, sondern etwas vollkommen Neues ist. Den sprunghaften, diskontinuierlichen Charakter der Bewusstseinswandlung bringt Gebser zum Ausdruck, indem er von „Bewusstseinsmutationen“ spricht.[5]

Der Vulgär-Darwinismus und der eng mit ihm verknüpfte Fortschrittsgedanke postuliert eine fortschreitende Höherentwicklung. Auch vor diesem Missverständnis muss im Zusammenhang mit Gebsers Bewusstseinsgeschichte gewarnt werden. Keine neue Struktur ist „besser“ als die alte, aus der sie herausmutiert. Jede Bewusstwerdung ist zugleich Gewinn und Verlust. Sie ist ein Verlust, insofern sie den Menschen aus dem Ganzen herauslöst. Sie ist jedoch ein Gewinn, insofern sie die Chance zur wachsenden Distanzierung von Raum und Zeit und damit (gerade in unserer Epoche) zur Überwindung des Raumes und der Zeit, zur Gewinnung der Raum-Zeit-Freiheit birgt, womit wieder der Grundgedanke Gebsers berührt ist.

Die Raum-Zeit-Konstitution der Bewusstseinsstrukturen

Die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem Grundthema der neuen Mutation ergeben, erschließen sich erst, wenn man sich über die Raum-Zeit-Konstitution der Bewusstseinsstrukturen klar wird, wie sie Gebser in „Ursprung und Gegenwart“ aufzeigte. Jede der Bewusstseinsstrukturen bedingt (konstituiert) ein bestimmtes Bewusstsein von der Zeit und vom Raum. Dieses Bewusstsein bestimmt grundlegend nicht nur das, was der Mensch Wirklichkeit nennt, sondern vor allem auch seine Haltung zur Welt und sein Handeln.

Der Mensch der magischen Bewusstseinsstruktur lebte in einer raum- und zeitlosen Welt. Auch für den Menschen der mythischen Struktur war der Raum noch keine Realität. Es erwachte jedoch ein erstes, noch schwaches Zeitbewusstsein. Dieses Zeitbewusstsein ist von dem heute vorherrschenden zu unterscheiden, da es die Zeit nicht als linear, sondern als zyklisch wahrnimmt. Ein solches Zeitbewusstsein finden wir beispielsweise in der asiatischen Vorstellung des „Rads der Zeit“, aber auch wir begegnen ihm Jahr für Jahr im Kreislauf der Jahreszeiten mit ihren Traditionen und Festen.

Der Durchbruch des mentalen Bewusstseins, beginnend um 500 v. Chr., endgültig jedoch in der Renaissance um 1500, erfolgte mit der Bewusstwerdung des Raumes. Auch das Zeitbewusstsein wandelte sich grundlegend. Zeit wurde nicht länger als kreisend, sondern als gerichtet, als linear wahrgenommen. An die Stelle des „Rads der Zeit“ trat der „Zeitpfeil“. Besonders deutlich finden wir ein solches Verständnis von Zeit in der Lehre des Christentums, wonach alles Geschehen einem „jüngsten“, also letzten Gericht entgegengeht. Ein weiteres Charakteristikum des Zeitbewusstseins der mentalen Struktur besteht darin, dass die Zeit als messbar betrachtet und mit immer präziseren Uhren gemessen wird. Dieses Zeitbewusstsein ist auch heute noch vorherrschend.

Eines dürfte jedoch deutlich geworden sein: Die „Zeit“, wie wir sie heute verstehen, als messbare Uhrenzeit, ist nur ein Teilaspekt des ungemein vielschichtigen Phänomens „Zeit“. Neben der messbaren, linearen Uhrenzeit gibt es zumindest auch die zyklische Zeit des mythischen Bewusstseins und die Zeitlosigkeit des magischen Bewusstseins. Beide Zeitformen sind auch heute noch wirkende Realitäten.

Gebser kritisiert die Tendenz unserer Kultur, die Zeit zu deklassieren und auf einen einzigen Teilaspekt einzuengen. Die Aufgabe unserer Epoche ist es, so Gebser, sich der Zeit in all ihren Formen und Aspekten bewusst zu werden. Dies ist die Voraussetzung ihrer Überwindung. Überwindung der Zeit bedeutet Bewusstwerdung der „Zeitfreiheit“. Diese Bewusstwerdung bezeichnet Gebser als die Hauptaufgabe der neuen Mutation[6].

Zeitfreiheit und Ursprung

Die Zeitfreiheit, das „Achronon“, wie Gebser sie nennt, unterscheidet sich von der Zeitlosigkeit der Kulturen, die in einer magischen Bewusstseinsstruktur leben. Das Achronon ist ein Weltverständnis, „welches sich der verschiedenen Zeitformen, seien diese nun Zeitlosigkeit, Naturzeit oder gemessene Uhrenzeit, bewußt ist, wobei unser Verfügenkönnen über sie uns von ihnen befreit und uns in die Zeitfreiheit, in die bewußt realisierte und immer gegenwärtige Ursprungsnähe stellt.“[7] Diese „Zeitfreiheit ist die bewußte Form des archaischen, ursprünglichen Vorzeithaften.“[8]

Aufgabe ist es für Gebser nun, sich des Ursprungs der Zeit bewusst zu werden. Charakteristisch für den Ursprung sind: seine Vorzeithaftigkeit, seine Zeitfreiheit und seine Zugleich-Struktur. Der Ursprung ist vorzeithaft, insofern er „vor“ der Zeit „liegt“. Schon Augustinus vermutete vor dem Hintergrund des christlichen Gedankens einer creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts) im „Gottesstaat“: „Ohne Zweifel ist die Welt nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit erschaffen worden.“ Der Physiker und Philosoph C. F. Weizsäcker schreibt über den Zustand vor dem Anfang der Welt: „Vor diesem Zeitpunkt muss die Welt, wenn sie überhaupt existierte, in einem Zustand gewesen sein, der vollkommen verschieden war vom heutigen und den wir uns nicht ausmalen können, da selbst die Anwendbarkeit eines Begriffes wie Zeit für ihn nicht besteht.“[9]

Dieser Zustand vor dem Beginn ist der Ursprung. Im Gegensatz zum zeitgebundenen Initial-Vorgang (Anfang, Beginn) ist der Ursprung nicht zeitgebunden, also zeitfrei. Das bedeutet jedoch auch, dass er stets gegenwärtig ist. Geschehnisse, die sich in der Zeit beschreiben lassen, und "datenlose" Geschehnisse entspringen aus der Gegenwart des Ursprungs. Dabei ist im Ursprung zugleich vorhanden, was sich in der Zeit nacheinander entfaltet. Dies bringt ein Zitat von Max Rychner zum Ausdruck, das Gebser in dem Aufsatz „Zur Geschichtsschreibung des Unsichtbaren“ erwähnt. Rychner notiert: „Heute fiel mir auf der Straße ein, die Zeit sei darum ein Geschenk für den Menschen, weil er nur durch sie begreifen kann. Eigentlich ist alles zugleich da, aber wir müssen es Stück für Stück auswickeln, da wir sonst geblendet blieben vom Ganzen, das sich zu offenbaren begehrt.“[10]

Der Gedanke der Ursprungsgegenwärtigkeit ist nicht als Prädestinationslehre zu verstehen, sondern als Versuch, dem Ganzen, dem „vor“ bzw. „jenseits“ der Zeit „liegenden“ Ursprung gerecht zu werden. Gebsers Arbeit nennt die Bewusstwerdung des Ursprungs das große Thema unserer Zeit: „[...] der Ursprung, der mit jeder Bewusstseinsmutation einen intensiviert bewußten Gegenwarts-Charakter erhält; der Ursprung, der vom Ganzen und vom Geistigen geprägt ist und vor Raum und Zeit ‚liegt’, wird zeitfreie Gegenwart.“ [11] Diese Bewusstwerdung leistet die „Überwindung der Zeit“ und damit einen Teil dessen, was oben als der Grundgedanke Gebsers bezeichnet wurde.

Unperspektivische, perspektivische und aperspektivische Welt

Parallel zur Überwindung der Zeit erfolgt mit dem Durchbruch des integralen Bewusstseins auch die Überwindung des Raumes. Auch hier muss wieder nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es Gebser keinesfalls darum geht, in die magische und mythische Raumlosigkeit zurückzusinken. Mit der mentalen Struktur wurde der Raum bewusst, und diese Bewusstwerdung ist nicht mehr rückgängig zu machen. War die magische und die mythische Welt eine un- bzw. vorperspektivische Welt, so war (und ist) die mentale Welt mit ihrem Raumbewusstsein eine perspektivische Welt. Die Welt des integralen Bewusstseins wird jedoch eine aperspektivische Welt sein. [12] Diesen Gedanken führt Gebser in einem Kapitel des ersten Bandes von „Ursprung und Gegenwart“ aus: „Die drei europäischen Welten“. Dort schreibt er, dass der Begriff der Perspektive hier nicht nur in einem kunsthistorischen, sondern in einem viel umfassenderen Sinn zu verstehen ist.

Die Perspektive ermöglicht Bewusstwerdung des Raumes und damit Distanzierung von ihm. Für das perspektivische Bewusstsein wird die Welt zum Gegenüber eines Ichs, das sich bewusst von seiner Umgebung abgrenzt und so den Raum verfügbar und manipulierbar macht. Besonders gut kann man diesen Bewusstseinswandel in der Malerei nachvollziehen: Die alten Malereien des mythischen Bewusstseins kennen noch keine Perspektive. Sie betten den Menschen ein in den Goldgrund. Dies bringt zum Ausdruck, dass der Mensch noch Teil der Welt ist und nicht ihr Gegenüber. Leonardo da Vinci wandte als erster Maler die Perspektive in technischer Perfektion an und fundierte sie auch theoretisch. Der Mensch löste sich aus dem „Goldgrund“ und machte die Welt zum verfügbaren, manipulierbaren Gegenüber. Gebser würdigt dabei das mentale Bewusstsein als einen großen Gewinn, der einen gewaltigen schöpferischen Aufschwung bedeutete.

Erst in unserer Zeit ist das mentale Bewusstsein defizient geworden. Daher ist in unserer Zeit die Gewinnung der Aperspektive notwendig, die zur Überwindung des Raumes führen wird. Auch dies kann man besonders gut an den malerischen Bemühungen unserer Zeit erkennen: die Malerei nach der Jahrhundertwende versucht auf zahlreiche Arten, die Perspektive zu überwinden. Als besonders gelungene Versuche, die schon heute das neue Bewusstsein sichtbar werden lassen, werden von Gebser die Werke von Braque und Picasso bezeichnet.[13] Was sich in den Versuchen der Maler ankündigt, ist die Überwindung der gegenüber-seienden Welt des perspektivischen Zeitalters. Die aperspektivische Welt, die heute entsteht, wird eine „Welt ohne Gegenüber“ sein.[14]

Der Dualismus der Subjekt-Objekt-Spaltung, welcher der perspektivischen Welt ihr Gepräge gab, wird in der „Welt ohne Gegenüber“ überwunden durch ein neues Miteinander und durch die bewusste Teilhabe des Einzelnen am Weltganzen. Anstelle des begrenzten Weltraums der mentalen Struktur tritt die offene Welt eines endlichen, aber unbegrenzten Kosmos. Diese Welt ohne Gegenüber verwirklicht den zweiten Teil des Grundgedankens von Jean Gebser, die Überwindung des Raumes.

[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Quellen und Anmerkungen

  1. Die neue Weltsicht, in: Gesamtausgabe Band V/I, S. 111
  2. Gesamtausgabe Band I, S. 235
  3. Gesamtausgabe Band V/I, S. 126
  4. Vgl. Ursprung und Gegenwart, S. 83
  5. Der Begriff der Mutation wurde von Gebser zwar aus der biologischen Terminologie (De Vries: "Mutationstheorie") übernommen, bekommt im Zusammenhang mit dem menschlichen Bewusstsein jedoch einen geistigen Sinn. Er meint einen sprunghaften, diskontinuierlichen Durchbruch des Neuen.
  6. Ursprung und Gegenwart, S. 389
  7. Die Welt ohne Gegenüber, Gesamtausgabe Band V/I, S. 271
  8. Ursprung und Gegenwart, S. 483
  9. Carl Friedrich von Weizsäcker; „Zeit und Wissen“, S. 277
  10. Gesamtausgabe Band VII, S. 344
  11. Ursprung und Gegenwart, S. 377
  12. Wichtig auch bei anderen Begriffen wie a-logisch und a-kausal ist der Gebrauch des Alpha privativum, das nicht eine Negation, sondern eine Befreiung zum Ausdruck bringen soll.
  13. „Ursprung und Gegenwart“
  14. Aufsatz „Die Welt ohne Gegenüber“, Gesamtausgabe Band V/I, S. 267-281

[Bearbeiten] Literatur

  • Rudolf Hämmerli (Herausgeber): Jean Gebser: Einbruch der Zeit, Novalis Verlag, 1995, ISBN 3-7214-0662-1
  • Christoph Zollinger: "Die Debatte läuft - Ganzheitliche Thesen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik", Die unerhörte Aktualität der integralen Vision Jean Gebsers Verlag Via Nova (2005), ISBN 3-86616-006-2.
  • Gerhard Wehr: Jean Gebser. Individuelle Transformation vor dem Horizont eines neuen Bewußtseins, Verlag Via Nova 1996, 1996, ISBN 3-928632-26-4
  • Elmar Schübl: Jean Gebser (1905-1973). Ein Sucher und Forscher in den Grenz- und Übergangsgebieten des menschlichen Wissens und Philosophierens, Chronos, Zürich 2003 ISBN 3-0340-0590-3
  • Elmar Schübl: Jean Gebser und die Frage der Astrologie. Eine philosophisch-anthropologische Studie auf der Grundlage der astrologischen Auffassung von Thomas Ring, Novalis, Schaffhausen 2003 ISBN 3-907160-27-4
  • Kai Hellbusch: Das integrale Bewußtsein. Jean Gebsers Konzeption der Bewußtseinsentfaltung als prima philosophia unserer Zeit. TENEA Verlag Berlin 2003.
  • Ursula Assing-Grosch: Das schwierige Kind: Jean Gebsers Bewusstseinsphänomenologie in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis. Centaurus Verlagsges. Pfaffenweiler 1993.
  • Joachim Illies: Adolf Portmann, Jean Gebser, Johann Jakob Bachofen: Drei Kulturforscher, drei Bilder vom Menschen. (Texte, Thesen; 67.) Zürich 1975.
  • Meidinger-Geise, Inge: Jean Gebser - ein Denker unserer Zeit. Dortmund 1965 (Dortmunder Vorträge, Heft 67).
  • Georg Feuerstein: Structures of Consciousness: The Genius of Jean Gebser: An Introduction and Critique. Integral Publishing Lower Lake 1987.
  • Georg Feuerstein: Jean Gebser: What Color Is Your Consciousness? Robert Briggs Associates San Francisco 1989.
  • Eric Mark Kramer (Ed.): Consciousness and Culture: An Introduction to the Thought of Jean Gebser. Contributions in Sociology 1992.
  • W. Kambartel: Aperspektivisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 1. A – C. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971.

[Bearbeiten] Weblinks

Andere Sprachen
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