Montenegrinische Sprache
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Montenegrinisch ist die südslawische Sprachvarietät Montenegros. Sie wird oft als Teil eines plurizentrischen Serbokroatischen oder Serbischen angesehen, von anderen hingegen als eigene Sprache betrachtet.
Die Verständigung mit Sprechern des Serbischen, Bosniakischen und Kroatischen verläuft üblicherweise problemlos.
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[Bearbeiten] Verbreitung
In der Volkszählung von 2003 gaben in Montenegro 62,49 Prozent der Bevölkerung Serbisch und 21,96 Prozent Montenegrinisch als ihre Muttersprache an, ohne dass sich diese Angaben ohne Weiteres mit tatsächlichen sprachlichen Unterschieden korrelieren ließen.
[Bearbeiten] Amtlicher Status
Die Amtssprache Montenegros ist laut Artikel 9 der aktuellen Verfassung aus dem Jahr 1992 [1] "die Serbische Sprache in ijekavischer Aussprache".
Die montenegrinische Regierung versucht im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit des Landes (2006) zunehmend, die Sprachbezeichnung "Serbisch" in offiziellen Dokumenten zu vermeiden und sie durch Formulierungen wie "die Landessprache" zu ersetzen, ohne dass jedoch bisher die Amtssprache als "montenegrinische Sprache" definiert worden wäre.
[Bearbeiten] Standpunkte in der montenegrinischen Sprachenfrage
In der Diskussion um die Bezeichnung und Kodifizierung der Sprache Montenegros existieren derzeit im wesentlichen drei unterschiedliche Standpunkte:
[Bearbeiten] Montenegrinisch als ijekavisches Serbisch
Die Vertreter des Standpunktes, das Montenegrinische sei ein integraler Bestandteil der serbischen Sprache, gehen davon aus, dass das Serbische eine Sprache mit zwei Standardvarietäten sei, die sich vor allem durch die ijekavische bzw. ekavische "Aussprache" unterscheiden (wobei diese "Aussprache" auch in der Schrift ausgedrückt wird). Demzufolge bildet die Sprache Montenegros zusammen mit derjenigen der Serben Bosnien-Herzegowinas und Kroatiens die ijekavische Varietät des Serbischen und steht der Sprache Serbiens als ekavischer Varietät gegenüber.
Die Vertreter dieser Richtung streben, abgesehen von der Unterscheidung zwischen Ijekavisch und Ekavisch, eine möglichst einheitliche Kodifikation des Serbischen an, die auch in Montenegro Geltung haben soll. Dieser Standpunkt, das Montenegrinische sei integraler Teil des Serbischen, wird von einem großen Teil der montenegrinischen Sprachwissenschaftler vertreten, sowohl von an Hochschulen in Montenegro als auch von in Serbien tätigen. Der derzeitige Wortlaut der montenegrinischen Verfassung stimmt mit diesem Standpunkt überein, die Praxis der derzeitigen Regierung hingegen nicht.
Die Vertreter dieser Position werfen den Vertretern der anderen beiden Positionen "sprachlichen Separatismus" vor, während ihnen vor allem von montenegrinischen Nationalisten vorgeworfen wird, die Montenegriner an die Serben assimilieren zu wollen.
[Bearbeiten] Montenegrinisch als staatsspezifische/nationale Varietät → Sprache
Die Vertreter des Standpunktes, das Montenegrinische sei eine eigene staatliche/nationale Varietät innerhalb des serbokroatischen Diasystems, gehen davon aus, dass sich schon zur Zeit des ehemaligen Jugoslawiens in den einzelnen Teilrepubliken des offiziell serbokroatischen Sprachgebietes eigene republikspezifische Standardvarietäten gebildet haben. Demzufolge ist das Montenegrinische die Standardvarietät Montenegros, die das Recht auf Gleichberechtigung mit denen der anderen Republiken (Serbisch, Kroatisch, Bosnisch) habe.
Diese Sichtweise bestreitet nicht die Gemeinsamkeiten dieser Standardvarietäten und die Möglichkeit, diese als Varietäten einer einzigen plurizentrischen Sprache anzusehen. Da in der Gegenwart jedoch die anderen drei Standardvarietäten als selbständige Sprachen anerkannt seien, müsse dies auch für das Montenegrinische gelten. Auf der Ebene der Sprachstruktur wird von Vertretern dieses Standpunktes betont, dass das Montenegrinische nicht vollständig mit der ijekavischen Varietät des Serbischen (z.&nsbp;B. in Bosnien) identisch sei, sondern einige lexikalische und morphologische Spezifika aufweise, die auch schon zu jugoslawischer Zeit als montenegrinischer standardsprachlicher Ausdruck der serbokroatischen oder kroatoserbischen Sprache (crnogorski književnojezički izraz srpskohrvatskoga ili hrvatskosrpskoga jezika) anerkannt worden seien.
Dieser Standpunkt wird von einem Teil der an Hochschulen in Montenegro tätigen Sprachwissenschaftler vertreten. Er entspricht (soweit sich das beurteilen lässt) auch demjenigen der derzeitige Regierung Montenegros.
Von Vertretern der ersten Position wird den Vertretern dieser Position oft "sprachlicher Separatismus" vorgeworfen, von Vertretren der dritten Position hingegen ein Festhalten an angeblich "serbisierten" Sprachnormen aus jugoslawischer Zeit.
[Bearbeiten] Montenegrinisch als eigenständige Sprache mit neuer Kodifikation
Der Standpunkt, das Montenegrinische sei schon von alters her eine eigenständige Sprache, deren Merkmale durch die bisherigen Kodifikationen nicht hinreichend wiedergegeben würden, wird vor allem von dem in Zagreb ausgebildeten Philologen Vojislav Nikčević, heute Leiter des Instituts für Montenegrinische Sprache in Podgorica, vertreten.
Er hat eine eigene Kodifikation der montenegrinischen Spache ausgearbeitet, die sich deutlich von dem bisherigen schriftsprachlichen Usus in Montenegro unterscheidet. Seine Lehr- und Wörterbücher des Montenegrinischen wurden von kroatischen Verlagen veröffentlicht, weil sich die größten montenegrinischen Verlagshäuser, wie z. B. „Obod Cetinje“, an die offiziellen Sprachnormen und Sprachbezeichnungen halten (bis 1992 Serbokroatisch, danach Serbisch).
Die auffälligsten Merkmale von Nikčevićs Kodifikation sind die Schaffung der Buchstaben <ś>, <ź> und <з> für die seiner Ansicht nach spezifisch montenegrinischen Laute [ɕ], [ʑ] und [dz] sowie die Wiedergabe der Palatalisierung von t und d vor je in der Schrift. Außerdem betont er morphologische und lexikalische Unterschiede gegenüber dem Serbischen und den anderen Nachbarsprachen.
Die schriftsprachliche Praxis der letzten Jahrzehnte in Montenegro ist laut Nikčević abzulehnen, da sie einen "serbisierten" Sprachzustand wiedergebe, der diese Spezifika nicht angemessen berücksichtige.
Kritiker wenden jedoch ein, dass die Laute [ɕ], [ʑ] und [dz] den standardsprachlichen Kombinationen [sj], [zj] und [z] entsprächen. Außerdem seien diese Lautkombinationen nicht auf das Staatsgebiet Montenegros beschränkt, sondern auch bei Sprechern anderer štokavischer Dialekte wie slawischen Muslimen und Kroaten anzutreffen. So entsprechen die von Verfechtern dieser Norm des Montenegrinischen beanspruchten Schreibweisen śekira ‘Axt, Beil’, predśednik ‘Vorsitzender, Präsident’ und iźelica ‘Vielfraß’ den standardsprachlichen ijekavisch-serbischen Varianten sjekira, predsjednik und izjelica. Ähnlich verhalte es sich mit den palatalisierten t (tj) und d (dj), die Nikčević als ć und đ darstellt. So entspreche das montenegrinische Verb ćerati ‘[an]treiben’ dem ijekavisch-serbischen tjerati bzw. đevojka ‘Mädchen’ dem serbischen djevojka [2].
De facto wird Nikčevićs Sprachnorm derzeit vor allem von ihm selbst verwendet. Während es deutliche Bestrebungen gibt, dem Montenegrinischen offiziell den Status einer eigenen Sprache zuzuerkennen, gibt es kaum Anzeichen dafür, dass eine solche Entscheidung mit der Annahme dieser neuen Kodifikation verbunden sein könnte. Vielmehr scheinen die Anhänger einer Eigenständigkeit des Montenegrinischen im politischen Bereich in der Praxis meist den bisherigen Normen des "montenegrinischen standardsprachlichen Ausdrucks" zu folgen.
[Bearbeiten] Historische und politische Erwägungen
Die Entstehung der montenegrinischen Sprache gilt unter einigen Historikern und Slawisten als ein Ausdruck der umfassenden Atomisierung des ehemaligen Jugoslawiens, wie etwa im Fall des Bosnischen, das 1995 implizit durch den Vertrag von Dayton als linguistisch-politisches Konstrukt erschaffen wurde. So sind Montenegriner heute viersprachig: sie beherrschen Montenegrinisch, Bosnisch, Serbisch und Kroatisch.
Dagegen betrachten sich viele Montenegriner als Serben, die einer jahrhundertelangen „Entserbungspolitik“ des Osmanischen Reiches, Österreich-Ungarns, des Dritten Reiches, Stalins und Titos ausgesetzt gewesen seien. Zahlreiche Beispiele für die Anerkennung des gemeinsamen Serbentums fänden sich etwa in der Prosa und Poesie des montenegrinischen Herrschers Petar II. Petrović Njegoš.
Ob die genannten phonetischen und lexikalischen Unterschiede zur serbischen Hochsprache eine Bezeichnung des Montenegrinischen als Einzelsprache rechtfertigen, ist eine politische Frage, die in verschiedenen Zeiten unterschiedlich beurteilt wurde. Daraus wird ersichtlich, dass phonetische, lexikalische und semantische Unterschiede nur bedingt als objektive Abgrenzungskriterien für Einzelsprachen geeignet sind und mit Instrumenten der Sprachpolitik willkürlich und systematisch gestaltet werden können. Darüber hinaus wird die Entstehung nationaler Sprachen seit den 1990ern zunehmend als eine Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts der Völker verstanden.
[Bearbeiten] Anmerkungen
- ↑ Verfassung der Republik Montenegro vom 12. Oktober 1992
- ↑ vgl. auch das serbische ћ/ђ und das mazedonische ќ/ѓ
[Bearbeiten] Literatur
- Greenberg, Robert D. Language and Identity in the Balkans: Serbo-Croatian and its Disintegration. Oxford u.a. 2004. ISBN 0-19-925815-5.
- Егон Фекете, Драго Ђупић, Богдан Терзић: Српски језички саветник. Српска Школска Књига, Belgrad 2005. ISBN 86-83565-23-8
[Bearbeiten] Siehe auch
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