Radikalismus und Extremismus
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Die Begriffe Radikalismus und Extremismus beschreiben die Politik bestimmter Gruppen, ihre Ziele und Methoden, als fundamentale Abweichung von den Werten der jeweils bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.
Umgangssprachlich werden die Begriffe oft synonym verwendet. Meist wird Extremismus als Steigerung von Radikalismus verstanden: Beide Haltungen wollten die Gesellschaft grundlegend verändern, wobei „Extremisten“ eher zu Gewalt bereit seien. Oft werden beide Begriffe in der Bedeutung des Wortes Fanatismus verwendet. In der Wissenschaft sind Definition, Unterscheidung und Anwendbarkeit beider Begriffe umstritten.
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[Bearbeiten] „Radikalismus“
Das Attribut „radikal“ leitet sich vom lateinischen radix (Wurzel) her und beschreibt das politische Ziel, eine Gesellschaft grundlegend, „an der Wurzel”, zu verändern. Der Begriff beschreibt dabei nur die Entschlossenheit und Konsequenz des politischen Handelns, aber keine bestimmte inhaltliche Richtung.
Im 19. Jahrhundert wurde ein Teil der gegen die konservative Ordnung der Restaurationszeit opponierenden liberalen Bewegung (in der Schweiz auch Freisinn genannt) als „radikal“ bezeichnet. Die Radikalen forderten die liberalen Freiheitsrechte, wollten aber weitergehend auch das Zensuswahlrecht durch ein allgemeines, freies Männerwahlrecht ersetzen und die völlige und sofortige Ablösung der feudalen Grundlasten erreichen. Sie waren auch bereit, ihre Ideen mit Gewalt durchzusetzen. In verschiedenen Kantonen der Schweiz kam es nach der Julirevolution 1830 zu radikalen Umstürzen, der liberalen „Regeneration“. Gegen den konservativ-regierten Kanton Luzern organisierten die Radikalen 1844/45 sogenannte Freischarenzüge, um einen gewaltsamen Umsturz herbeizuführen.
Nach 1847 wurde in der Schweiz oft „radikal“ und „freisinnig“ bzw. „liberal“ bedeutungsgleich verwendet. „Radikal“ war dieser Flügel der Liberalen also sowohl hinsichtlich ihrer Ziele (radikaldemokratisch) als auch ihrer Mittel (gewaltsamer Umsturz der konservativen Regierungen). In der französischsprachigen Schweiz nennt sich die Freisinnig-Demokratische Partei noch heute Parti radical-démocratique Suisse und wird im Volksmund als les radicaux bezeichnet.
In den 1960er Jahren galten in Deutschland „Radikale“ für die Bevölkerungsmehrheit, die im Bundestag vertretenen Parteien und die staatlichen Behörden überwiegend als gefährliche, die Verfassung der Bundesrepublik bedrohende Kräfte. Dies brachte etwa der 1972 beschlossene Radikalenerlass zum Ausdruck. Bis 1973 verwendete der Verfassungsschutz den Begriff „Radikalismus“ für „als verfassungsfeindlich angesehene Bestrebungen“. Danach wurde der Begriff in dieser Bedeutung zunehmend von „Extremismus“ abgelöst.
„Radikalismus“ ist dennoch positiver besetzt als „Extremismus“ und wird daher auch von manchen Gruppen selber verwendet, die die bestehende Staatsverfassung von Grund auf kritisieren und verändern wollen. Die APO der 68er z.B. nahm die ursprüngliche Fremdbezeichnung für sich in Anspruch: Wir sind eine kleine radikale Minderheit. Dabei beziehen solche Gruppen das Attribut „radikal“ auf ihre Ziele, nicht ihre Methoden, während sie das Attribut „extrem“ als staatliche Abwertung verstehen und ablehnen.
In der Politologie beschreibt der Begriff „Radikalismus“ eine Grauzone zwischen Demokratie und „Extremismus“.
[Bearbeiten] „Extremismus“
Das Attribut „extrem“ ist vom lateinischen extremus (äußerster, letzter, übersteigert) abgeleitet. Der Begriff beruht auf der Idee eines politischen „Spektrums“, das eine „Mitte“ und „Ränder“ (ganz links und ganz rechts außen) besitze. Er bestimmt das gemeinte Verhalten und Denken als Gegensatz zu einem gesellschaftlich und staatlich etablierten Demokratieverständnis, das er damit zugleich als „Normalität“ definiert. Er kennzeichnet eine Politik als „äußeren Rand“, von dem eine Gefährdung dieser Normalität ausgehen könne, ohne auf die sonstigen Differenzen innerhalb so bezeichneter Gruppen einzugehen und die mögliche Weiterentwicklung der „Mitte“ zu berücksichtigen.
Als Extremismus erfassen Politologen wie Uwe Backes politische Diskurse, Programme und Ideologien, die sich implizit oder explizit gegen grundlegende Werte und Verfahrensregeln demokratischer Verfassungsstaaten richten. Der Begriff entstammt den Totalitarismustheorien und wurde im Kalten Krieg von westlichen Staatsbehörden geprägt. Heute verwenden die meisten der im Parlament vertretenen politischen Parteien ihn ebenso wie die Institutionen der repräsentativen Demokratie, darunter vor allem der bundesdeutsche Verfassungsschutz. Dieser definiert Extremismus als fundamentale Ablehnung des demokratischen Verfassungstaats (definitio ex negativo). Darunter fallen alle Bestrebungen, die sich gegen den „Kernbestand“ des Grundgesetzes oder die „Freiheitliche demokratische Grundordnung“ (FDGO) insgesamt richten.
Da der Begriff eine starke Abweichung von der gesellschaftlichen Norm bezeichnet und diese zugleich negativ wertet, nennen sich so genannte Gruppen nicht selbst „Extremisten“. Sie sehen in dieser Zuschreibung vielmehr eine Herabsetzung und Ausgrenzung ihrer politischen Positionen aus dem demokratischen Meinungsspektrum und dem gesellschaftlichen Diskurs.
[Bearbeiten] Hauptarten
Im staatlichen Sprachgebrauch hat der Begriff „Extremismus“ den des „Radikalismus“ heute weitgehend verdrängt und abgelöst. Seine Hauptarten sind:
- der Linksextremismus: Dieser galt seit dem Terror der RAF in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik als Hauptgefahr für den Verfassungsstaat. Darunter werden sehr verschiedene politische Richtungen erfasst, die im Kapitalismus den Grund allen Übels sehen: einerseits Autonome und Anarchisten, andererseits K-Gruppen und Parteien, die Formen des Kommunismus und Sozialismus anstreben. Dabei bezieht sich die Einordnung als Linksextremismus oft eher auf programmatische Ziele als auf tatsächliche Politik.
- der Rechtsextremismus: Auch hier werden verschiedene Gruppen und Parteien in eine gemeinsames Spektrum „rechts von“ den konservativen demokratischen Parteien eingeordnet. Als Hauptdifferenz zum Linksextremismus wird genannt, dass der Rechtsextremismus das „Ethos fundamentaler Menschengleichheit“ ablehne (Uwe Backes). Diese Strömung wird seit dem Mordanschlag von Solingen, dem Brandanschlag von Mölln, dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und ausländerfeindlichen Übergriffen in Hoyerswerda als weit gefährlicher eingeschätzt als der Linksextremismus. Seit dem vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“ und dem Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens hat die Aufmerksamkeit in den Medien wie auch bei Behörden hier jedoch wieder nachgelassen.
- der religiöse Extremismus. Dieser gilt seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 als größte Gefahr, die besonders von Gruppen ausgeht, die der Al Quaida nahestehen.
Einige Autoren benutzen seit Anfang der 1990er Jahre zudem den Begriff eines Extremismus der Mitte, um auf intolerante Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft aufmerksam zu machen, die den „Resonanzboden“ für die Ausbreitung extremer Einstellungen bilden könnten.
[Bearbeiten] Kritik
Vor dem Hintergrund der historischen Herkunft und aktuellen Verwendung der Begriffe ist in der Extremismusforschung umstritten, ob sie demokratische Positionen wirklich gegenüber „radikalen“ oder „extremistischen“ Tendenzen verteidigen können. Kritiker heben hervor: Da die „Definitionsmacht“ hier bei staatlichen Institutionen liege, bestünde die Gefahr, daß andere Demokratievorstellungen als die gegebenen ausgeblendet werden und Minderheitspositionen tendenziell mit illegitimer Politik gleichgesetzt werden.
Beide Begriffe dienen dazu, Gruppen und Personen mit unterschiedlichen Zielen und Inhalten anhand idealtypischer Merkmale zu betrachten. Damit werden nach Ansicht ihrer Kritiker inhaltliche Divergenzen nur mangelhaft berücksichtigt. Anhänger des klassischen Extremismusbegriffs vertreten demgegenüber den Standpunkt, daß unterschiedliche Endzielvorstellungen und mögliche unterschiedliche moralische Wertigkeit verschiedener politischer Lager verhältnismäßig unbeachtlich sind, wenn trotz unterschiedlicher Ideale eine die persönliche Freiheit aufhebende Diktatur herauskommt oder herauszukommen droht.
Anhand der Kritik an idealtypischen Extremismusbegriffen werden in Teilen der Wissenschaft realtypische Begriffe gefordert, die die Inhalte und Zielsetzungen der betrachteten Gruppen beachten sollen, während staatsnahe Vertreter nicht von einer grundsätzlichen Untauglichkeit der etablierten Begriffe ausgehen.
Die Verwendung des Oberbegriffs Extremismus zur Abgrenzung vom demokratischen Spektrum ist für staatliche Behörden und Gerichte offenbar einfacher und sinnvoller als für die Wissenschaft. So meint der Parteienforscher Gero Neugebauer, dass von einer eigenständigen Extremismusforschung bislang kaum die Rede sein könne. Die entsprechende Literatur fasse vor allem Ergebnisse anderer Forschungsbereiche unter den Extremismusbegriff, aufgeteilt nach Links- und Rechtsextremismus, zusammen. Während es in Bezug auf den Rechtsextremismus allerdings durchaus beachtliche Forschungsleistungen gebe, treffe das für den Linksextremismus nicht zu. Auch werde das Extremismuskonzept wegen seiner „Eindimensionalität“ und „Fixierung auf den demokratischen Rechtsstaat“ der komplexen gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kaum gerecht.
Eindimensional sei der Begriff wegen der Vorstellung einer Achse, auf der sich das politische Spektrum von links über die Mitte bis nach rechts gruppiere. Aus diesem Konstrukt ergäben sich vielfältige Zuordnungs- und Abgrenzungsprobleme und damit erhebliche Interpretationsspielräume. Der Extremismus markiere jeweils den äußersten Rand des Spektrums. Darin liege bereits eine politische Wertung. Aus dieser normativen Sicht leite sich ein Extremismusbegriff, der alle Einstellungen, Verhaltensweisen, Institutionen und Ziele umfasst, die sich gegen den demokratischen Verfassungsstaat richten. In dieser Sicht gebe es Merkmale, die allen Extremismen gemeinsam sind: ein Alleinvertretungsanspruch, die Ablehnung pluralistisch-demokratischer Systeme, Dogmatismus, Freund-Feind-Denken und ein Fanatismus, dem jedes zum Ziel führende Mittel legitim erscheint.[1]
Doch auch die Befürworter dieser Sicht betonen, dass die Gemeinsamkeit in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates nicht über die fundamentalen Unterschiede hinwegtäuschen dürfe. So betonen etwa Uwe Backes und Eckhard Jesse:
- Zwischen rechten und linken Extremismen, Anarchisten und Kommunisten, Monarchisten und Neonationalsozialisten bestehen beträchtliche Divergenzen, so dass rechts- und linksextreme Gruppen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch untereinander oft heftig bekämpfen.[2]
Für Neugebauer hat der normative Extremismusbegriff deshalb Stärken und Schwächen: Er eigne sich vor allem dazu, "Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu identifizieren und ihr Verhalten gegebenenfalls zu sanktionieren" (s. 2). Der amtliche Extremismusbegriff leite sich aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1956 her, in der dieses die Prinzipien der "wehrhaften Demokratie" des Grundgesetzes präzisierte und den Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einführte (BverfGE 5, 141). Der Begriff Extremismus selbst ist jedoch kein Rechtsbegriff - er findet sich weder in der Verfassung noch einem anderen Gesetzestext -, sondern ein Arbeitsbegriff für die Verwaltungspraxis. Der Begriff wird erst seit dem Verfassungsschutzbericht von 1973 verwendet.
Zuvor war in dem Zusammenhang von Rechts- bzw. Linksradikalismus gesprochen worden. Der damalige Innenminister Werner Maihofer begründete diesen Begriffswechsel mit dem Hinweis, dass politische Bestrebungen nicht allein deshalb verfassungswidrig sei, weil sie radikale Fragen stelle (s. Neubauer, S. 3). In der wissenschaftlichen Literatur werden diese Begriffe nach Neugebauer dagegen nicht präzise abgegrenzt und oft synonym verwendet. In der amtlichen Terminologie macht es jedoch einen erheblichen Unterschied aus, ob eine Bestrebung oder Organisation als radikal oder extremistisch eingeschätzt wird, da sich daraus eine Einschätzung zur Verfassungsmäßigkeit ableiten lässt.
Erschwerend kommt für den Extremismusbegriff hinzu, dass die Zuordnungen zu einem politischen Spektrum einem zeitlichen Wandel unterworfen sein können. Daher lehnt etwa Neugebauer die Verwendung des eindimensionalen Achsenmodells für die Sozialwissenschaften als unterkomplex ab. Der Extremismusansatz habe sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht durchsetzen können.
Der Linksextremismus sei politisch und ideologisch wesentlich inhomogener als der Rechtsextremismus. Daher habe sich zwar eine sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung, aber keine Linksextremismusforschung etabliert.
Im Kontext behördlicher Exekutivmaßnahmen habe der Begriff dagegen seinen Sinn.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Gero Neugebauer: Extremismus – Rechtsextremismus - Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen - Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen (pdf)
- ↑ Uwe Backes / Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 19964, S. 45 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 272), zitiert nach Neugebauer in Extremismus.com, S. 2.
[Bearbeiten] Literatur
- Uwe Backes, Eckhard Jesse: Vergleichende Extremismusforschung. Nomos, Baden-Baden 2005, ISBN 3-8329-0997-4
- Steffen Kailitz: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Einführung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-14193-7
- Wolfgang Wippermann: Über »Extremismus«, »Faschismus«, »Totalitarismus« und »Neofaschismus«. In: Siegfried Jäger, Alfred Schobert (Hrsg.): Weiter auf unsicherem Grund. Faschismus - Rechtsextremismus - Rassismus: Kontinuitäten und Brüche. Duisberger Institut für Sprach- und Sozialwissenschaften, Duisburg 2000, ISBN 3-927388-75-0
[Bearbeiten] Weblinks
- Mirko Heinemann: Wirrwar der Begriffe - Die Unterschiede zwischen Radikalismus, Extremismus und Populismus, in Das Parlament 45/2005
- Bundeszentrale für politische Bildung
- www.extremismus.com
- NRW-Innenministerium: Was verstehen die Verfassungsschutzbehörden unter Extremismus?
- Definitionen des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg
- BMI: Feindbilder und Radikalisierungsprozesse (pdf)