Sozialstaat
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Der Begriff Sozialstaat bezeichnet ein Gemeinwesen, das bestrebt ist, soziale Unterschiede – etwa materieller Natur – zwischen seinen Mitgliedern bis zu einem gewissen Grad auszugleichen, um die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu gewährleisten.
Verfassungsrechtler benutzen daher auch den Begriff sozialer Rechtsstaat. Der Staat sollte die Lebensbedingungen der Bevölkerung in prinzipiell allen Bereichen unter Gesichtspunkten von sozialer Gerechtigkeit und Gemeinwohl gestalten.
Der Sozialstaat soll soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit herstellen, seine Bürger vor Notlagen bewahren oder ihnen im Falle der Not Hilfe anbieten. Ausdruck des Sozialstaatsprinzips in Deutschland sind die Sozialversicherungen. Dazu zählen die Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung.
Sozialstaat wird dabei im Deutschen meist synonym zu Wohlfahrtsstaat verwendet, impliziert aber auch ein maßvolleres Alternativkonzept gegenüber dem als freiheitsgefährdend wahrgenommenen Ausufern des Wohlfahrtsstaats.
Neben einer Kritik am Sozialstaat von Seiten einer uneingeschränkten Befürwortung freier Marktwirtschaft gibt es v. a. Kritik aus feministischer Perspektive: diese stellt die Frage nach der im Sozialstaat angenommenen und reproduzierten geschlechtlichen Arbeitsteilung und der daraus resultierenden sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Verankerung im Grundgesetz
Das Sozialstaatsprinzip gehört neben dem Rechtsstaats-, dem Föderalismus- und dem Demokratieprinzip zur Grundlage der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz (Art. 20 GG) legt fest:
- „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
Das Sozialstaatsprinzip ist damit im Grundgesetz als Staatsziel verankert, das neben der Garantie der Menschenwürde und der Menschenrechte den Schutz der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel) genießt.
Der Grundrechtskatalog der Art. 1-19 GG nennt aber mit Ausnahme des Mutterschutzes in Art. 6 Abs. 4 GG explizit keine rechtlich bindenden sozialen Grundrechte oder Teilhaberechte, wie etwa ein Recht auf Arbeit. Auch eine bestimmte Wirtschaftsordnung gibt die Verfassung nicht vor. Sie schützt das Privateigentum, bindet dessen Nutzung aber an das Gemeinwohl. Art. 14 Abs. 2 GG lautet: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
Infolgedessen wird das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik oft als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet, da der Staat sich das Recht vorbehält, umverteilend in das Wirtschaftsleben einzugreifen, während sich die Wirtschaft zugleich am Markt orientiert - im Gegensatz zur zentralen Planwirtschaft. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ geht auf den Volkswirtschaftler Alfred Müller-Armack zurück, der unter Ludwig Erhard Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium war.
[Bearbeiten] Geschichte des Sozialstaats
Bereits in der Antike und im Mittelalter gab es vereinzelt Versuche von Seiten des Staates, die materielle Not seiner Bürger oder Untertanen zu lindern. Dahinter stand seit je her der Gedanke, Unruhen und Aufstände zu verhindern und für politische Stabilität zu sorgen.
Auch die Ursprünge des modernen Sozialstaatsgedankens gehen auf solche Überlegungen zurück. Entwickelt hat er sich im 19. Jahrhundert als Folge der Industriellen Revolution und der Massenverelendung breiter Bevölkerungsschichten. Er basiert auf der Erkenntnis, dass Eigentum die Basis für die Ausübung von Rechten ist und dass Freiheit substanzlos bleibt, wenn ihre Ausübung nicht durch Eigentum gewährleistet ist. Durch staatliche Umverteilung sollten Arme und Schwache eine elementare Grundsicherung erhalten.
Soziales Handeln war aber immer zugleich Ordnungspolitik, die auf die Erhaltung des sozialen Friedens abzielte. So sollten die unter Reichskanzler Otto von Bismarck in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland eingeführte Renten-, Kranken- und Unfallversicherung die wachsende Bevölkerungsschicht der Industriearbeiter von revolutionären Bestrebungen abhalten. Der Schwerbeschädigtenschutz wurde nach dem 1. Weltkrieg 1919, die Arbeitslosenversicherung 1927 eingeführt. 1995 folgte die Pflegeversicherung.
Seit dem 2. Weltkrieg wurden die sozialstaatlichen Leistungen in fast allen westeuropäischen Staaten über die reine Grundsicherung hinaus erweitert.
[Bearbeiten] Krise des Sozialstaats
Angesichts wirtschaftlicher Probleme des Sozialstaates durch den nachlassenden Wirtschaftsboom, der deutschen Wiedervereinigung, der Globalisierung, der demographischen Entwicklung in Deutschland („Überalterung“), der Ausweitung der Staatsverschuldung und des Anwachsens der Arbeitslosigkeit, aber auch im Hinblick auf eine Prioritätverschiebung der Regierung im Hinblick auf den Bundeshaushalt zugunsten der Sicherheitspolitik (später auch im Rahmen des sogenannten Krieg gegen den Terrorismus), kam es zur Kritik an der Ausgestaltung des Sozialstaats von denen, die ihn einst propagierten und damit zu Reformbemühungen seitens der Politik. Zum Teil wurden staatliche Leistungen, die über Steuern und Abgaben sowie Neuverschuldung des Staates nicht mehr finanziert werden konnten, gekürzt.
Strukturelle Merkmale von Sozialstaaten, welche die Beschäftigung fördern und dadurch die Grundlagen für das Funktionieren des Sozialstaats erhalten können, zeigt Diether Döring in dem Artikel „Der verlorene Charme des Sozialstaats“ auf:[1]
- niedrige Belastung der Beschäftigungsverhältnisse durch lohnbezogene Sozialabgaben, Finanzierung der Sicherungssysteme in hohem Maße mit steuerlichen oder steuerähnlichen Elementen.
- Finanzierung der Sicherungssysteme in gleichgewichtigerer Mischung von Deckungsverfahren: Zur üblichen Umlagefinanzierung stärkere Beimischung von Kapitaldeckungskomponenten, „insbesondere in der Alterssicherung“, dadurch würden Stabilitätsvorteile erreicht.
- Begünstigung von Menschen mit niedrigem Einkommen in der sozialen Sicherung „in Hinblick auf Finanzierungsbeiträge und/oder die Absicherung“, dadurch Förderung von Teilzeitarbeit und höhere Differenzierung des Arbeitsmarktes. Auch Förderung der Beschäftigung von älteren Erwerbstätigen.
- Hohe Investitionen in Bildung und Weiterbildung durch Staat und Unternehmen.
- Vergleichbare Behandlung unterschiedlicher Erwerbsformen in Bezug auf die sozialen Sicherungssysteme, z.B. unselbstständige und selbstständige Arbeit, niedrige Schwellen zwischen den Beschäftigungsformen.
- Erleichterung der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und privatem Leben, z. B. durch kostengünstige Möglichkeiten der Kinderbetreuung.
Die Krise des Sozialstaates und ihre politischen Lösungsversuche (Agenda 2010, Hartz-Gesetze, Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67, stärkere Belastung von Kranken und Rentnern) bewirkte eine Kritik durch Gewerkschaften, Sozialverbände und sozialen Bewegungen (Montagsdemonstrationen, Aktionstage des DGB) und führte zur Formierung der WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit), die mit 12 Abgeordneten in der Fraktion „die Linke“ vertreten ist. Bekannte Vertreter dieser Strömung sind Oskar Lafontaine und Klaus Ernst. Deren Forderungen zielen auf die Erneuerung des Sozialstaates durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Gerhard Bäcker The dismantling of welfare in Germany, Düsseldorf, 1998
- Gerhard Bäcker u. a. Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Bd.1 / Ökonomische Grundlagen, Einkommen, Arbeit und Arbeitsmarkt, Arbeit und Gesundheitsschutz, April 2006, ISBN 3531133330
- Christoph Butterwegge, Rudolf Hickel, Ralf Ptak: Sozialstaat und neoliberale Hegemonie. Vom Standortnationalismus zur Auflösung der Demokratie. ESPRESSO-Verlag, 1998, ISBN 3-88520-718-4
- Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, ISBN 3-8100-4138-6
- Gerd Habermann Der Wohlfahrtsstaat
- Friedrich August von Hayek Der Weg zur Knechtschaft
- Teresa Kulawik: Wohlfahrtsstaaten und Geschlechterregime im internationalen Vergleich http://web.fu-berlin.de/gpo/teresa_kulawik.htm
- Manfred Lauermann, „Das Schwanken des Sozialstaates zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft“, in: Uwe Carstens u.a., Neuordnung der sozialen Leistungen, Norderstedt 2006, S. 111-158 [+ S. 174], ISBN 3-8334-6477-1
- Alfred Müller-Armack: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. (versammelt Frühschriften 1945–1948 sowie Beiträge zu den geistigen Grundlagen und zur Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft von 1953 bis 1973). Zuerst 1974; 2. erw. Auflage (1981).
- Frank Pilz: Der Sozialstaat. Ausbau – Kontroversen – Umbau (Schriftenreihe; Bd. 452). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2004.
- Friedrun Quaas: Soziale Marktwirtschaft. Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts. Haupt, 2000, ISBN 3-258060-126
[Bearbeiten] Weblinks
- „Sozialstaat“ in Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik (Bundeszentrale für politische Bildung)
- Information des Bundes über das Thema "Sozialstaat"
- Die Zukunft des Sozialstaats in Europa - 1.Teil. Die Quadratur des Kreises: Schweden Telepolis
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ FAZ vom 5. August 2006, S. 13