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Soziale Gerechtigkeit

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Soziale Gerechtigkeit bezeichnet ein Leitbild einer Gemeinschaft, in der die Verteilung ihrer Güter den vorherrschenden ethischen Prinzipien dieser Gemeinschaft entspricht.

Gerechtigkeit ist eine sehr alte Forderung, mit einer Begriffsgeschichte, die bis in die Antike zurück reicht (vgl. Dike, Aristoteles). Der Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Sozialen Frage. In Deutschland wird er wieder seit den 1990er Jahren zunehmend in der politischen Diskussion benutzt. Hierbei sehen einige die "soziale Gerechtigkeit" als Schlüsselbegriff und Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft an, von anderen wird sie als inhaltsleeres Schlagwort betrachtet – z.B. spricht das erste größere philosophische Werk, welches den Begriff zum Thema macht, von der "Illusion der sozialen Gerechtigkeit" (Friedrich August von Hayek, The Mirage of Social Justice, London 1976).

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Ideengeschichte

Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles und Thomas von Aquin kennt drei Unterarten: Die austeilende Gerechtigkeit, die legale Gerechtigkeit und die Verkehrsgerechtigkeit. Der Begriff "soziale Gerechtigkeit" tauchte als Ergänzung dazu erst gemeinsam mit der sozialen Frage in der Industriegesellschaft auf. Zum Unterschied vom auf Aristoteles zurückgehenden Denkmodell, welches nur die Beziehung von Einzelpersonen untereinander (Verkehrsgerechtigkeit) oder zum Staat (verteilende und legale Gerechtigkeit) betraf, bezeichnete der Begriff soziale Gerechtigkeit auch jene Verhältnisse, als deren Subjekte und Objekte soziale Schichtungen und Strukturen gelten.

[Bearbeiten] Dimensionen sozialer Gerechtigkeit

Soziale Gerechtigkeit wird vor allem hauptsächlich in zwei Dimensionen beschrieben: Chancen- bzw. Verfahrensgerechtigkeit zum einen sowie Verteilungs- bzw. Ergebnisgerechtigkeit zum anderen.

Zwar sind in jeder existierenden Gesellschaft beide Dimensionen (wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß) vertreten. Auch stehen sie nicht in direktem Gegensatz zueinander, sondern gemeinsam im Gegensatz zu sozialer Ungerechtigkeit.

Dennoch kann weitgehende Ergebnisgerechtigkeit nur durch eine Einschränkung der Verfahrensgerechtigkeit hergestellt werden, Verfahrensgerechtigkeit allein führt hingegen keineswegs zu hinlänglicher Ergebnisgerechtigkeit. Daher heben unterschiedliche politische Denkschulen stets eine der beiden Dimensionen gegenüber der anderen hervor.

[Bearbeiten] Chancengerechtigkeit

Das liberal-demokratische Verständnis von sozialer Gerechtigkeit orientiert sich vornehmlich daran, den Menschen gleiche Chancen und Möglichkeiten zu verschaffen, am ökonomischen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich selbst zu verwirklichen. Dies wird mit dem Begriff ‚Chancengerechtigkeit‘ beschrieben.

Einschränkend kann man auch von ‚Verfahrensgerechtigkeit‘ sprechen, gemeint ist damit, dass die verwendeten Verfahren aufgrund der Gleichbehandlung aller keine (zusätzliche) Ungerechtigkeit schaffen.

Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit -> Jedem das seine <-> jedem das gleiche.

[Bearbeiten] Verteilungsgerechtigkeit

Im sozial-humanistischen Verständnis wird der Begriff Gerechtigkeit anders und in mancher Hinsicht weitreichender definiert. Selbst unter – in der Realität ohnehin nicht zu erreichenden – gleichen Bedingungen bestehen gewisse Ungleichheiten, die man als Ungerechtigkeit begreifen kann. Von Gerechtigkeit kann demnach nur im Sinne einer Ergebnis- oder Verteilungsgerechtigkeit gesprochen werden, die sich daran orientiert, ob die Verteilung (insbesondere die unter Einkommens- und Vermögensaspekten) im Ergebnis gerecht ist.

(Ökonomische) Verteilungsgerechtigkeit kann durch das Gewähren von Sozialleistungen bzw. allgemeiner durch ökonomische Umverteilung mittels Steuern und Transfers erreicht werden. Der Staat nimmt hierbei denjenigen mit einem höheren Einkommen bzw. größeren Besitz etwas weg, um es schlechter Gestellten zu geben.

Bei der Teilhabe – etwa an politischen Ämtern, Studien- oder Arbeitsplätzen – wird Verteilungsgerechtigkeit häufig mittels Quotenregelungen angestrebt. Während solche Maßnahmen durchaus geeignet sind, bestehender Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, stellen sie allerdings gleichzeitig einen Eingriff in die Verfahrensgerechtigkeit dar.

[Bearbeiten] Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit

Grundlegende, sich in ihren politischen Folgerungen teilweise widersprechende Maßstäbe der "Verteilungsgerechtigkeit" sind dabei die "Leistungs-" und die "Bedarfsgerechtigkeit".

Mit Leistungsgerechtigkeit ist gemeint, dass es gerecht sei, nicht auf Grund seiner Herkunft, sondern durch eigene Anstrengung und Leistung zu dem zu werden, was man ist.

Mit Bedarfsgerechtigkeit ist gemeint, dass eine Gesellschaft nur dann gerecht sei, wenn sie gemäß ihren Ressourcen die Bedürfnisse der Menschen möglichst gerecht befriedige.

[Bearbeiten] Das Sozialstaatsprinzip in Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland wird Soziale Gerechtigkeit als ideelles Ziel des aus dem Sozialstaatsgedanken des Artikel 20, Absatz 1 des Grundgesetzes abgeleiteten Bestreben der Sozialpolitik angesehen. Dem Bürger soll eine existenzsichernde Teilhabe an den materiellen und geistigen Gütern der Gemeinschaft garantiert werden. Insbesondere wird auch angestrebt, eine angemessene Mindestsicherheit zur Führung eines selbst bestimmten Lebens in Würde und Selbstachtung zu gewährleisten.

Für die aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitete Verpflichtung des Staates zu einer gerechten Sozialordnung steht dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Januar 1982, BVerfGE 59,231).

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der Schweiz ist die soziale Ungleichheit deutlich niedriger als im internationalen Durchschnitt (gemessen im Gini-Koeffizient). Allerdings wächst nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef die Kinderarmut schneller als in den meisten anderen Industriestaaten. Neben den PISA-Studien sehen auch andere international vergleichende Bildungsstudien (z.B. Euro-Student-Report, UNICEF-Studie Educational Disadvantage in Rich Nations) Deutschland auf den hintersten Rängen bezüglich sozialer Gerechtigkeit. Zudem zeigten (West-)Deutsche nach einer Studie der EU die mit Abstand geringste "Diskriminierungs-Sensibilität" in Europa.

[Bearbeiten] Konzeptualisierungen

[Bearbeiten] Soziale Gerechtigkeit aus marxistischer Sicht

Nach marxistischer Auffassung ist soziale Gerechtigkeit eine zentrale sozialistische Forderung, insbesondere der Werktätigen. Der arbeitende Mensch solle sich unter den Bedingungen sozialer Gleichberechtigung, sowie unter Wahrung der persönlichen Würde in der Gemeinschaft frei, selbst bestimmt und schöpferisch betätigen können. Soziale Gerechtigkeit richtet sich als Forderung im Bereich der ökonomischen, rechtlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen im Kern gegen die unterstellte Tendenz des Kapitals zu maßlosem Profitstreben und zum Missbrauch der kapitalistischen Macht, die im Resultat zwangsläufig die sozialen und demokratischen Rechte der Bevölkerung beschneide und ihre soziale Existenz dauerhaft verunsichere. Diese Auffassung grenze sich von der Sicht der "bürgerlichen Ideologien" ab, die, losgelöst von den sich konkret entwickelnden Verhältnissen, in "sozialer Gerechtigkeit" ein allgemein menschliches Ideal sähen und infolgedessen illusorisch einen demokratischen Wohlfahrtsstaat abgehoben von den gesellschaftlichen Bedingungen propagierten.

[Bearbeiten] Sozialdemokratischer Ansatz

Eine Arbeitsgruppe im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES, siehe externer Link "Soziale Gerechtigkeit und Demokratie") entwickelte aus vier zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien (F. A. von Hayek, John Rawls, Michael Walzer und Amartya Sen) als "Prinzipien" für "soziale Gerechtigkeit"

  • die Gleichverteilung der Zugangsmöglichkeiten zu den notwendigen Grundgütern für die individuell zu entscheidende Entfaltung von Lebenschancen und
  • die Stärkung der individuellen Fähigkeiten (capabilities), die persönliche Autonomie, Würde, Entscheidungsfreiheit, Lebenschancen und Optionsvielfalt schützen, sichern und erweitern.

Aus diesen beiden Prinzipien werden fünf Dimensionen sozialer Gerechtigkeit abgeleitet:

  1. Vermeidung von Armut
  2. Soziale Chancen durch Bildung
  3. Soziale Chancen durch einen integrativen Markt (Beschäftigungsquote, angemessene Einkommensverteilung)
  4. Berücksichtigung der besonderen Rolle der Frau
  5. Soziale Sicherung (Gesundheits- und Sozialausgaben im Verhältnis zum Sozialprodukt)

Dieses Verständnis sozialer Gerechtigkeit ist stark auf die gerechte (hier: gleiche) Verteilung von Zugangschancen gerichtet. Nachträgliche Umverteilungen durch passive sozialstaatliche Maßnahmen seien weniger geeignet, Klassenstrukturen zu brechen, Lebenschancen zu erweitern und Armutsfallen zu vermeiden. Trete trotzdem Armut auf, sei sie allerdings durch Ex-post-Umverteilung mit hoher politischer Präferenz zu bekämpfen, da Armut die individuelle Autonomie und Würde des Menschen beschädigt und zu einer Falle für die nachfolgenden Generationen in armen Familien werden kann.

[Bearbeiten] Volkswirtschaftliche Einwürfe

Passive sozialstaatliche Maßnahmen führen nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern auch zu politisch unerwünschten Wanderungsbewegungen. So könne es zu einem Unterbietungswettlauf zwischen verschiedenen Staaten kommen, da ein hohes Niveau an sozialen Leistungen die Bezieher dieser Leistungen anlocke, die Bereitsteller (= Nettozahler) dieser Leistungen aber abschrecke (Adverse Selection). Die Staaten seien dann auf lange Sicht gar nicht mehr in der Lage, umverteilende Sozialsysteme aufrecht zu erhalten.

Die erheblichen administrativen Kosten, die mit der Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit verbunden seien und von der Allgemeinheit getragen werden müssten, würden häufig übersehen oder unterschätzt.

Hieraus kann man nicht den Schluss ziehen, soziale Aufwendungen seien kontraproduktiv. Die Ursachen für Fehlallokationen liegen oft in den komplexen und aus vielen Kompromissen zusammengewachsenen Strukturen der Sozialsysteme, für die alle gesellschaftlichen Interessengruppen die Verantwortung tragen. Nicht die Höhe der Sozialausgaben ist das Problem, sondern das System ist ineffizient und bürokratisch, jedoch grundsätzlich reformierbar.

Allerdings sind hohe Sozialleistungen für die private Wirtschaft bei der Lohnfindung ein Konkurrent: Sie wirken als Quasi-Mindestlohn und können über die dadurch induzierte Lohnrigidität zu Arbeitslosigkeit führen.

[Bearbeiten] John Rawls: "Eine Theorie der Gerechtigkeit"

Soziale Gerechtigkeit ist das von den sozialen Institutionen einer Gemeinschaft angestrebte Resultat einer gerechten Sozialordnung. Sie hat die, nach den ethischen Wertvorstellungen angemessen erscheinende Verteilung der Güter der Gemeinschaft, beziehungsweise deren Ausgleich unter den Teilhabern der sozialen Gemeinschaft zum Inhalt. Rawls geht davon aus, dass es der Veranlagung der Menschen entspricht, ihr persönliches Streben nach Glück maßgeblich mit einem Gerechtigkeitssinn zu überwölben. Nach Rawls "A Theory of Justice" (Theorie der Gerechtigkeit) bedarf es zur Ermittlung adäquater Gerechtigkeitsgrundsätze der Berücksichtigung des Glücks der am schlechtesten gestellten Personen innerhalb der sozialen Gemeinschaft, so dass in einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag dieser sozialen Ordnung eine Person zustimmen könnte, die, unter dem "Schleier der Ungewissheit" stehend, nicht weiß, welche soziale Stellung sie innerhalb der Gemeinschaft einnehmen würde.

Rawls sieht zwei Gerechtigkeitsprinzipien:

  1. Jeder ist gleichermaßen im Besitz unveräußerlicher Grundfreiheiten (Freiheit, Leben, Eigentum usw.)
  2. Soziale und wirtschaftliche Ungleicheit ist nur zulässig, wenn sie sich zumindest auch für die am wenigsten Begüterten in der Gemeinschaft zum Vorteil auswirkt und ihre Chancengleichheit, angestrebte Positionen und Ämter innerhalb der Gemeinschaft zu bekleiden, nicht beeinträchtigt (Differenzprinzip).

Danach haben die Grundfreiheiten Vorrang vor der sozialen Gerechtigkeit und diese den Vorrang vor der Effektivität ökonomischen Gewinnstrebens. (Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971, 1979, Frankfurt am Main, S.81)

[Bearbeiten] Andere Ansätze

Soziale Gerechtigkeit sei nach Meinung von Philosophen und Sozialwissenschaftlern auch in folgenden Dimensionen zu beschreiben:

  • Tauschgerechtigkeit
  • ausgleichende Gerechtigkeit
  • Gerechtigkeit zwischen den Generationen
  • Gerechtigkeit gegen Tiere (?)
  • globale Gerechtigkeit

(weiter ausgeführt in: Otfried Höffe, Gerechtigkeit; siehe Literatur)

[Bearbeiten] Literatur

  • Erwin Carigiet, Gesellschaftliche Solidarität. Prinzipien, Perspektiven und Weiterentwicklung der sozialen Sicherheit, Helbing und Lichtenhahn, Basel/Genf/München 2001 ISBN 3-7190-1934-9
  • K.M. Bolte, D. Kappe, F. Neidhardt, Reihe B der Beiträge zur Sozialkunde, Band 4. Leske Verlag, Opladen, 1974
  • Friedrich August von Hayek Recht, Gesetz und Freiheit Mohr, Tübingen, 2003 ISBN 3-16-147878-9 (insbesondere Teil 2: Das Trugbild sozialer Gerechtigkeit)
  • Otfried Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Beck, München, 2001. ISBN 3-40644-768-6
  • Otfried Höffe: Soziale Gerechtigkeit. Über die Bedingungen realer Freiheit. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr 128. 2005. S. 67
  • Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Metzler, Stuttgart, Weimar 2000 ISBN 3-476-01752-4
  • Matthias Möhring-Hesse, Die demokratische Ordnung der Verteilung. Eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit, Campus, Frankfurt am Main 2004
  • John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Original: A Theory of Justice), 1971 ISBN 3518067370
  • Jörg Reitzig: Gesellschaftsvertrag, Gerechtigkeit, Arbeit, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2005 ISBN 3-89691-611-4
  • Sinn, Hans-Werner, The selection principle and market failure in systems competition, in: Journal of Public Economics 66 (1997), S. 247-274
  • Sinn, Hans-Werner, The New Systems Competition, CESifo, 2002
  • Heike Weinbach: Social Justice statt Kultur der Kälte. Alternativen zur Diskriminierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Karl Dietz Verlag Berlin 2006 ISBN 3-320-02911-8 ISBN 978-3-320-02911-1 [1]

[Bearbeiten] Weblinks

[Bearbeiten] Siehe auch

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