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Henri Bergson

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Henri-Louis Bergson (* 18. Oktober 1859 in Paris; † 4. Januar 1941 ebd.) war ein französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur 1927. Er gilt als bedeutendster Vertreter der Lebensphilosophie und als ein Vorläufer des Existenzialismus. Sein markantestes Philosophem ist der Begriff des „élan vital“, „einer alle Gebiete des Seienden durchwaltenden geistigen Kraft, die die Entwicklung vorantreibt“ (Manfred Naumann), einer Kraft, die vom Menschen nicht rational, sondern nur intuitiv erkannt werden kann und die sich in allen Schöpfungsakten manifestiert, sowohl den künstlerischen, wissenschaftlichen wie auch den evolutionären in der Natur. (Siehe auch Lustprinzip und Vis vitalis.)

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Leben

Henri Bergson (wie er sich als Autor nannte) wurde geboren in Paris als Kind eines polnischstämmigen jüdischen Vaters (dessen ursprünglicher Namen Berekson war) und einer englischen Mutter, die aus einer irischen jüdischen Familie stammte. Seine frühe Kindheit verlebte er überwiegend in London, bevor er mit 8, eher anglo- als frankophon, wieder nach Paris kam.

Hier besuchte er von 1868 bis 1878 das Lycée Fontaine (heute Lycée Condorcet), wo er 1877 den Schulpreis für Mathematik erhielt mit einer Problemlösung, die er anschließend sogar in einer mathematischen Fachzeitschrift veröffentlichen durfte. Dennoch entschied er sich nach dem Baccalaureat für ein Literatur- und Philosophiestudium und bewarb sich mit Erfolg um einen Studienplatz an der École Normale Supérieure (ENS), der Pariser Elitehochschule für die Lehramtsfächer.

Nach dem Studienabschlussexamen (licence) im Fach Literatur absolvierte er 1881 erfolgreich die Rekrutierungsprüfung (agrégation) für das Amt eines Gymnasialprofessors im Fach Philosophie und bekam eine Stelle an einem Gymnasium in Angers zugewiesen. 1883 wurde er nach Clermont-Ferrand versetzt. Neben seiner Unterrichtstätigkeit fand er, wie damals viele Agrégés, Zeit zum wissenschaftlichen Arbeiten. So publizierte er 1884 eine Edition von ausgewählten Passagen aus den Werken des Lukrez, der er eine textkritische Studie und Ausführungen über die Philosophie des Autors beifügte und die in der Folgezeit mehrfach nachgedruckt wurde. Zugleich arbeitete er an einer ersten größeren Schrift, die er 1889 unter dem Titel Essai sur les données immédiates de la conscience (dt. Zeit und Freiheit, 1911) an der Pariser Sorbonne als Dissertation („thèse d’État“) einreichte. Mit dieser wurde er nach erfolgreich absolviertem Prüfungsverfahren, zu dem auch das Vorlegen einer kurzen, lateinisch verfassten „thèse supplémentaire“ gehörte, zum docteur-ès-lettres promoviert (was in etwa einer deutschen Habilitation entsprach).

Nach der Promotion und der Publikation seiner thèse, die er geschickt seinem obersten Dienstherrn, dem Bildungsminister, widmete (der allerdings auch sein Philosophieprofessor an der ENS gewesen war) hatte Bergson wie selbstverständlich Anspruch auf den Wechsel an ein Gymnasium in Paris. Nach einer kurzen Zwischenstation am dortigen Collège Rollin erhielt er 1890 eine Stelle am renommierten Lycée Henri-IV. 1892 heiratete er und wurde später Vater einer Tochter.

1896 publizierte er seine zweite größere Schrift, Matière et mémoire (dt. Materie und Gedächtnis, 1908), in der er auch die neueste Hirnforschung zu verwerten versuchte. Im Anschluss hieran wurde er 1897 als maître de conférences mit Vorlesungen an der ENS betraut und kurz darauf dort zum Professor ernannt.

1900 druckte die Revue de Paris den Essay Le Rire (dt. Das Lachen, 1914), der 1901 sehr erfolgreich auch in Buchform erschien. Hierin versucht Bergson eine Theorie des Komischen zu entwickeln, stimmt vor allem aber auch das Hohelied des künstlerischen Schöpfertums an und wurde damit zum Propheten einer ganzen Generation symbolistischer Literaten und Künstler.

Im selben Jahr 1900 wurde er auf den Lehrstuhl für Griechische Philosophie am Collège de France berufen, der prestigereichsten aller französischen Bildungsinstitutionen. 1901 wählte ihn die Académie des sciences morales et politiques zum Mitglied.

Inzwischen begann er auch außerhalb Frankreichs Anerkennung zu finden: Auf dem ersten internationalen Philosophen-Kongress in Paris im August 1900 durfte er einen der Vorträge halten. Dessen Titel, Sur les origines psychologiques de notre croyance à la loi de causalité (Über die psychologischen Ursprünge unseres Glaubens an das Gesetz der Kausalität), bringt gut die antirationalistische Tendenz Bergsons zum Ausdruck.

1903 publizierte er den programmatischen längeren Aufsatz Introduction à la métaphysique (dt. Einführung in die Metaphysik, 1909). Entgegen dem allgemein gehaltenen Titel führt dieser vor allem in sein eigenes Denken ein. 1904 hielt er auf dem zweiten internationalen Philosophen-Kongress in Genf den Vortrag Le Cerveau et la pensée: une illusion philosophique (Das Gehirn und das Denken: eine philosophische Illusion).

Im selben Jahr wechselte er im Collège de France auf den Lehrstuhl für moderne Philosophie. Damit hatte er, 45jährig, den Höhepunkt seiner beruflichen Karriere erreicht.

1907 erschien seine dritte große Schrift: L’Évolution créatrice (dt. Die schöpferische Entwicklung, 1912). Sie war als kritischer Beitrag zur Evolutionstheorie gedacht, die Bergson als zu deterministisch betrachtete. Sie fand auch über die Fachwelt hinaus Verbreitung. Diese Schrift wurde mit 21 Auflagen in zehn Jahren sein bekanntestes und meistgelesenes Werk. Sie verschaffte ihm einen festen Platz unter den in Frankreich häufigen und geachteten philosophischen Schriftstellern. Neben Le Rire war L’Évolution sicher der wichtigste Grund dafür, dass Bergson später für den Literaturnobelpreis in Frage kommen konnte.

1908 traf er in London William James, einen amerikanischen Philosophen. Ihm verdankte er einige Anstöße für sein Schaffen. James war angetan von seinem 17 Jahre jüngeren französischen Kollegen und dessen Ideen. In der Folge trug James viel dazu bei, ihn in der anglophonen Welt bekannt zu machen.

Im April 1911 besuchte Bergson den internationalen Philosophen-Kongress in Bologna. Dort hielt er den Vortrag L'Intuition philosophique. Dieser Titel deutet die wichtige Rolle an, die die Intuition in seinem Denken spielt. Im selben Jahr wurde er nach England eingeladen, unter anderem nach Oxford, wo er über das Thema La Perception du changement (Die Wahrnehmung des Wandels) sprach. Dort erhielt er seine erste Ehrendoktorwürde. Weitere Stationen führten in nach Birmingham und London, wo er über Vie et conscience (Leben und Bewusstsein) bzw. La Nature de l’âme (Die Natur der Seele) dozierte.

1913 folgte er einer Einladung der New Yorker Columbia University und las dort über Spiritualité et liberté (Geistigkeit und Freiheit). Vorträge in anderen amerikanischen Städten folgten. Im Herbst wurde ihm der Vorsitz der British Society for Psychical Research angetragen, wo er sich mit dem Vortrag Phantoms of Life and Psychic Research einführte.

1914 war ein besonders erfolgreiches Jahr für Bergson. Er wurde in seiner Eigenschaft als ein bedeutender französischer Autor, dessen Schriften inzwischen auch in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, in die Académie française aufgenommen, darüberhinaus zum Vorsitzenden der Académie des sciences morales et politiques gewählt sowie zum „Offizier“ der Ehrenlegion und zum „Offizier der Volksbildung“ ernannt.

Als im selben Jahr (ähnlich wie es schon vorher manche sozialistischen Politiker und Gewerkschafter getan hatten) eine Bewegung liberaler „Neo-Katholiken“ ihre Vorstellungen mit Ideen Bergsons zu stützen versuchte, wurden dessen drei Hauptwerke vom Vatikan auf den Index gesetzt, was jedoch in Frankreich eher wie ein Ehrentitel wirkte.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1. August 1914) engagierte sich auch Bergson als Patriot mit Artikeln und Vorträgen. Er versuchte damit, die Moral der französischen Truppen zu stärken, die Position Frankreichs zu verklären und Deutschland Imperialismus vorzuwerfen. Nach dem Eintritt der USA in den Krieg 1917 reiste er als Mitglied einer diplomatischen Delegation dorthin und warb auf einer Vortragstournee für die Sache Frankreichs.

1919 gaben Freunde eine schon vor dem Krieg geplante zweibändige Sammlung kürzerer Texte heraus, die um den zentralen Begriff der „force mentale“ (geistige/mentale Kraft) kreisen. Sie erschien unter dem Titel L’Énergie spirituelle (dt. Die seelische Energie, 1928).

1920 erhielt Bergson den Ehrendoktortitel der Universität Cambridge. Im Herbst durfte er seine Pflichtvorlesungen am Collège de France an einen Vertreter (Édouard Le Roy) delegieren, um sich ganz seinem Schaffen als Autor widmen zu können.

Immerhin war er 1921 nebenher politisch tätig als Gründungsmitglied und erster Präsident der Commission Internationale de la Coopération Intellectuelle (einer Vorläuferinstitution der Unesco, die im Rahmen des neuen Völkerbundes in Genf aktiv war).

1927 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Bergson konnte aber nur unter Schwierigkeiten zur Entgegennahme nach Stockholm reisen. Seit 1925 plagten ihn rheumatische Schmerzen, die seinen Körper lähmten und deformierten.

Krankheitsbedingt mehr und mehr zurückgezogen, vollendete er 1932 sein letztes größeres Werk, Les deux sources de la morale et de la religion (Die beiden Quellen der Moral und Religion, 1933). Seine Überlegungen zum Zusammenhang von Gesellschaft, Moral und Religion wurden mit der gebührenden Achtung aufgenommen, aber nur noch wenig diskutiert. Bergsons Zeit war sichtlich vorbei.

Spätestens mit den Deux sources hatte er sich christlich-mystischen Vorstellungen angenähert und dachte daran katholisch zu werden. Er nahm jedoch Abstand davon, weil er angesichts des auch in Frankreich anschwellenden Antisemitismus seine jüdischen Wurzeln nicht verleugnen wollte. Entsprechend verzichtete er 1940 demonstrativ auf alle seine Auszeichnungen, Titel und Mitgliedschaften und ließ sich als Juden eintragen, als das neue Regime des Marschalls Philippe Pétain diese gesetzlich zu diskriminieren begann.

An seinem Grab sprach seinem Wunsch gemäß ein katholischer Priester das Totengebet.

Das Denken Bergsons, das heute nur noch von historischem Interesse zu sein scheint und in Vielem wie eine Transposition von Symbolismus und Jugendstil in die Philosophie anmutet, hat zwischen 1900 und 1930 stark gewirkt und insbesondere zahlreiche Schriftsteller beeinflusst, u. a. Gilles Deleuze, Marcel Proust, Charles Péguy, André Gide, Paul Claudel oder T.S. Eliot sowie Nikos Kazantzakis.

[Bearbeiten] Werk

Während Kant Raum und Zeit noch als gleichberechtigte Formen unserer Anschauung betrachtet, sind sie für Bergson wesensverschieden.

Der Raum ist für ihn eine in sich homogene Summe von Punkten, die von Objekten eingenommen werden können. Die rational und analytisch verfahrende Naturwissenschaft, so Bergson, betrachtet nur diesen Raum bzw. Teile davon. Wenn sie vorgibt, Zeit zu messen, misst sie in Wahrheit nur Bewegung im Raum, also die aufeinanderfolgenden Veränderungen der räumlichen Lage der Objekte.

Die Zeit dagegen ist für Bergson nicht in sich homogen, sie ist ein mal schnelleres, mal langsameres Fließen und Werden, eine unumkehrbare, unwiederholbare, unteilbare „Dauer“ (la durée).

Diesen beiden Seinssphären sind verschiedene Formen der Erkenntnis zugeordnet: Der Raum wird durch den Verstand erfasst, die Zeit durch die unmittelbare Wahrnehmung, die Intuition. Dadurch ist der Bereich der Zeit den messenden und rechnenden Naturwissenschaften entzogen. Er ist jedoch für Bergson der bedeutendere, weil Phänomene wie Leben und Bewusstsein nur als an eine „Dauer“ gebunden vorstellbar sind, die ihrerseits nur intuitiv wahrgenommen werden kann.

Bergson bedient sich des Begriffs élan vital, Lebenskraft, um die Entwicklung des Lebendigen, das für ihn im Gegensatz zur bloßen Materie steht, zu charakterisieren. Er vertritt die Auffassung, dass der „élan vital“ überall im Kosmos existiert. Den Darwinismus lehnt er als zu mechanistisch ab.

Nach Einschätzung seines Schülers Jean Guitton hat Bergson wesentlich dazu beigetragen, das moderne Denken wieder für Phänomene der Religion zu öffnen.

„Mehr als jeder andere hatte Bergson die großen begrifflichen Veränderungen geahnt, die die Quantentheorie mit sich bringen sollte. In seinen Augen, wie in der Quantenphysik, ist die Realität weder kausal noch lokal: Raum und Zeit sind Abstraktionen, reine Illusionen.“ (Jean Guitton, Gott und die Wissenschaft, 1993, S. 23.)

Eine relativ ausführliche Einführung in das Denken Bergsons gibt der englischsprachige Wikipedia-Artikel, auf dem sowohl der französischsprachige Artikel beruht als auch der (auf das Wesentliche konzentrierte) vorliegende.

[Bearbeiten] Bibliographie

  • Bergson, Henri: Matière et Mémoire. Essai sur la relation du corps à l'esprit (1896, deutsch 1908 als „Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist“), aktuelle Ausgabe: Materie u. Gedächtnis, Meiner-Verlag für Philosophie, Hamburg 1991, ISBN 3787310274
  • Bergson, Henri und Kantorowicz, Gertrud: Schöpferische Entwicklung. Cocon Verlag, Hanau, 1977
  • Bergson, Henri:Die beiden Quellen der Moral. Fischer, Frankfurt/M. 2000, ISBN 3596113008
  • Bergson, Henri:Denken und schöpferisches Werden. EVA TB, Frankfurt/M. 1993, ISBN 3434460500
  • Bergson, Henri:Zeit und Freiheit (Titel der Originalausgabe:>>Sur les dornées immédiates de la conscience<<) Athenäum, Frankfurt a.M. 1989, ISBN 3610047356

[Bearbeiten] Sekundärliteratur

  • G. Jäger, Das Verhältnis Bergsons zu Schelling. Ein Beitrag zur Erörterung der Prinzipien einer organistischen Weltauffassung, 1917.
  • Leszek Kolakowski, Henri Bergson. Ein Dichterphilosoph, München Zürich (Piper) 1985.
  • Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg (Junius), 3. Auflage 2001, ISBN 3885063360.
  • Mirjana Vrhunc: Bild und Wirklichkeit, Zur Philosophie Henri Bergsons, München (Fink) 2002, ISBN 3770536444.
  • Vladimir Jankelevitsch und Francoise Schwab: Bergson lesen., Wien (Turia u. Kant-Verlag) 2004, ISBN 3851323831.
  • Marc Rölli (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München (Wilhelm Fink Verlag) 2004, ISBN 3770539397.

[Bearbeiten] Weblinks

s:
Wikisource
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