Judenfrage
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Als Judenfrage bezeichnete die nichtjüdische Mehrheit in den deutschen Sprachgebieten seit etwa 1870 ihre Sicht auf die gesellschaftliche Stellung der jüdischen Minderheit und den Umgang mit ihr. Damit wurde deren Gleich- oder Sonderstellung im Gemeinwesen als „Problem“ definiert. In zahlreichen Abhandlungen unter diesem Titel drang diese angebliche Problematik in das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung ein. Der Begriff wurde fester Bestandteil des Antisemitismus, der die von den Nationalsozialisten betriebene Endlösung der Judenfrage propagandistisch vorbereitete und ermöglichte.
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[Bearbeiten] Entstehung
Die Judenfeindlichkeit hatte über weit mehr als zweitausend Jahre immer wieder problematische Folgen vor allem für die Juden selbst, ihre Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung. Sie betraf aber auch die jeweiligen Gesellschaftsformationen.
Anfangs beschrieb die 'Judenfrage' den Versuch, eine kulturell und religiös andersartige Minderheit in das Gesamtgefüge europäischer Nationalstaaten zu integrieren, also ein reales soziales und politisches Problem zu lösen. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wurde (u.a. wegen des nachlassenden religiösen Drucks) - teilweise mit fragwürdigen Mitteln (Zwangskonversion etc.), aber auch mit Erfolg - erstmals eine ernsthafte gesellschaftliche Integration angestrebt. Dieser Versuch einer bürgerlichen Gleichstellung der Juden reichte von der Forderung nach „Duldung“ und „bürgerlicher Verbesserung“ bis hin zu ihrer „Gleichberechtigung“ und „Emanzipation“ und ist im Kontext der aufklärerischen Position der Toleranz gegenüber religiös andersdenkenden Einzelnen oder Gruppen zu verstehen. Emanzipationsskeptiker und -gegner schlugen bereits um 1800 Lösungen vor wie die Ansiedlung aller europäischen Juden in Übersee oder im 'Land Israel'. Judenfeinde forderten Arbeitslager und Sterilisierung für alle Juden (z.B. Hartmut von Hundt-Radowsky).
Der Begriff einer (ungelösten) 'Judenfrage' entstand um das Jahr 1840. Der Philosoph und Schriftsteller Bruno Bauer verfasste 1842 die erste selbständige Schrift zu diesem Thema, den Aufsatz Die Judenfrage. In dessen Gefolge begann sich der Begriff zuerst im deutschen Sprachraum zu etablieren. Als 1879 eine neue antisemitische Welle aufkam, verbreitete sich der Begriff im öffentlichen, auch im akademischen Diskurs. Eine Flut von Schriften aller Schattierungen verankerten das „Problem" der Juden und mit den Juden in den Köpfen der Bevölkerung.
[Bearbeiten] Rassismus und Antisemitismus
Völkische Judengegner definierten Juden seit etwa 1860 als „Semiten“, um die „Judenfrage“ als Rassenproblem zu propagieren. Bald wurde dieser Begriff immer häufiger unreflektiert für Juden verwendet und - auch von Juden selber - in andere Kreise und Sprachen übernommen. Seit Arthur de Gobineaus Begründung des modernen Rassismus (1864) besetzten Judengegner den Begriff immer stärker mit biologistischen Scheinargumenten. Er sollte die Juden als dauerhaft auszugrenzende Gruppe stigmatisieren und wirkte in diesem Sinne auch, so dass er bald unbrauchbar für die Diskussion um Emanzipation und gesellschaftlichen Fortschritt wurde. Mit der rassistischen Variante der 'Judenfrage' erübrigten sich alle Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Lösung dieses Problems, da die als eigene Rasse definierte Minderheit nicht integrierbar erschien.
Wilhelm Marr gilt als Erfinder des Schlagworts „Antisemitismus“, das er 1879 in die Debatte warf. Sein damals erschienenes Buch „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ wurde sehr populär. Die konservativen antiliberalen Nationalisten Heinrich von Treitschke und Adolf Stoecker griffen die 'Judenfrage' im selben Jahr auf, um antisemitische Forderungen nach Begrenzung oder Aufhebung der Gleichberechtigung für Juden gesellschaftsfähig zu machen. Richard Wagner behauptete ein Judenthum in der Musik und Kultur, das abzuwehren sei.
Es folgten immer schärfere rassistische Propagandaschriften: Karl Eugen Dührings Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten-, und Kulturfrage (1881) stellte Juden nunmehr auch als biologische Gefahr dar. Edouard Drumont, Houston Stewart Chamberlain, Paul Anton de Lagarde u.a. verhalfen diesem Denken in ganz Westeuropa zu weiter Verbreitung. Theodor Fritsch veröffentlichte 1887 einen Antisemitismus-Catechismus, der alle judenfeindlichen Klischees sammelte und als Handbuch der Judenfrage viele Auflagen erlebte. Er wurde bis 1945 auch von den späteren Nationalsozialisten gern genutzt.
In der Völkischen Bewegung im deutschen Kaiserreich wurden verschiedene Pläne zu Lösung der Judenfrage propagiert. Seit den 1880er Jahren wurde immer wieder gefordert, die Juden unter Fremdenrecht zu stellen und eine weitere Zuwanderung zu unterbinden. Juden und andere Rassen-Fremde wie Slawen oder Wälsche, die im Reichsgebiet bereits ansässig waren, sollten nach den Vorstellungen des Herausgebers des Heimdall, Adolf Reinecke, der Status von „Reichssassen“ erhalten: kein Wahlrecht, keine öffentlichen Ämter, kein Grundbesitz, jedoch Wehr- und Steuerpflicht. Selbst radikale Antisemiten wie Theodor Fritsch und Friedrich Lange gingen in ihren Publikationen über die Forderung nach Fremdengesetzgebung, Ausweisung und Aberkennung der Staatsbürgerrechte nicht hinaus. Aber in einer Formulierung wie Ausscheidung der jüdischen Rasse aus dem Völkerleben, die seit 1902 als Motto der Zeitschrift Hammer diente, klingt bereits der Wille an, vom bloßen Wort zur Tat zu schreiten.
[Bearbeiten] Innerjüdische Debatte
Im Zusammenhang ihrer Emanzipationsbestrebungen benutzten auch Juden selber diesen Begriff, um zu unterstreichen, dass sie ihre Integration und Assimilation in den entstehenden europäischen Nationalstaaten bejahten.
In der Auseinandersetzung mit den Antisemiten gebrauchten Juden den Begriff dann auch im Kontext des Zionismus, aber auch hier ohne Festlegung auf bestimmte Lösungen. Nathan Birnbaum veröffentlichte dazu ein Buch mit dem Titel Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage (1893). Auch Theodor Herzl, der spätere Präsident des Zionistischen Weltkongresses, nahm den Begriff auf und etablierte ihn in der innerjüdischen Diskussion (Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, 1896, ISBN 3865723659).
[Bearbeiten] Nationalsozialismus
Die Nationalsozialisten griffen von Beginn an bewusst den Antisemitismus und Rassismus der Kaiserzeit auf und propagierten die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“: Diesen Begriff hatten die vereinten Antisemitenparteien der Kaiserzeit ab 1893 geprägt. Er bildete einen integralen Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und bereitete den geistigen Nährboden für den Holocaust, mit dem das NS-Regime sein Programm der Vernichtung des europäischen Judentums bis 1945 durchführte.
Viele nationalsozialistische Schriften führten die „Judenfrage“ im Titel. Arthur Rosenberg z.B. nannte seine Zeitschrift: Der Weltkampf. Monatszeitschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage aller Länder. Seit den Nürnberger Gesetzen 1935 wurde die „Judenfrage“ auch als pseudowissenschaftliches Projekt etabliert. So richtete das NS-Regime 1939 ein Institut zur Erforschung der Judenfrage ein. Dieses gab u.a. die Vierteljahresschrift Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart heraus. Dem folgten viele akademische Fachbereiche, etwa die Evangelische Theologie mit dem Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben unter Walter Grundmann. Dieses strebte die „Entjudung“ der Bibel und kirchlichen Ausbildung an.
Die „Endlösung“ wurde schon seit Hitlers Mein Kampf konzipiert (Entfernung der jüdischen Rasse) und seit Gründung der NSDAP ebenfalls in deren Propagandasprache verankert. Am 31. Juli 1941 schrieb Hermann Göring an Reinhard Heydrich:
- Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen.
Im selben Monat begann der Völkermord mit den Massenerschießungen von Einsatzgruppen hinter der Ostfront (Aktion Reinhardt). Am 20. Januar 1942 fand die Wannseekonferenz statt, auf der die Durchführung des schon begonnenen Holocaust endgültig organisiert wurde. Das Protokoll dazu beginnt mit den Worten:
- An der am 20. 1. 1942 in Berlin, Am Großen Wannsee Nr. 56/58, stattgefundenen Besprechung über die Endlösung der Judenfrage nahmen teil: ...
Der Volks-Brockhaus Leipzig schrieb 1943 im Artikel „Judentum“:
- 66 n. Chr. brach ein großer Judenaufstand aus, der mit der Eroberung Jerusalems und Zerstörung seines Tempels durch Titus 70 n. Chr. endete. Inzwischen hatten sich die Juden weithin über die Mittelmeerländer verstreut: Sie vermehrten sich vor allem durch Gewinnung fremdstämmiger Anhänger ihres Glaubens stark und wurden rassisch mit den verschiedenartigsten Elementen durchmischt. Durch das Zusammenleben mit ihren Wirtsvölkern ergab sich die 'Judenfrage'.
[Bearbeiten] Philosophie
Der 26-jährige Karl Marx veröffentlichte 1844 einen Aufsatz Zur Judenfrage[1]. Er reagierte damit auf Bruno Bauers Schriften Die Judenfrage und Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden, welche im Jahr zuvor erschienen waren.
Marx sah ihre „Lösung“ in der Aufhebung der weltlichen Schranken der bürgerlichen Gesellschaft, mit der auch begrenzte religiöse Standpunkte verschwinden würden. Dabei war die rechtliche Gleichstellung des Judentums an sich für ihn nur Beispiel für die unvollkommene „politische Emanzipation“, welche den Menschen auf ein egoistisches unabhängiges Individuum einerseits und auf die moralische Person des Staatsbürgers andererseits reduziere. Anstelle der politischen verlangt er eine „menschliche Emanzipation“, bei der der Mensch seine Kräfte als gesellschaftliche erkennt und organisiert.
Häufig wurde Marx eine antisemitische Haltung unterstellt, obwohl sein Aufsatz tatsächlich die rechtliche Gleichstellung der Juden fordert. Er führt aus, dass in einem modernen politischen Staat im Unterschied zum christlichen Staat die Religion Privatsache sei.
Im zweiten Teil der Schrift unternimmt es Marx, Bauers theologische Fassung der Judenfrage zu brechen. Er fragt er nach dem weltlichen Grund des Judentums, und erhält als Antwort: „Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz“. Ob diese Antworten aus Bauers Texten, Marx eigener Anschauung oder anderen Quellen gewonnen werden ist ein Gegenstand der Interpretation von Zur Judenfrage. Indem er diese Umdeutung des Begriffes „Judentum“ beim Wort nimmt, scheint Marx populäre Vorurteile zu bedienen, um dann aber ironisierend aufzuzeigen, daß der „Schacher“ in gleicher Weise grundlegend für das Christentum ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die soziale Emanzipation der Christen wie der Juden die Befreiung der Gesellschaft von der Macht des Geldes voraussetzt. Er korrigierte sich in seinem späteren Wirken in einigen Punkten und bekämpfte die Religion nicht direkt, sondern erwartete ihr allmähliches Verschwinden nach erfolgreicher Revolutionierung der Produktionsverhältnisse.
Marx, der selbst jüdische Vorfahren hatte, hing weder dem jüdischen noch christlichen Glauben an, sondern vertrat eine prinzipiell materialistische Philosophie.
Auch Jean-Paul Sartre befasste sich u.a. im Rahmen seiner Schrift „Reflexions Sur La Question Juive“ („Überlegungen zur Judenfrage“, ISBN 3499131498) explizit mit dem Terminus und dem Thema.
[Bearbeiten] Literatur
- Bein, Alex: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980, ISBN 3421019630
- Taut, Jakob: Judenfrage und Zionismus, Freiburg 1986, ISBN 3883320978
- Weltsch, Robert: Die deutsche Judenfrage. Ein kritischer Rückblick, Königstein 1981, ISBN 3761003579
- Schiefelbein, Dieter: Das Institut zur Erforschung der Judenfrage, Frankfurt am Main. Vorgeschichte und Gründung 1935-1939, Frankfurt/Main: Stadt Frankfurt, 1993., ISBN 3882708034
- Wolfgang Benz (Hrsg.): Die 'Judenfrage'. Schriften zur Begründung des modernen Antisemitismus 1789 bis 1914. K.G. Saur, München 2002-2003, ISBN 3598350465 (Bibliografie mit 369 auf Mikrofilm zugänglichen Dokumenten, ausführliches Vorwort)
[Bearbeiten] Weblinks
- ↑ Karl Marx: Zur Judenfrage (1844)