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Kirchliches Selbstbestimmungsrecht - Wikipedia

Kirchliches Selbstbestimmungsrecht

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist ein Recht mit Verfassungsrang, das das deutsche Grundgesetz allen Religionsgemeinschaften gewährt und das diesen Freiheit von staatlicher Einmischung garantiert. Vereinzelt wird es auch als religionsgemeinschaftliches Selbstbestimmungsrecht bezeichnet. Es ist neben dem Grundrecht der Religionsfreiheit und dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche ein Grundpfeiler des deutschen Staatskirchenrechts.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Geschichte

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht war schon in der Paulskirchenverfassung von 1849 enthalten. § 147 Abs. 1 lautete: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen." Sogar ohne diesen Gesetzesvorbehalt findet es sich auch in der preußischen Verfassung von 1848/1850 (Art. 12: "Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, so wie jede andere Religionsgesellschaft, ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds."). Im Kulturkampf wurde gegen dieses Recht allerdings systematisch verstoßen.

[Bearbeiten] Gesetzliche Regelung

Die gesetzliche Regelung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts findet sich heute in Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung, der gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes Bestandteil des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist:

Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.

[Bearbeiten] Zweck

Die Trennung von Staat und Kirche kann aus zwei gegensätzlichen Motiven erfolgen. Zum einen kann es dem Staat darum gehen, sich von Bevormundung durch Religionsgemeinschaften zu befreien. Dieser Gedanke findet sich vor allem im Laizismus; mitunter kann er geradezu in staatliche Unterdrückung der Religionsgemeinschaften umschlagen, wie es beispielsweise im nationalsozialistischen Deutschland oder der DDR geschah. Die Trennung von Staat und Kirche kann aber auch gerade umgekehrt bezwecken, die Religionsgemeinschaften vor staatlicher Einflussnahme zu schützen. Sie sollen ihre Angelegenheiten selbst bestimmen.

Das deutsche Verfassungsrecht folgt letzterem Anliegen. Diese Selbstbestimmung zu respektieren, ist in Deutschland nicht nur Verpflichtung des Staates, sondern die Religionsgemeinschaften haben ein subjektives Recht von Verfassungsrang auf Respektierung dieses Freiraumes.

Wegen des Zusammenhangs mit dem Trennungsprinzip spricht man auch vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und nicht wie bei Gemeinden oder Universitäten, die Teil des Staates sind, von einem Selbstverwaltungsrecht: Religionsgemeinschaften sind, unabhängig von ihrer Rechtsform, nicht nur organisatorisch vom Staat getrennt, sondern gehören ihm nicht an. Anders als bei der Selbstververwaltung gibt es daher keine Staatsaufsicht über Religionsgemeinschaften. Das gilt auch für Religionsgemeinschaften, die Körperschaft des öffentlichen Rechts sind ("Körperschaftsstatus"). Die abweichende Korrelatentheorie, die in der Weimarer Republik vertreten wurde, stellte der Sache nach eine Fortsetzung des landesherrlichen Kirchenregiments unter umgekehrten Vorzeichen dar und ist später aufgegeben worden.

[Bearbeiten] Träger

Auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht können sich nicht nur Kirchen berufen, sondern alle Religionsgemeinschaften. Es ist auch keineswegs solchen Religionsgemeinschaften vorbehalten, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt sind, sondern schützt auch privatrechtlich organisierte Gemeinschaften gleich welcher Religion oder Konfession.

Wenn Art. 138 Abs. 2 WRV davon spricht, "Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften [...] an ihren [...] Anstalten, Stiftungen" werde gewährleistet, so kommt in dieser Aufzählung zum Ausdruck, dass auch Stiftungen und Anstalten als Teil der Religionsgemeinschaft verstanden werden. Sie werden daher vom Selbstbestimmungsrecht mit umfasst, denn die Schaffung solcher rechtlich selbständiger Organisationsformen ist gerade auch Ausdruck der Selbstbestimmung.

[Bearbeiten] Inhalt

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht hat für die Rechtsordnung weitreichende Folgen. Versuche staatlicher Einflussnahme auf kirchliche Lehre, Ämterbesetzung, Liturgie usw. kommen in der Praxis kaum vor. In anderen Bereichen dagegen mussten Eingriffe des Staates vom Bundesverfassungsgericht in teils Aufsehen erregenden Entscheidungen zurückgewiesen werden.

Die Abwägung des Selbstbestimmungsrechts mit kollidierenden Grundrechten Dritter (praktische Konkordanz) kann im Einzelfall schwierig sein. Sie wird dadurch erleichtert, dass die kirchenrechtlichen Regelungen den staatlichen teilweise ähneln (vgl. etwa die römisch-katholische Anordnung über den kirchlichen Datenschutz oder die Mitarbeitervertretungsgesetze) oder für Dritte sogar günstiger sind (Höhe der Arbeitsentgelte). Im Vertrauen hierauf schränkt der Gesetzgeber das Selbstbestimmungsrecht oft nicht auf das gerade noch zulässige Maß ein, sondern lässt den Religionsgemeinschaften eine gewisse Freiheit ("das kirchliche Recht wird das staatliche nicht kränken"). Einen schonenden Ausgleich zwischen staatlicher Souveränität und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht ermöglichen einvernehmlich abgeschlossene Verträge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften.

[Bearbeiten] Einzelfälle

Kirchenrechtliche Regelungen bedürfen keiner staatlichen Genehmigung, ebensowenig die interne Organisation einer Religionsgemeinschaft oder die Vermögensverwaltung. Auch eine eigene Kirchengerichtsbarkeit kann eingesetzt werden (vgl. z.B. Offizial; Verwaltungsgerichtshof der Union Evangelischer Kirchen; Kirchengericht und Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland). Wer Mitglied einer Religionsgemeinschaft ist, bestimmt nur diese selbst, nicht der Staat.

Auf das Selbstbestimmungsrecht gehen die besonderen Loyalitätspflichten des Arbeitsrechtes der Religionsgemeinschaften ebenso zurück wie der Ausschluss der Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes für Religionsgemeinschaften. Diese haben sich stattdessen eigene kirchenrechtliche Regelungen über Mitarbeitervertretungen gegeben. Die Abwägung des Koalitionsrechts von Arbeitnehmern mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht führt zum Ausschluss des Streikrechts der Arbeitnehmer; allerdings entfällt im Gegenzug das Aussperrungsrechts der Religionsgemeinschaften. Anstatt durch Arbeitskampf wird das Arbeitsentgelt daher bei vielen Religionsgemeinschaften durch paritätisch besetzte Kommissionen festgelegt (Dritter Weg). Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht darüber hinaus jedenfalls für religiöse Körperschaften des öffentlichen Rechts die Möglichkeit einer Insolvenz verneint.

[Bearbeiten] Eigene Angelegenheiten

Religionsgemeinschaften ordnen und verwalten nach dem Gesetzeswortlaut nur "ihre Angelegenheiten" selbständig. Was eigene und was staatliche Angelegenheiten sind, ist nicht zuletzt vom jeweiligen Verständnis von Staat und Gesellschaft abhängig und wurde daher im Laufe der Zeit unterschiedlich beurteilt. Bei der Abgrenzung spielt das Selbstverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaft eine wichtige Rolle.

Als eigene Angelegenheiten sind heute insbesondere Lehre und Kultus, Organisation und Ämtervergabe, Ausbildung, Vermögensverwaltung und Teile des Dienstrechts, aber auch karitative Tätigkeit anerkannt. Zwischen den eigenen und den staatlichen Angelegenheiten stehen die gemeinsamen Angelegenheiten (res mixtae) wie beispielsweise Religionsunterricht, Anstaltsseelsorge und theologische Fakultäten in staatliche Hochschulen.

[Bearbeiten] Schranken des für alle geltenden Gesetzes

Wie jedes Recht ist auch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht schrankenlos gewährleistet. Wie die Grundrechte kann es nämlich durch Parlamentsgesetz eingeschränkt werden (vgl. Gesetzesvorbehalt). Allerdings hat der Gesetzgeber das Übermaßverbot zu beachten, darf also das Recht nicht unverhältnismäßig einschränken.

Auslegungsprobleme stellen sich angesichts des besonderen Erfordernisses eines "für alle geltenden" Gesetzes. Die Problematik liegt ähnlich wie bei der Meinungsfreiheit, die nur durch "allgemeines Gesetz" eingeschränkt werden kann. Johannes Heckel verstand darunter "jedes für die Gesamtnation als politische Kultur- und Rechtsgemeinschaft unentbehrliche Gesetz, aber auch nur ein solches Gesetz". Dieser Maßstab hat sich aber gleichermaßen als zu eng und zu weit erwiesen: für die Gesamtnation (angeblich) unentbehrliche Gesetze können höchstes Unrecht enthalten, während die Unentbehrlichkeit bei zahlreichen Regelungen schwer zu begründen ist, die aber nach allgemeiner Ansicht sicherlich auch für Religionsgemeinschaften gelten (etwa Straßenverkehrsregeln). Auch eine Unterscheidung nach inneren und äußeren Angelegenheiten hat sich nicht durchsetzen können. Nach der "Jedermannformel" des Bundesverfassungsgerichts ist ein für alle geltendes Gesetz nur ein solches, das die Religionsgemeinschaft "wie jedermann betrifft". Gesetze, die speziell Religionsgemeinschaften treffen wollen, können also das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich nicht einschränken und sind verfassungswidrig und nichtig. Unzulässig sind insbesondere spezielle staatliche Regelungen der Kirchenaufsicht oder des kirchlichen Ämterrechts. Liegt kein "für alle geltendes Gesetz vor", so kommen aber im Einzelfall verfassungsimmanente Schranken in Betracht.

[Bearbeiten] Rechtsqualität und gerichtliche Geltendmachung

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist ein subjektives öffentliches Recht. Da Art. 137 Abs. 3 WRV Bestandteil des Grundgesetzes ist, teilt es dessen Rang. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden müssen das Selbstbestimmungsrecht (wie auch das übrige Verfassungsrecht) beachten. Normen des einfachen Bundes- oder Landesrechts sind bei Missachtung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ebenso wie bei anderen Verfassungsverstößen nichtig. Bei formellen (Parlaments-)Gesetzen wird die Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der entsprechenden Verfahren festgestellt.

Die Durchsetzbarkeit des Selbstbestimmungsrechts wird aber dadurch erschwert, dass es sich nicht um ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht handelt: es ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a nicht aufgeführt, seine Verletzung kann nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Die dadurch entstehende Rechtsschutzlücke wird aber abgeschwächt, weil bei Verletzung des Selbstbestimmungsrechts häufig auch eine Verletzung der Religionsfreiheit zumindest möglich erscheint. Damit besteht die erforderliche Beschwerdebefugnis. Ist so die Hürde der Zulässigkeit überwunden, überprüft das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die angegriffene Maßnahme nicht nur auf Grundrechtsverletzungen, sondern auf alle Verfassungsverstöße. Durch diesen weiten Maßstab in der Begründetheitsprüfung kann also eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts zumeist mittelbar gerügt werden.

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