Nikolaas Tinbergen
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Nikolaas Tinbergen (* 15. April 1907 in Den Haag; † 21. Dezember 1988 in Oxford) war ein bedeutender niederländischer Verhaltensbiologe. 1955 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. Zusammen mit Karl von Frisch und Konrad Lorenz erhielt Tinbergen 1973 den „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“.
Gemeinsam mit Patrick Bateson, Robert Hinde und William Thorpe trug er nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich dazu bei, das noch junge biologische Fachgebiet der Verhaltensbiologie in Großbritannien zu etablieren.
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[Bearbeiten] Lebenslauf
Seine Eltern waren Dirk C. Tinbergen und Jeanette van Eek. Jan Tinbergen, eines seiner vier Geschwister, erhielt 1969 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sein jüngerer Bruder Luuk Tinbergen wurde Professor an der Reichsuniversität Groningen.
Bereits als Schüler zeigte sich Nikolaas Tinbergen als begeisterter Tierbeobachter und Pflanzensammler. 1925 besuchte Tinbergen Professor J. Tienemann, Gründer der Vogelwarte Witten und Initiator der Vogelberingung; bei anderer Gelegenheit verbrachte er mehrere Monate auf der Vogelwarte Rossitten (Ostpreußen). Die Beobachtung der Wanderzüge der Vögel im Herbst veranlasste ihn, das Studium der Biologie an der Universität Leiden zu beginnen, wo er 1932 sein erstes Diplom erhielt. Weitere Studienorte waren Wien und Yale.
Angeregt durch die Bienenversuche von Karl von Frisch wurde er 1932 promoviert; seine erste wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Verhaltensforschung war eine Studie über eine Kolonie von Grabwespen (Philanthus) und ihr Orientierungsverhalten in der Nähe des Nestes.
1932/33 lebt er im Rahmen des Internationalen Polarjahres mit seiner Frau, Elisabeth Rutten, in Angmagssalik, der Heimat eines kleinen isolierten Eskimo-Stammes.
Ab 1936 unterrichtet Tinbergen in Leiden vergleichende Anatomie und richtet einen Kurs über das Verhalten der Tiere ein.
Ebenfalls 1936 begegneten sich Tinbergen und Konrad Lorenz bei einem Symposium über Instinkte in Leiden zum ersten Mal. Dies war der Beginn einer langen und intensiven Zusammenarbeit; Konrad Lorenz bezeichnete Tinbergen bis zu seinem Tod als seinen besten Freund.
Bei einem längeren Aufenthalt bei Konrad Lorenz in Altenberg bei Wien begegnete er Dr. Alfred Seitz (Reizsummenregel).
1937 besuchte Tinbergen Karl von Frisch in München.
Während des Krieges war Tinbergen ab 1942 zwei Jahre in Deutschland inhaftiert, weil er gegen die Entlassung von drei jüdischen Professoren protestiert hatte. Nach dem Krieg erhielt er 1947 an der Universität Leiden eine Professur für experimentelle Zoologie. Nach Gastvorlesungen in den USA (1947) ging er 1949 nach Oxford, wo er blieb und von 1966 bis 1974 als Professor für tierisches Verhalten an der zoologischen Abteilung der Universität tätig war. In Oxford gründete er auch zusammen mit Gerard Baerends und William Thorpe die Zeitschrift Behaviour und beteiligte sich an der Gründung des Serengeti-Forschungs-Institutes in Tansania.
Bei einem Aufenthalt in den USA traf er Ernst Mayr, der entscheidenden Einfluss auf sein Interesse an Evolution und Ökologie hatte.
Sein erster und zugleich bekanntester Doktorand war Gerard Baerends.
[Bearbeiten] Wissenschaftliche Bedeutung
Nico Tinbergen gilt als einer der Begründer der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung, die bis Ende der 1940er-Jahre auch Tierpsychologie genannt wurde. Er beschäftigte sich vor allem mit den evolutionären Ursprüngen vieler sozialer Auslöser und ihrer Ritualisierung. Besonders bekannt geworden sind seine Publikationen über Stichlinge, Silbermöwen und Schmetterlinge, deren Befunde inzwischen allerdings umstritten sind. Die Deutung seiner Verhaltensbeobachtungen im Bezugsrahmen der Instinkttheorie wurde in den 1980er-Jahren speziell von Hanna-Maria Zippelius an der Universität Bonn kritisch analysiert und teilweise experimentell widerlegt.
Tinbergen bezeichnet den Menschen als ein instinktreduziertes Wesen. Er war überzeugt davon, dass ein besseres Verständnis von aggressivem Verhalten bei Tieren wichtige Rückschlüsse über Verhaltensweisen des Menschen liefern kann. In seinen letzten Jahren ging er auch den Fragen des frühkindlichen Autismus nach. Er vertrat die Meinung, dass die Verweigerung der Kontaktaufnahme mit der Umwelt nicht auf Gehirnschäden zurückzuführen ist, sondern auf traumatische Erlebnisse in früher Kindheit.
Seine vier Erklärungsebenen[1] sind nicht nur für die Verhaltensforschung im speziellen sondern ganz allgemein auch für die gesamte Biologie als Naturwissenschaft - und zwar auf allen Bezugsebenen (z. B. Zelle, Organ, Individuum (vergleiche Nicolai Hartmann)) richtungsweisend sowie für die Strukturierung von Interdisziplinarität in den Humanwissenschaften (Transdisziplinarität).
Bei einem Lebensphänomen sollen dementsprechend stets folgende Vier Grundfragen der Biologischen Forschung berücksichtigt werden:
- proximate causes (unmittelbare Zusammenhänge, Proximate Ursachen, Wirkursachen, von lat proximus, der Nächste): Die Fragen nach der Ontogenese und den Funktionsabläufen werden als Fragen nach den unmittelbaren (proximaten) Zusammenhängen zusammengefaßt.
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- 1. causation (Verursachungen, bzw. Ursache-Wirkungsbeziehungen bei den Funktionsabläufen). Klärung der Mechanismen eines Lebensphänomens. Z. B.: Wie "funktionieren" Erleben und Verhalten auf der chemischen, physiologischen, neuroethologischen, psychischen und sozialen Ebene?
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- 2. ontogenetic development (Ontogenese). Klärung der Mechanismen der Entwicklung eines Phänomens im Laufe des Lebens eines Individuums. Z. B.: Was bewirken wann / welche inneren Programmschritte (z. B. Reifungsschritte, z. B. Pubertät im Vorschulalter [Pubertas praecox] oder nach der Volksschule) und wann / welche Umwelteinflüsse (z. B. sexueller Mißbrauch im Vorschulalter oder sexuelle Erfahrungen nach der Pubertät etwa nach dem 15./16. Lebensjahr)?
- ultimate causes (grundlegende Zusammenhänge, Ultimate Ursachen, von lat. ultimus, der Letzte): Die Frage nach der Phylogenese und dem Anpassungswert von (Verhaltens-) Merkmalen werden als Fragen nach den grundlegenden (ultimaten) Zusammenhängen bezeichnet und zusammengefasst.
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- 3. adaptation (Anpassungswert): Klärung des Zwecks eines Lebensphänomens. Z. B.: Wozu sind die einzelnen Leistungen der Wahrnehmung, des subjektiven Innenlebens, des Lernens und des Verhaltens da? Hier gilt es zwischen einem ökologischen (z. B. Verhaltensökologie) und innerartlichen (z. B. Soziobiologie) Anpassungswert zu unterscheiden.
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- 4. evolutionary development (Phylogenese): Klärung der Mechanismen der Entwicklung eines Phänomens, sowie die Abfolge der Voraussetzungen und Vorbedingungen im Laufe der Evolution. Z. B.: Warum sind strukturelle Zusammenhänge stammesgeschichtlich "so-und-nicht-anders" geworden?
[Bearbeiten] Veröffentlichungen
- 1951 The Study of Instinct - Oxford, Clarendon Press
- 1953 The Herring Gull's World - London, Collins
- 1958 Curious Naturalists - London, Country Life
- 1963 On Aims and Methods in Ethology Zeitschrift für Tierpsychologie 20: pp 410-433
- 1972 The Animal in its World Vol. 1. - London, Allen & Unwin; Harvard University Press
- 1973 The Animal in its World Vol. 2. - London, Allen & Unwin; Harvard University Press
- 1972 (zusammen mit E. A. Tinbergen) Early Childhood Autism - an Ethological Approach - Berlin, Parey
[Bearbeiten] Literatur
- Richard W. Burkhardt: Patterns of Behavior: Konrad Lorenz, Niko Tinbergen, and the Foundation of Ethology. University of Chicago Press, 2005, ISBN 0226080900 (Paperback-Fassung)
[Bearbeiten] Auszeichnungen:
- Mitglied der Royal Society (1962)
- Mitglied der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften (1964)
- Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Edinburgh (1973)
- Verleihung der Jan-Swammerdam-Medaille der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Amsterdam (1973
- Zusammen mit Karl von Frisch und Konrad Lorenz erhält Tinbergen 1973 den Nobelpreis in Medizin für die Entdeckungen zu Organisation und Auslösung individueller und sozialer Verhaltensmuster.
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ (z. B. Tinbergen 1963; die auf einer Arbeit von Konrad Lorenz z. B. 1937 basieren: "Biologische Fragestellungen in der Tierpsychologie", Zeitschrift für Tierpsychologie 1: pp 24-32)
[Bearbeiten] Weblinks
- Literatur von und über Nikolaas Tinbergen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- eine kurze Autobiografie
Personendaten | |
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NAME | Tinbergen, Nikolaas |
ALTERNATIVNAMEN | Tinbergen, Nico |
KURZBESCHREIBUNG | niederländischer Verhaltensbiologe |
GEBURTSDATUM | 15. April 1907 |
GEBURTSORT | Den Haag |
STERBEDATUM | 21. Dezember 1988 |
STERBEORT | Oxford |