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Proximate und ultimate Ursachen von Verhalten

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Proximate und ultimate Ursachen von Verhalten sind in der Verhaltensforschung zwei gängige, aber äußerst unterschiedliche Ansätze, Verhaltensweisen zu erklären.[1]

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Zwei Blickwinkel

  • Man kann die unmittelbaren Gründe für ein Verhalten benennen, das sind 1. die Verursachungen (damit sind die Ursache-Wirkungs-Beziehungen bei den Funktionsabläufen gemeint) und 2. die Ontogenese, jene Gründe also, die aus einer bestimmten Situation ableitbar sind – das sind die proximaten Ursachen eines Verhaltens. Sie werden häufig auch Wirkursachen genannt und lassen sich oft unmittelbar auf physiologische oder psychische Vorgänge zurückführen;

ad 1: Zu funktionellen Ursachen-Wirkungs-Beziehungen: Bei der Untersuchung von Lebewesen ist man mit unterschiedlichen Komplexitäts- oder Bezugsebenen konfrontiert (z.B. chemische, physiologische, psychische, soziale Ebene). Erkenntnisse zu basalen Ebenen sind eine (‘proximate’) Voraussetzung für ein Verständnis darüberliegender Ebenen. Aber die Kenntnis der chemischen Botenstoffe von Nervenzellen (Neurotransmitter) etwa reicht nicht aus, die darüberliegenden Ebenen der neuroanatomischen Schaltpläne oder des Verhaltens zu verstehen: “das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile” (Nicolai Hartmann). - Die Bezugsebenen sind prinzipiell gleich wichtig. Zu den proximaten Zusammenhängen gibt es weit mehr wissenschaftliche Daten, als zu den ultimaten - insbesondere zu basalen Bezugsebenen (Molekül, Zelle) - und vergleichsweise wenig dazu, wie die Zusammenhänge zwischen den Ebenen aussehen.

ad 2: Zu Ontogenese (individuelle Entwicklung vom Keim an): Die Ontogenese folgt einem “inneren Plan”. - Die Biogenetische Grundregel besagt, dass die morphologische Ontogenese z.T. die Phylogenese rekapituliert. Diese Regel gilt nicht für die psychomotorische Entwicklung (Medicus 1992).

  • Man kann aber auch die ultimaten Ursachen oder die evolutionsbiologischen Zusammenhänge benennen, das ist 1. der Anpassungswert und 2. die Phylogenese, jene Gründe also, die im Prozess der Stammesgeschichte das Entstehen der betreffenden Verhaltensweise begünstigt haben. Sie werden häufig auch grundlegende Ursachen genannt und beziehen sich stets auf einen Selektionsvorteil sowie die Abfolge ihrer evolutionären Vorbedingungen.

ad 1: Zu Anpassungswert (betrifft Frage nach den Zwecken, nach dem Wozu): Die Anzahl der Nachkommen eines Individuums ist ein empirisches Maß für den Anpassungswert ein phylogenetischer “Erfahrungswert”, wie “zweckvoll” die vererbten Merkmale sind (betrifft z.B. auch Lernprogramme etwa in dem Sinn: Warum führt Lernen in der Ontogenese fast immer zu einer Anpassungsverbesserung?). Dabei ist jedes Individuum ein Kompromiss zwischen innerorganismischen Anpassungen (morphologisch z.T. Koevolution phylogenetisch alter Vorbedingungen [z.T. 'Bürden'] und neuerer Merkmale), sowie innerartlichen und außerartlichen Anpassungen.

ad 2: Zu Phylogenese (Stammesgeschichte): Nach Darwin erfolgt der Artenwandel in der Stammesgeschichte durch Mutation und Selektion (‘variation’ & ‘natural selection’). Durch zufällige Mutationen entstehen neue Varianten (Mutanten); im Rahmen von ökologischen Grenzen fördert oder behindert die Selektion diese Mutanten über die Anzahl fortpflanzungsfähiger Nachkommen. Da viele Merkmale (z.T. auch stammesgeschichtlich alte Vorbedingungen) im Verlauf der Evolution bestehen bleiben, besteht jeder Organismus aus unterschiedlich alten Merkmalen; dies gilt für den Bauplan und für Leistungen des Verhaltens gleichermaßen. Durch eine Rekonstruktion der stammesgeschichtlichen Vorbedingungen lässt sich mitunter das-so-und-nicht-anders-Sein von vielen (Verhaltens-) Merkmalen deuten.

Methodisch spielen bei der Frage nach phylogenetischen Erwerbungen der Artenvergleich eine zentrale Rolle (Vergleich von Tierarten und ‘Tier’-Mensch-Vergleich). Durch reine Verhaltensbeobachtung können stammesgeschichtliche Zusammenhänge meist nur in Bezug auf kleinere taxonomische Einheiten festgestellt werden: (betr. Ordnungen, Familien und Gattungen) z.B. ähnliche Mimik bei Menschenaffen und Menschen, z.B. „Spielgesicht“. In der Humanethologie sind auch kulturunabhängige Universalien aus dem Kulturenvergleich Hinweis auf die Möglichkeit einer phylogenetischen Erwerbung (siehe z. B. Universalien der Musikwahrnehmung).

Verhaltensweisen sind oft bei Tieren, deren Nervensystem eine einfachere Struktur hat, klarer und leichter analysierbar. Auf dieser Grundlage sind dann Untersuchungen möglich, ob und in welcher Weise ähnliche Leistungsqualitäten bei höheren Organismen und beim Menschen vorhanden sind - und durch welche Leistungsqualitäten sich eine Tierart von anderen und der Mensch vom Tierreich abhebt. Diese Aspekte werden im Rahmen der Theorie von Konrad Lorenz »Die Rückseite des Spiegels« behandelt. Sie bezieht sich auf phylogenetische Zusammenhänge von Verhaltensleistungen in Bezug auf die Großsystematik.

Verhalten ist aus dieser Sicht also nie monokausal erklärbar (durch eine einzige Ursache), sondern stets multikausal (durch mehrere Ursachen). In vielen Fällen können zudem mehrere proximate Ursachen plausibel benannt werden und häufig auch mehrere ultimate Ursachen. Dabei ist es nützlich und notwendig zu versuchen die ultimaten und proximaten Fragestellungen nicht nur auf den von der Ethologie und der Soziobiologie bevorzugten Ebenen des Individuums und der Gruppe zu untersuchen:

Bei der Untersuchung von Lebensphänomenen gilt es proximate und ultimate Zusammenhänge möglichst in Bezug auf "alle" Ebenen (z.B. Zelle, Organ Individuum, Gruppe; siehe z.B. Nicolai Hartmann) zu hinterfragen:

Verursachungen Ontogenese Anpassungswert Phylogenese
Molekül
Zelle
Organ
Individuum
Gruppe
Gesellschaft

Diesem Raster lassen sich alle "Life Sciences" und Biowissenschaften sowie alle Humanwissenschaften zuordnen. Die kursiv gedruckten Konzepte der Tabelle sind auch Gegenstand der Geisteswissenschaften (Interdisziplinarität, Transdisziplinarität).


Generell sollten für jede zu interpretierende Verhaltensweise jeweils sowohl die proximaten als auch die ultimaten Ursachen angegeben werden.

[Bearbeiten] Beispiel 1

Warum flüchtet eine Maus vor der Katze in ihr Loch?

Unmittelbare (proximate) Ursache für die Fluchtreaktion der Maus ist das Erscheinen der Katze. Der biologische Zweck (die ultimate Ursache) der Fluchtreaktion ist hingegen darin zu sehen, dass sich im Verlauf der Evolution ein vererbbares Verhaltensprogramm entwickelt hat, das dazu beiträgt, die Reproduktionschancen der Maus zu erhöhen.

[Bearbeiten] Beispiel 2

Warum bringt das neue Alpha-Männchen eines Löwenrudels alle Jungtiere um?

Wird ein Rudelführer von einem jüngeren und kräftigeren Löwen-Männchen verdrängt, so tötet der neue Rudelführer häufig alle Jungtiere. Dieser Infantizid bei Löwen wird in aller Regel soziobiologisch interpretiert: Der erfolgreiche Löwe könne auf diese Weise rascher eigenen Nachwuchs zeugen.

Dies ist ein alleiniger Verweis auf die ultimaten Ursachen des Verhaltens. Die proximaten Ursachen (die hormonellen, neurologischen oder sonstigen physiologischen Ursachen sowie die äußeren Auslöser) werden hingegen kaum je erwähnt, da sie bisher offenbar nicht detailliert analysiert wurden.

[Bearbeiten] Beispiel 3

Warum lächelt man, wenn man gute Bekannte trifft?

Die unmittelbare (proximate) Ursache ist ein psychologisch erklärbarer Vorgang: man freut sich, die guten Bekannten zu sehen. Die ultimate Ursache des Lächelns sind hingegen bestimmte angeborene Bewegungsmuster der Gesichtsmuskulatur, die es uns ermöglichen, eine Begegnung spontan als "vermutlich ungefährlich" einzuschätzen.

[Bearbeiten] Beispiel 4

Warum zeigen Angehörige einzelner Primatenarten ihre Zuneigung durch "Lausen" (mit anderen Worten: soziale Fell- und Hautpflege) und Küssen bzw. "so-und-nicht-anders?

  • ultimate Zusammenhänge:

Phylogenese: Brutpflege (eine Form des "einseitigen" Altruismus) und das Eltern-Kind-Band der (Säugetier-) Vorfahren der heutigen Primaten waren nach Irenäus Eibl-Eibesfeldt stammesgeschichtliche Vorbedingungen für die Evolution sozialer individualisierter Bindungen zwischen Adulten, sowie des so genannten reziproken Altruismus. Elemente des Brutpflegeverhaltens fanden im Rahmen dieser evolutionären Entwicklung Verwendung als sozial freundliche Verhaltensweisen (z.B. soziale Fell- und Hautpflege und Kuss).

Der ökologische Anpassungswert: Soziale Zusammenschlüsse sind zweckvoll z.B. beim Schutz vor Beutegreifern, kollektiver Jagd und Bautätigkeiten (Bsp. für den letzten Punkt: soziale Insekten).

Der innerartliche Anpassungswert: Freundliche Verhaltensweisen helfen Bindungen zu stiften und zu erhalten als Voraussetzung für gegenseitige Unterstützungen z.B. bei der Brutpflege (Bruthelfer) oder bei Auseinandersetzungen zwischen Gruppenmitgliedern.

  • proximate Zusammenhänge:

Verursachungen: Der Endorphinspiegel steigt bei Sender und Empfänger während der sozialen Fell- und Hautpflege. - Freundliche Verhaltensweisen sind Gegenspieler (Antagonisten) der Aggression.

Ontogenese: Sozial isoliert aufgewachsene Primaten (z.B. Harlow-Versuche mit Rhesusaffen; Menschen, die in Waisenhäusern aufgewachsen sind und hospitalisierte Kinder) können ihr sozial freundliches Verhaltensrepertoire nicht immer situationsadäquat einsetzen.

[Bearbeiten] Literatur

  • Konrad Lorenz (1937): Biologische Fragestellungen in der Tierpsychologie. Zeitschrift für Tierpsychologie, 1: pp 24-32.
  • Konrad Lorenz (1937): Über die Bildung des Instinktbegriffs. Die Naturwissenschaften 25 289-300, 307-318, 324-331
  • Konrad Lorenz (1937): Über den Begriff der Instinkthandlung. Folia Biotheoretica 2 17-50
  • Nikolaas Tinbergen (1963): On Aims and Methods in Ethology Zeitschrift für Tierpsychologie 20: pp 410-433

[Bearbeiten] Quellen

  1. nach Konrad Lorenz (z.B. 1937) und Nikolaas Tinbergen (z.B. 1963)

[Bearbeiten] Weblinks

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