Psychiatrie
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Als Psychiatrie bezeichnet man die medizinische Teildisziplin, die sich mit der Behandlung seelischer Erkrankungen befasst.
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Begriff
Der Begriff "Psychiatrie" wurde 1808 vom Arzt Johann Christian Reil in Halle geprägt (ursprünglich als "Psychiaterie", wurde später zu "Psychiatrie"). Etymologisch aus griechisch "Psyche" – "die Seele" und "iatrós" – "der Arzt" zusammengesetzt, bedeutet "Psychiatrie" wörtlich übersetzt etwa "Seelenheilkunde".
Psychiatrie als medizinische Fachdisziplin
Einleitung
Die Grundzüge der modernen Psychiatrie lassen sich auf wenige Konzepte zurückführen. Wilhelm Griesinger hat mit der These, seelische Erkrankungen seien Erkrankungen des Gehirns, die wichtigste Grundlage der modernen Psychiatrie formuliert. Emil Kraepelin hat erstmals in der Geschichte der Psychiatrie ein brauchbares nosologisches Bezugssystem zur Verfügung gestellt. Karl Jaspers Arbeiten zur Allgemeinen Psychopathologie sind grundlegend für die Methodik modernen psychopathologischen Denkens. Die Grundlage des Krankheitsbegriffes in der modernen Psychiatrie bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist das sogenannte triadische System nach Kurt Schneider. Mit der Einführung des ICD-10 wandelt sich das Krankheitsverständnis der Psychiatrie erneut.
Reform der Psychiatrie
Die Einführung der Neuroleptika und die Durchführung von Katamnesestudien in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts (in Deutschland vor allem durch den Bonner Psychiater Gerd Huber) hat den lange bestehenden therapeutischen Nihilismus der Psychiater vor allem im Falle der Schizophrenie zu beenden geholfen. Mit der Psychiatriereform in den sechziger und siebziger Jahren und der Entwicklung der modernen Sozialpsychiatrie kommt es in den meisten westlichen Ländern zu einer Anerkennung seelischer Erkrankungen als eigenständiges Krankheitsbild. Die moderne Psychiatrie gründet sich demzufolge im wesentlichen auf die Erkenntnisse der biologischen Psychiatrie und die Reformbemühungen der Sozialpsychiatrie. Psychotherapeutische Behandlungsmethoden stehen in der Psychiatrie heute nicht mehr so im Mittelpunkt wie noch vor einigen Jahrzehnten. Trotzdem lernen Psychiater psychotherapeutische Behandlungsverfahren, da die meisten psychiatrischen Patienten von stabilen therapeutischen Beziehungen profitieren.
Behandlungsverfahren
Die modernen psychiatrischen Behandlungsansätze sind durch sogenannte multimodale Konzepte gekennzeichnet: das bedeutet, dass alle Lebensbereiche des Patienten in einer Behandlung berücksichtigt werden sollen. Die wichtigsten Leitsätze moderner psychiatrischer Behandlung lassen sich in folgenden Grundsätzen zusammenfassen:
- Freiheit ist wichtiger als Gesundheit. Das heißt in erster Linie, dass Patienten das Recht haben, Behandlungen abzulehnen.
- Gleichstellung der seelisch und körperlich Kranken. Dieser Grundsatz ist in den Versorgungsstrukturen wichtig, da durch ihn ausreichende Mittel für die Versorgung begründet werden.
- Gemeindenahe Versorgung: Dies bedeutet, dass Patienten das Recht haben, in Kliniken und Einrichtungen behandelt zu werden, die in der Nähe ihres Wohnortes liegen, was in Deutschland zwingend zur Einrichtung von kleinen psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäuser und der Auflösung der Landeskrankenhäuser geführt hat.
- das Ziel einer psychiatrischen Behandlung ist nicht nur Heilung, sondern auch Verbesserung der Lebensqualität (Leben mit der Krankheit).
- Therapeuten aller Berufsgruppen in der Psychiatrie unterstützen die Anti-Stigma-Initiativen von Betroffenen, indem die Integration von Patienten mit seelischen Erkrankungen in die Gesellschaft auf vielfältige Weise befördert wird (ambulante Behandlung, betreutes Wohnen, beschütztes Arbeiten).
Fachgebietsgrenzen
Die Abgrenzung der Psychiatrie von anderen medizinischen Disziplinen ist teilweise arbiträr. Psychotherapeuten behandeln vorwiegend Patienten mit Neurosen und Angststörungen. In der psychosomatischen Medizin werden vorwiegend Patienten behandelt, bei denen seelische Störungen schwerwiegende Auswirkungen auf das körperliche Befinden haben (z. B. Essstörungen). Fließend sind die Grenzen der Domänen von Neurologie und Psychiatrie beispielsweise bei hirnorganischen Psychosyndromen und Demenzen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden Patienten unter 18 Jahren mit seelischen Erkrankungen behandelt. Aus pragmatischen Gründen werden allerdings alle Patienten mit seelischen Störungen von Psychiatern und in psychiatrischen Kliniken behandelt, wenn die Beschwerden sehr schwerwiegend sind und/oder plötzlich auftreten, da es für Behandlungen bei Psychotherapeuten oder in psychosomatischen Kliniken teilweise sehr lange Wartezeiten gibt. In diesem Sinne ist der Psychiater ein Allgemeinarzt für seelische Störungen jeder Art.
Fachbereiche der Psychiatrie
Die Allgemeinpsychiatrie ist der klinische Teil des Faches, welcher sich mit den psychischen Erkrankungen und Störungen des Erwachsenenalters beschäftigt. Die Akutpsychiatrie behandelt psychiatrische Notfälle.
In der Suchtmedizin werden Patienten mit stoffgebundenem (Alkohol, Nikotin, Cannabis, Heroin etc.) oder stoffungebundenem (Spielsucht, Sexsucht etc.) Missbrauchs- oder Abhängigkeitsverhalten behandelt.
Gerontopsychiatrie wird allgemein als Psychiatrie für Menschen im höheren Lebensalter verstanden, wobei das Lebensalter (60 Jahre) nur eine ungefähre Richtmarke ist. Dabei geht es zum einen um Menschen, die bereits in jüngeren Jahren psychisch erkrankt sind und deren Behandlung unter Berücksichtigung altersbedingter Besonderheiten fortgesetzt werden muss, und zum anderen um Menschen im höheren Lebensalter, deren psychische Erkrankung aus dem Alterungsprozess resultiert.
Die Forensische Psychiatrie befasst sich mit der Behandlung und Begutachtung von psychisch kranken Straftätern (siehe auch Maßregelvollzug).
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie genannte Unterdisziplin ist ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet geworden. Sie befasst sich mit den psychischen Erkrankungen vom Kindern und Jugendlichen bis maximal zum 21. Lebensjahr.
Die psychosomatische Medizin ist aus der Psychiatrie hervorgegangen, stellt aber ein eigenes Fachgebiet dar und ist meist der Inneren Medizin unterstellt. Sie beschäftigt sich mit Erkrankungen, bei denen Wechselwirkungen zwischen psychischen und körperlichen Faktoren (Psychosomatik) wesentlich sind.
Sozial- und Gemeindepsychiatrie
Die Sozial- und Gemeindepsychiatrie ist die Richtung,
- die sich mit den sozialen Bedingungen für die Entstehung und das Weiterbestehen Psychischer Störungen befasst
- die den Betroffenen außerhalb der großen Anstalten, d . in der Gemeinde helfen will.
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Um nach einem absolvierten Medizinstudium in Deutschland als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie tätig zu werden, bedarf es einer fünfjährigen Weiterbildungszeit, von der ein Jahr Pflichtweiterbildungszeit in der Neurologie ist.
- 4 Jahre Psychiatrie und Psychotherapie, davon 2 Jahre Stationsdienst, anrechenbar sind
- 1 Jahr Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder Psychosomatische Medizin oder
- 1/2 Jahr Innere Medizin und Allgemeinmedizin oder Neurochirurgie oder Neuropathologie
- 1 Jahr Neurologie
Um sich zur Facharztprüfung anmelden zu können, müssen diagnostische Funktionen (wie etwa EEG) sowie Teilnahmen z. B. an Balint-Gruppen nachgewiesen werden.
Statistiken
Am 1. Januar 2001 waren 1.651 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie registriert, von ihnen waren 587 niedergelassen. 75 übten keine ärztliche Tätigkeit aus. In der Statistik und der Graphik sind die sog. Nervenärzte nicht berücksichtigt. Letztere sind Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie, sie haben also beide Facharztausbildungen absolviert und stellen weiter die Mehrheit der psychiatrisch tätigen Ärzte.
Kontroverse Wahrnehmung der Psychiatrie
Die Wahrnehmung der Psychiatrie in der Öffentlichkeit ist häufig von extremen Gegensätzlichkeiten gekennzeichnet. Die Aspekte, die das jeweilige Bild von der Psychiatrie bestimmen, unterscheiden sich erheblich je nach Standpunkt des Betrachters. So unterscheidet sich zum Beispiel die Sicht eines Psychiaters von der eines Patienten oder gar eines Opfers eines rückfälligen Sexualstraftäters, der aufgrund eines unzutreffenden psychiatrischen Gutachtens zu früh aus der geschlossenen Unterbringung entlassen wurde.
Auch innerhalb akademisch arbeitender Psychiater und Psychotherapeuten gibt es ganz unterschiedliche Bewertungen der Psychiatrie. Als
- wertfreier biochemischer-medizinischer Behandlungsansatz
- Unterdrückungsinstrument, das es erlaubt, abweichendes Verhalten und Denken als „krank“ zu definieren und zu unterdrücken
- lebensgefährdenden Ansatz der „Kuschelpädagogik“.
Betrachtet man die Geschichte der Psychiatrie, so sind diese unterschiedlichen Aspekte von jeher vorhanden. Es lassen sich stets Belege finden für
- Humanität und Fortschritt (z.B. die sog. "Irrenbefreiung" durch Pinel; Einführung sanfter Behandlungsmethoden [z.B. Psychotherapie]);
- Menschenverachtung und Unterdrückung (z.B. Zusammenpferchen der "Alienierten" in Asylen; Rolle der Psychiatrie im Nationalsozialismus und in der UdSSR; verstümmelnde "Lobotomie" im Rahmen einer "Psychochirurgie" an Schizophreniekranken, Homosexuellen und Kommunisten in den USA der fünfziger Jahre) sowie der Vorwurf der
- Exkulpierung von Verbrechern und Perversen.
Schon die Herkunft der Psychiatrie aus den "Asylen" für Landstreicher, Bettler, Ausgestoßene, sozial Geächtete, Auffällige etc. verdeutlicht die Janusköpfigkeit:
- Entlastung durch Krankenhausaufnahme - Zwangsunterbringung/Internierung
- Hilfe zur Anpassung - erzwungene Korrektur an äußere Normen
- Verständnis für psychisch kranke Straftäter - entschuldigendes Verstehen aller Perversionen und Verbrechen.
Vgl. hierzu auch Michel Foucault.
Literatur
- Mathias Berger: Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. Urban und Fischer 2003.
- Michel Foucault: Histoire de la folie à l'âge classique - Folie et déraison; dt. Ausg.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. ISBN 3-518-27639-5
- Michel Foucault: Maladie mentale et personnalité; reed.1995 Maladie mentale et psychologie; dt. Ausg.: Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968. ISBN 3-518-10272-9.
- Andreas Marneros, F. Pillmann: Das Wort Psychiatrie wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Schattauer Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-7945-2413-6
- Bock, Thomas; Weigand, Hildegard (Hrsg.): Hand-werks-buch Psychiatrie (Lehrbuch). Bonn: Psychiatrie-Verlag, 5. Aufl. 2002, 688 Seiten, ISBN 978-3-88414-120-5
- Rahn, Ewald; Mahnkopf, Angela: Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 3. Aufl. 2005, 768 Seiten, ISBN 978-3-88414-378-0
Siehe auch
- Medizin, Psychiater, Psychische Erkrankungen, Psychopathologie, Forensische Psychiatrie, Antipsychiatrie, Psychologie, Psychotherapie, Telepsychiatrie, Psychopharmaka, psychiatrische Klinik, Geschichte der Psychiatrie, Zwangsbehandlung, Betreuungsrecht, Patientenverfügung, Patientenrecht, Maßregel der Besserung und Sicherung, Maßregelvollzug
Weblinks
Wiktionary: Psychiatrie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme und Übersetzungen |
- http://www.dgppn.de/ Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
- http://www.epsy.de Psychiatrie und Psychologie im Internet
- Individuelle Behandlungs- und Rehaplanung Hier gibt es Infos zu "Psychische Behinderung" und Sozialpsychiatrie#Gemeindepsychiatrie
- Psychiatrienetz
- Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V.