Radikalenerlass
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Der Radikalenerlass (auch Extremistenbeschluss) war ein Beschluss der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 28. Januar 1972. Sein offizieller Name lautet Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst. Gegner des Radikalenerlasses sprachen von ihm als Berufsverbot. Er war insbesondere eine Reaktion auf den linksradikalen Terror der RAF und sollte verfassungsfeindliche Personen von Beamtenstellungen ausschließen. Es handelte sich um eine Konkretisierung des Konzeptes der Wehrhaften Demokratie. NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) erklärte dazu:
- "Ulrike Meinhof als Lehrerin oder Andreas Baader bei der Polizei beschäftigt, das geht nicht."
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[Bearbeiten] Inhalt
Die Regierungschefs der Länder haben in einer Besprechung mit Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Januar 1972 auf Vorschlag der Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder die folgenden Grundsätze beschlossen:
- Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt; Beamte sind verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen.
Es handelt sich hierbei um zwingende Vorschriften. - Jeder Einzelfall muss für sich geprüft und entschieden werden. Von folgenden Grundsätzen ist dabei auszugehen:
- Bewerber
- Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt.
- Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages.
- Beamte
Erfüllt ein Beamter durch Handlungen oder wegen seiner Mitgliedschaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung die Anforderungen des § 35 Beamtenrechtsrahmengesetz nicht, aufgrund derer er verpflichtet ist, sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten, so hat der Dienstherr aufgrund des jeweils ermittelten Sachverhaltes die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbesondere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem Dienst anzustreben ist.
- Bewerber
- Für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst gelten entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Bestimmungen dieselben Grundsätze.
(Ministerialblatt von Nordrhein-Westfalen, 1972, S. 324)
[Bearbeiten] Folgen
Bis zu seiner Abschaffung wurden insgesamt 1,4 Millionen Personen überprüft. Ca. 1.100 davon wurde der Eintritt in den bzw. das Verbleiben im öffentlichen Dienst verwehrt[1], 130 wurden entlassen. In der Anfangszeit des Radikalenerlasses erfolgte sogar eine Regelanfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz, wenn jemand sich für eine Stelle im öffentlichen Dienst bewarb. Diese Maßnahme wurde aber nach heftigen Protesten im Laufe der 70er und 80er Jahre eingestellt. Als letztes Bundesland stellte Bayern 1991 die Regelanfrage ein. Anstelle der Regelanfrage wird heute eine sogenannte Bedarfsanfrage beim Verfassungsschutz durchgeführt, wenn sich konkrete Anzeichen einer Gegnerschaft zur FDGO ergeben. Dies ist sehr selten der Fall und führt noch seltener zu Konsequenzen (siehe auch Abschnitt: Aktuelles).
Die Gründe, die Bewerber für den öffentlichen Dienst in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit brachten, waren vielfältig. In der Praxis waren vom Radikalenerlass vor allem Beamte, Beamtenanwärter, Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes und Lehramtsreferendare aus dem linken Spektrum betroffen. Es wurde nicht nur Linksextremisten und Kommunisten die Einstellung verweigert, sondern auch Personen, die anderen oder keiner Partei angehörten. Teilweise war es ausreichend, in einer Organisation aktiv zu sein, in der Kommunisten eine führende Rolle spielten. Dazu gehörte beispielsweise die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA), die Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK) oder die Vereinigung demokratischer Juristen. Der Radikalenerlass galt auch für Rechtsextremisten. Die Zahl der Fälle von Rechtsextremisten, die vom Radikalenerlass betroffen waren, lag jedoch deutlich unter denen der Linksextremisten.
[Bearbeiten] Kritik
Der Radikalenerlass wurde vielfach als demokratiefeindlich kritisiert. Die Überprüfung der Verfassungtreue von öffentlich Bediensteten war einmalig in der Europäischen Gemeinschaft und wurde in internationalen Gremien als Verletzung der Menschenrechte gewertet. Als problematisch galt insbesondere der Umstand, dass per Verfassung die Erklärung der Verfassungswidrigkeit einer Partei oder Organisation der Judikative anheimgestellt ist, jedoch quasi der Exekutive sowohl in Sachen der Beurteilung als auch in Sachen der Umsetzung übertragen wurde. Aufgrund der mit einem Parteiverbot verbundenen Intensität des Eingriffs und um einem (politischen) Missbrauch vorzubeugen, ist in der Bundesrepublik ausschließlich das Bundesverfassungsgericht berechtigt, in dem in Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz in Verbindung mit §§ 13 Nr. 2, 43 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelten Verfahren die Verfassungswidrigkeit einer Partei festzustellen und im ergehenden Urteil ein Verbot dieser auszusprechen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Radikalenerlass jedoch am 22. Mai 1975 [2] gebilligt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Falle einer entlassenen (und später wieder eingestellten) Lehrerin, die DKP-Mitglied war, einen Verstoß gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit) angenommen und die Bundesrepublik zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt.
Willy Brandt bezeichnete den Radikalenerlass später als schweren Fehler seiner Regierung.
[Bearbeiten] Aktuell
[Bearbeiten] Michael Csaszkóczy
Der Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy darf seit dem 26. August 2004 nicht als Lehrer im Baden-Württembergischen Staatsdienst arbeiten, da er sich in einer lokalen Gruppe der Antifa engagiert, welche vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft wird. Darüber hinaus weigert sich Csaszkóczy, sich von Texten der Gruppe zu distanzieren, innerhalb welcher „Militanz“ als legitimes Mittel im Kampf um Befreiung bezeichnet wird. Die Begründung des baden-württembergischen Kultusministeriums ist, dass er „nicht Gewähr dafür bietet, jederzeit voll einzutreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Am 2. September 2005 wurde Michael Csaszkóczy auch in Hessen zunächst nicht eingestellt und die Überprüfung dauert an, ob er persönlich für ein Beamtenverhältnis geeignet ist. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe entschied mittlerweile, dass die Entscheidung, Michael Csaszkóczy auf der Grundlage dieses Erlasses nicht einzustellen, rechtens sei. Obwohl eine Berufung gegen dieses Urteil nicht zugelassen wurde, kündigte der Kläger bereits an, dagegen vorzugehen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH) hat mit Beschluss vom 4. August 2006 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgericht Karlsruhe zugelassen, "da (der) Erfolg des Berufungsverfahrens offen sei und deshalb ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestünden."[3].
Der Verwaltungsgerichtshof ist dem Verwaltungsgericht Karlsruhe nicht gefolgt und hat das Urteil des Verwaltungsgerichts auf die Berufung des Klägers geändert. Dabei war für das Gericht maßgeblich, dass die Behörde bei ihrer ungünstigen Prognose wesentliche Beurteilungselemente - wie das Verhalten des Klägers im bereits absolvierten Vorbereitungsdienst - nicht hinreichend berücksichtigt habe und den Anforderungen an eine sorgfältige und vollständige Würdigung des Sachverhalts und der Person des Klägers nicht gerecht geworden sei. Die dem Kläger vorgehaltene „Sündenliste“ mit zahlreichen Einzelvorfällen sei nicht geeignet, die Annahme mangelnder Verfassungstreue zu rechtfertigen.[4]
[Bearbeiten] Mecklenburg-Vorpommern
Eine deutliche Verschärfung der Rechtspraxis wird in Mecklenburg-Vorpommern diskutiert[5]. Ein Erlass von Innenminister Lorenz Caffier (CDU) soll verhindern, dass Neonazis in ehrenamtliche staatliche Aufgaben (z.B. ehrenamtliche Bürgermeister) berufen werden. Während aus den Reihen von SPD und Linkspartei unterstützung kommt, wird das Vorhaben vom Städte- und Gemeindebund abgelehnt[6].
[Bearbeiten] Rechtsprechung
Die Rechtsprechung zum Radikalenerlass basiert auf der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, der eine Einstellung nur dann für vertretbar hält, wenn der Bewerber "eine von der Verfassung (GG Art 33 Abs 5) geforderte und durch das einfache Gesetz konkretisierte rechtliche Voraussetzung für den Eintritt in das Beamtenverhältnis [erfüllte], [nämlich] dass der Bewerber die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten (Beschluss des BVerfG, 22. Mai 1975, Az: 2 BvL 13/73). Diese Gewähr sah das Gericht nicht gegeben, da Csaszkóczy grundsätzlich leugne, dass es einen radikalen Bruch zwischen dem sogenannten „Dritten Reich“ und der freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO) der Bundesrepublik Deutschland gegeben habe.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR, Fall Vogt gegen Deutschland, Az: 7/1994/454/535, v. 26. September 1995) bezog sich ausdrücklich aber nur auf Beamte und nicht auf Beamtenbewerber: „Der Gerichtshof wiederholt, dass das Recht auf Einstellung im öffentlichen Dienst absichtlich nicht in die Konvention aufgenommen wurde. Dementsprechend kann die Weigerung, eine Person zum Beamten zu ernennen, nicht als solche die Grundlage für eine Beschwerde gemäß der Konvention darstellen.“
[Bearbeiten] Literatur
- Manfred Histor: Willy Brandts vergessene Opfer, Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971-1988. Ahriman Verlag, 2. erw. Aufl. 1999, ISBN 3922774075 Vorgeschichte und verfassungsrechtliche Würdigung, Dokumentation und statistische Aufbereitung der Berufsverbote, in Zusammenarbeit mit der Freiburger Bürgerinitiative gegen Berufsverbote.
- Gerard Braunthal: Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst: der Radikalenerlass von 1972 und die Folgen. Schüren Presseverlag, Marburg 1992, ISBN 389472062X.
- Jury, Beirat und Sekretariat des 3. Internationalen Russell-Tribunal (Hg.): 3. Internationales Russell-Tribunal. Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland Band 2. Das Schlußgutachten der Jury zu den Berufsverboten. Berlin, 1978, ISBN 3880221952.
- Jens A. Brückner: Das Handbuch der Berufsverbote. Rechtsfibel zur Berufsverbotspraxis.Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1977, ISBN 3875840615.
- Peter Frisch: Extremistenbeschluss. Zur Frage der Beschäftigung von Extremisten im öffentlichen Dienst mit grundsätzlichen Erläuterungen, Argumentationskatalog, Darstellung extremistischer Gruppen und einer Sammlung einschlägiger Vorschriften, Urteile und Stellungnahmen. Heggen Verlag, Leverkusen, 2. Aufl. 1976, ISBN 3920430611.
- Aktionskomitee gegen Berufsverbote (Hg.): Dokumente (I-IV). Überprüfung der politischen Treuepflicht - Berufsverbot. Berlin, 1975-1976.
[Bearbeiten] Weblinks
- Das Deutsche Historische Museum zum Extremistenbeschluss/Radikalenerlass
- Seite von Aktivisten gegen Berufsverbote, mit weiteren Informationen zum Fall Csaszkoczy
- http://www.radikalenerlass.de/
- http://www.berufsverbote.de/
- Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, 15. März 2006
- Verwaltungsgericht Karlsruhe: Berufsverbot pur aus dem Geist des Beamtenrechts
- Die ZEIT: Berufsverbot: Streit geht in zweite Instanz
- Heidelberger Realschullehrer: VGH lässt Berufung zu
- Verwaltungsgerichtshof hebt Berufsverbot gegen Lehrer auf
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ WDR: Stichtag 19.05.06
- ↑ BVerfGE 39, 334
- ↑ Berufungsverfahren: Az. 4 S 1805/06
- ↑ Pressemitteilung VGH, 14.3.2007
- ↑ Nachricht auf der Seite des Landes MV
- ↑ http://www.taz.de/pt/2007/03/05/a0111.1/text