Zwangsstörung
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Zwangsstörungen sind psychische Störungen, bei denen sich den Patienten Gedanken und Handlungen aufdrängen, die zwar als quälend empfunden werden, aber dennoch umgesetzt werden müssen, auch wenn sie übertrieben oder vollkommen sinnlos sind. Die Erkrankten erkennen dies zwar meistens, können sich darüber aber nicht hinwegsetzen.
Obwohl bei den Zwangsstörungen auch Ängste eine Rolle spielen, zählen sie nicht zu den Angststörungen im engeren Sinne. Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen einer Zwangsstörung und einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung.
Inhaltsverzeichnis |
Klassifikation nach ICD-10 | ||
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F42 | Zwangsstörung | |
ICD-10 online (WHO-Version 2006) |
[Bearbeiten] Symptome und Beschwerden
Zwangsstörungen sind durch wiederkehrende Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen gekennzeichnet, die rituellen Charakter annehmen können. Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich dauernd wiederholen, quälend sind und nicht durch Willensanstrengung beeinflusst werden können. Zwangshandlungen sind Stereotypien, die ständig wiederholt werden müssen. Typische Beispiele sind der Waschzwang, Kontrollzwang, Zwangsgedanken, magisches Denken und der Ordnungszwang.
Bei Zwangsgedanken geht es meistens um angstvolle Gedanken und Überzeugungen, wie jemandem zu schaden, in eine peinliche Situation zu kommen oder ein Unheil anzurichten. Thematisch geht es häufig um Schuld oder Verunreinigung. Zwangshandlungen bestehen dementsprechend oft aus Kontroll- oder Reinigungshandlungen. Ein Beispiel ist der Waschzwang. Zwangsstörungen können so stark ausgeprägt sein, dass eine normale Lebensführung unmöglich ist.
Die Erkrankung beginnt meist im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter vor dem 30. Lebensjahr, meist langsam zunehmend und sich dann stetig verschlimmernd. Ohne wirksame Therapie verläuft sie zu zwei Dritteln chronisch, zu einem Drittel schubweise mit akuten Verschlechterungen unter besonderen Belastungen.
[Bearbeiten] Verbreitung
Fast ein Prozent der Bevölkerung leidet an einer behandlungsbedürftigen Zwangserkrankung. Frauen scheinen genauso häufig betroffen zu sein wie Männer.
Während zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die Prävalenz der Zwangsstörung in den USA noch auf weniger als 0,05 % der Bevölkerung geschätzt wurde, konnte erst durch zwei große Studien, zunächst „Epidemiologic Catchment Area“, dann „National Comorbidity Survey“ (und deren Nachfolgestudien) gezeigt werden, dass die Störung tatsächlich 50 bis 100 Mal häufiger vorkommt und mehr als 2 % der Bevölkerung betrifft.
Begleitend leiden viele Menschen an Ängsten und Depressionen. Andere Krankheiten werden als so genannte Zwangsspektrum-Krankheiten in die Nähe der Krankheit gebracht, wie u. a. Essstörungen, Tic-Störungen, das Tourette-Syndrom und die Spielsucht.
Reine Zwangsgedanken können auch in Zusammenhang mit postpartalen Depressionen und/oder postpartalen Psychosen auftreten. In der Regel fürchtet die Mutter, sie könne das Neugeborene gegen ihren Willen schädigen.
[Bearbeiten] Ursachen
Eine einzige auslösende Ursache kennt man nicht. Wahrscheinlich ist eine Kombination von Veranlagung, Hirnstoffwechselstörungen und seelischen Ursachen für das Entstehen einer Zwangsstörung verantwortlich. Nachweisbar sind z. B. Veränderungen im frontalen Cortex betroffener Patienten.
Zwangsstörungen werden dagegen in der analytisch orientierten Psychologie oftmals auch als eine partielle Rückentwicklung zum kindlichen Egozentrismus angesehen. Leider konnte die psychoanalytische Schule bei der Therapie der Zwangskrankheiten keine nennenswerten Erfolge erzielen.
Der Zwangsgestörte hat allerdings durchaus einen krankhafteren Zustand als ein gesundes, egozentrisches Kind. So kennen viele Kinder Rituale, die ihnen Glück bescheren und Pech abwehren sollen - gelingt das Ritual, ist das Kind zufriedengestellt bis euphorisch und zuversichtlich.
Erlangt man aber durch die Rituale keine seelische Sicherheit mehr und steigert man sogar immer weiter die Wiederholung des Rituals, damit der gefühlte Zustand lediglich nicht schlimmer wird, ist ein krankhafter Zustand erreicht. Die Zusammenhänge zwischen kindlichem Egozentrismus und Zwangsstörungen bleiben aber ungeklärt und sehr spekulativ.
Eine kognitive, von Salkovskis vorgeschlagene Theorie[1]zur Entstehung von Zwangsstörungen geht davon aus, dass Zwangsstörungen durch die negative Bewertung von sich aufdrängenden Gedanken, die auch bei gesunden Menschen von Zeit zu Zeit auftreten, und deren (anschließende) Vermeidung entstehen.
Die Vermeidung der auftretenden Gedanken kann kognitiv oder verhaltensmäßig geschehen: Entweder wird versucht, die Gedanken zu unterdrücken oder sie durch Handlungen zu „neutralisieren“ (bspw. bei Angst vor Kontaminationen durch Händewaschen). Beide Vermeidungsreaktionen führen jedoch nicht zu den erwünschten Effekten: Die Neutralisierungshandlung führt nur kurzfristig zu einer Erleichterung, da sich die Gedanken, die das Verhalten ausgelöst haben, weiterhin aufdrängen. Jedoch hat die Person gelernt, dass sie sich durch die Handlung, wenn auch nur kurzfristig, Erleichterung verschaffen kann. Das Verhalten wird somit negativ verstärkt. Gedankliches Unterdrücken, andererseits, hat einen paradoxen Effekt[2]: Durch das aktive Unterdrücken verstärken sich die Gedanken noch.
Andere Theorien sehen einen Zusammenhang zwischen Zwangsstörungen und Ängsten.
[Bearbeiten] Diagnose
Gemäß ICD-10, Code F42, gelten folgende diagnostischen Leitlinien:
- Die Zwangsgedanken oder zwanghaften Handlungsimpulse müssen vom Patienten als seine eigenen erkannt werden.
- Mindestens gegen einen Zwangsgedanken oder gegen eine Zwangshandlung muss der Patient noch Widerstand leisten.
- Der Zwangsgedanke oder die Zwangshandlung dürfen nicht an sich angenehm sein.
- Die Zwangssymptome müssen sich in zutiefst unangenehmer Weise wiederholen.
- Die Symptomatik muss über mindestens 14 Tage an den meisten Tagen bestehen.
[Bearbeiten] Differentialdiagnose
- Die Unterscheidung von der Depression kann schwierig sein, weil die beiden Störungen oft gemeinsam auftreten. Beide Störungen gehen mit (reversiblen) Veränderungen im Hirnstoffwechsel einher, insbesondere im System der Neurotransmitter. Dennoch sind die Symptome klar trennbar.
- Gelegentliche Panikattacken oder leichte phobische Symptome sind mit der Diagnose vereinbar.
- Zwangssymptome bei Schizophrenie, beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom und bei organischen psychischen Störungen werden nicht als Zwangsstörung diagnostiziert, sondern als Teil der entsprechenden Störungsbilder betrachtet.
[Bearbeiten] Behandlung
Mit der Verhaltenstherapie steht mittlerweile ein effektives psychotherapeutisches Behandlungsverfahren zur Verfügung. Andere Psychotherapieformen sind bei dieser Erkrankung nicht so wirksam und eine frühe effektive verhaltenstherapeutische Behandlung sollte nicht verzögert werden, weil eine Behandlung zu Beginn der Störung erfolgsversprechender ist. Bei der Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen wird das Verfahren der Reizexposition (cue exposure) mit Reaktionsverhinderung eingesetzt. Dieses Verfahren besteht aus zwei Komponenten: 1. Die Klienten müssen sich den Faktoren aussetzen, die normalerweise Zwangsgedanken bei ihnen auslösen. 2. Sie müssen dies unter Bedingungen tun, die sie daran hindern, auf diese Zwangsgedanken mit der Durchführung der entsprechenden Zwangshandlung zu reagieren. Auch Zwangsgedanken können mit Hilfe der Reizexposition wirksam behandelt werden. Dabei setzen sich die Patienten so lange den betreffenden Gedanken aus, bis die Angst, die durch die Gedanken entsteht deutlich abnimmt. Die kognitive Verhaltenstherapie stellt darüber hinaus die Zwangsgedanken infrage, und arbeitet mit der Technik des Gedankenstopps.
Zur Standardtherapie der Zwangstörung (besonders in der akuten Phase) gehört auch eine medikamentöse Behandlung über längere Zeit mit Wirkstoffen, die die Wirkung des Botenstoffs Serotonin im Gehirn verbessern (sogenannte „(Selektive) Serotonin-Wiederaufnahmehemmer“ = (S)SRIs) und teilweise auch andere Botenstoffe beeinflussen - u. a. Clomipramin, Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin. Die medikamentöse Therapie ist, ergänzend zur Verhaltenstherapie, sehr empfehlenswert und kann die Symptome deutlich reduzieren.
Bei optimaler Therapie ist eine Besserung der Beschwerden und des Verlaufs in den meisten Fällen zu erwarten. Eine vollständige Heilung ist nur selten zu erreichen, eine stabile Remission ist jedoch fast immer möglich. Das Absetzen der Medikamente führt in einer hohen Prozentzahl der Fälle zu einem Rückfall. Auch hier kann eine Verhaltenstherapie auffangen.
[Bearbeiten] Weblinks
- http://www.zwangserkrankungen.de ZWANGserkrankungen.de - Onlineforum für Betroffene und deren Angehörige
- Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.
- http://www.zwaenge.at - Portalseite rund um die Zwangskrankheit mit Therapeutenadressen hauptsächlich für Österreich.
- www.zwaenge.ch - Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen (SGZ)
[Bearbeiten] Literatur
- Willi Ecker: Die Krankheit des Zweifelns.
- Susanne Fricke, Yver Hand: Zwangsstörungen verstehen und bewältigen - Hilfe zur Selbsthilfe. 3. Aufl. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2006, ISBN 3884143654.
- Lee Baer: Der Kobold im Kopf. Die Zähmung der Zwangsgedanken. Verlag Hans Huber, Bern 2003, ISBN 3456839626
- Terry Spencer Hesser: "Tyrannen im Kopf"
- Otto Benkert: Zwangskrankheiten. 2. Aufl. C.H. Beck. München 2004, ISBN 340641866x
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Salkovskis, P.M., Ertle, A., & Kirk, J. (2000). Zwangsstörungen. In J. Margraf (Ed.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Berlin: Springer.
- ↑ Wegner, D.M., Schneier, D.J., Carter, S.R., & White, T.L. (1987). Paradoxical effects of thought suppression. Journal of Personality and Social Psychology, 53, 5-13.
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