Vertrag von Rapallo
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Der Vertrag von Rapallo ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der am 16. April 1922 in Rapallo zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (späteres Gründungsmitglied der Sowjetunion) geschlossen wurde. Der überraschende Vertragsschluss fand am Rande der Weltwirtschaftskonferenz in Genua statt. Unterzeichnet wurde der Vertrag von dem Außenminister des Deutschen Reiches Walther Rathenau und seinem russischen Amtskollegen Grigori Wassiljewitsch Tschitscherin. Der Vertrag normalisierte die Beziehungen der beiden Staaten, die mit ihm ihre internationale Isolation durchbrechen wollten und der die Verhandlungsposition des Deutschen Reiches gegenüber den Westmächten stärken sollte. Mit dem Deutschen Reich als (offiziellem) Verursacher des Ersten Weltkriegs und dem kommunistischen Russland hatten sich mit diesem Vertrag zwei Geächtete zusammengeschlossen.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Vertragsinhalt
Der Vertrag hatte zum Ziel, dass die beiden außenpolitisch auf Grund des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution isolierten Mächte wieder diplomatische und wirtschaftliche (nach dem Prinzip der Meistbegünstigung) Beziehungen eingingen, des Weiteren verzichteten beide Staaten auf Reparationen und das Deutsche Reich verzichtete auf Entschädigungen für im Zuge der Revolution verstaatlichten ehemals deutschen Besitz. Wegen des Boykotts deutscher Waren in westeuropäischen Ländern wurden auch wirtschaftliche Kontakte aufgebaut. Der Vertrag enthielt kein geheimes Zusatzprotokoll, allerdings hatte schon vorher eine geheime militärische Zusammenarbeit begonnen, die jetzt verstärkt wurde.
Die Sowjetunion erhielt moderne Technologie und die Reichswehr die Möglichkeit, ihre Soldaten an schweren Waffen, die das Deutsche Reich nicht besitzen durfte, auszubilden. Der Vertrag war eine wichtige Grundlage für den Aufbau einer deutschen Luftwaffe, was nach den Regelungen des Versailler Vertrages eigentlich nicht gestattet war. Ein geheimer Ausbildungsfliegerhorst wurde 1924 in der Nähe der russischen Stadt Lipezk eingerichtet und bis 1933 betrieben. Insgesamt benutzte diese Schule, die offiziell als 4. Fliegerabteilung des 40. Geschwaders der Roten Armee bezeichnet wurde, eine Anzahl niederländischer, russischer und auch deutscher Flugzeuge. Dort wurden jährlich etwa 240 deutsche Flieger ausgebildet und auch neue, in Deutschland entwickelte, Flugzeugkonstruktionen erprobt.
Unter anderem wurde im Umfeld des Vertrags die Lieferung von Industrieanlagen an Sowjetrussland vereinbart, durch die es die Ölfelder von Baku ohne Unterstützung westlicher Firmen hätte betreiben können. Des Weiteren hatte sich das Deutsche Reich verpflichtet, Lageranlagen und Tankstellen zur Vermarktung sowjetischer Ölprodukte einzurichten. Auf diese Weise plante das Deutsche Reich, die Abhängigkeit von britischen und amerikanischen Ölkartellen zu mindern, die damals den Markt beherrschten.
[Bearbeiten] Reaktionen
Im Deutschen Reich wurde der Vertrag von einer Mehrheit begrüßt, stieß aber auch auf Widerstand, beispielsweise bei Reichspräsident Friedrich Ebert und der weiteren sozialdemokratischen Führung, auch Rathenau hatte früher die sowjetischen Bitten um einen Vertrag abgelehnt und war bis zuletzt zögerlich.
Die Westmächte, vor allem Frankreich, standen dem Vertrag feindlich gegenüber, weil er die beteiligten Staaten stärkte und die Abhängigkeit des Deutschen Reiches von den Westmächten verringerte. Zwei Tage nach Abschluss des Vertrags protestieren sie auf diplomatischem Weg. Sie vermuteten, die beiden Staaten planten eine erneute Aufteilung Polens, das im Vertrag von Versailles als Staat wiedergegründet worden war. Diese Vermutung war nicht völlig unbegründet: die Reichswehr unter General Hans von Seeckt plante tatsächlich eine Revision der Ostgrenze.
Der Vertrag von Rapallo trug dazu bei, dass Frankreich eine geringfügige Unterschreitung der im Vertrag von Versailles vorgeschriebenen Reparationsleistungen als Vorwand zur Ruhrbesetzung nutzte.
Bis heute spricht man vom "Rapallo-Komplex", wenn man das Misstrauen meint, das in den Ländern der westlichen Hemisphäre entsteht, wenn Deutschland sich zu sehr auf Russland zubewegt. Dieser Komplex wurde zuletzt beschworen, als die Regierung Schröder die "Achse Paris-Berlin-Moskau" propagierte, aber auch im Zusammenhang mit Brandts Ostpolitik nach 1970 spielte diese Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse von 1922 eine große Rolle.
[Bearbeiten] Kuriosa
Zu den Kuriosa gehört die Tatsache, dass sich die deutsche Delegation nach Eintreffen der letzten sowjetrussischen Vorschläge in der Nacht vor der Vertragsunterzeichung zur einer legendär gewordenen "Pyjamakonferenz" traf, um sich vor Vertragsunterzeichnung noch einmal abzustimmen.
[Bearbeiten] Literatur
- Wipert von Blücher: Deutschlands Weg nach Rapallo. Erinnerungen eines Mannes aus dem zweiten Gliede, Limes Verlag, Wiesbaden 1951.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Die nächste Etappe in den deutsch-russischen Beziehungen war der Berliner Vertrag 1926.
- Mit dem Westen schloss das Deutsche Reich 1925 die Verträge von Locarno.
- Grenzvertrag von Rapallo von 1920