Magnetsinn
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Der Magnetsinn, also die Fähigkeit, das Magnetfeld der Erde wahrzunehmen und sich in ihm zu orientieren, wurde seit Mitte der 1960er Jahre an vielen Tieren und auch an Bakterien experimentell nachgewiesen. Damals hatte Wolfgang Wiltschko für seine Doktorarbeit im Keller des Zoologischen Instituts der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main einen speziellen Käfig konstruiert, der einerseits vom Erdmagnetfeld genügend stark abgeschirmt werden konnte, um den herum er aber ein schwaches, statisches Magnetfeld künstlich erzeugen konnte. Nach seinen Tests mit den „Modelltieren“ Rotkehlchen und später Tauben konnten er und zahlreiche andere Forscher auch bei Insekten, Krebstieren, Mollusken, Fischen, Amphibien, Reptilien und Säugetieren einen Magnetsinn experimentell nachweisen.
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[Bearbeiten] Wie erkennen Vögel das Magnetfeld?
Ein technischer Kompass weist die Richtung von magnetisch Nord nach magnetisch Süd mit Hilfe der Polung des irdischen Magnetfeldes aus, er unterscheidet also gewissermaßen zwischen Nordpol und Südpol. Der Magnetsinn der Vögel basiert hingegen auf dem Erkennen der Inklination des Erdmagnetfeldes: Vögel bestimmen den Neigungswinkel der Magnetfeldlinien relativ zur Erdoberfläche. Sie unterscheiden also zwischen "polwärts" und "äquatorwärts", denn am Pol weisen die Magnetfeldlinien senkrecht nach oben, während sie am Äquator genau parallel zur Erdoberfläche verlaufen.
Der Magnetsinn im Auge funktioniert wahrscheinlich mit Hilfe der so genannten Radikal-Paar-Bildung, die bereits 1976 von dem deutschen Biophysiker Klaus Schulten (heute Professor an der University of Illinois) beschrieben wurde. Diesem Modell zufolge besteht der Magnetrezeptor aus einem Molekülpaar, das durch Licht aktiviert werden kann und anschließend, infolge der Übertragung eines Elektrons, ein sehr kurzlebiges, so genanntes Radikal-Paar bildet. Dieses Paar alterniert ständig zwischen zwei quantenmechanisch möglichen Zuständen. Nach dessen Zerfall können sich Moleküle mit unterschiedlichen Eigenschaften bilden, je nachdem, in welchem Zustand sich dieses Radikal-Paar zuletzt befand. Dieser Endzustand ist dem Modell zufolge aber abhängig von der Inklination: Wenn die Magnetfeldlinien ausgeprägt senkrecht auf das Radikal-Paar treffen, entsteht ein anderes Verhältnis der beiden chemischen Endprodukte zu einander, als wenn die Magnetfeldlinien relativ flach auf das Radikal-Paar treffen. Im Ergebnis wird diesem Modell zufolge eine physikalische Gegebenheit (das örtliche Magnetfeld) in eine chemische Gegebenheit "übersetzt" und so ein wesentlicher Schritt zur Wahrnehmung mit Hilfe eines spezialisierten Sinnesorgans zurückgelegt.
Der "Sitz" des Magnetsinns bei Vögel ist bis heute nicht mit absoluter Sicherheit nachgewiesen. Als geeignete Moleküle werden von den Forschern insbesondere so genannte Cryptochromen genannt, die in hoher Konzentration u.a. in der Ganglienzellschicht und den Fotorezeptoren von Gartengrasmücken nachgewiesen wurden. Demnach wäre die Netzhaut der Sitz des Magnetsinns. Von Wolfgang Wiltschko stammt die Beobachtung, dass die Orientierung von Zugvögeln am Magnetfeld nur gelingt, wenn ihr rechtes Auge nicht abgeklebt ist, während einäugig links sehende Tiere dann hilflos zu sein scheinen. Eine andere Frankfurter Forschergruppe kam ferner zu dem Ergebnis, dass auch im Bereich des Schnabels magnetisch empfindliche Strukturen vorhanden sind.
[Bearbeiten] Alternative Hypothesen
Ebenfalls beobachtet wurden Magnetsinnessysteme, die vermutlich auf der Wirkung sogenannter Magnetite beruhen. Das sind kleine Eisenoxid-Ketten, die an Ionenkanälen gebunden sein könnten. Wenn sich die Intensität des Magnetfeldes verändert, ziehen die Magnetite am Ionenkanal und öffnen ihn. Der Transduktionsmechanismus funktioniert also ähnlich wie die Haarsinneszellen des Hörsystems. Vermutet wird diese Art von Magnetsinn v.a. bei Mullen, Forellen und im Schnabel mancher Vögel.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Roswitha Wiltschko und Wolfgang Wiltschko: Magnetic Orientation in Animals. 1998: Heidelberg (Springer Verlag), ISBN 3-540-59257-1
- Wolfgang Wiltschko: Magnetic Orientation. in: Josef Dudel, Randolf Menzel, Robert F. Schmidt: Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. 2001: Berlin (Springer), ISBN 3-540-41335-9
- Henrik Mouristen und Thorsten Ritz: Magnetoreception and its use in bird navigation, COiN, 2005
[Bearbeiten] Weblinks
- Infos für Schüler zum Erdmagnetfeld
- Originaltext zum Modell der Radikal-Paar-Bildung von Klaus Schulten
Die fünf Sinne: Geruchssinn | Gesichtssinn | Hörsinn | Tastsinn: Oberflächensensibilität - Tiefensensibilität | Geschmackssinn
Weitere: Gleichgewichtssinn | Zeitsinn | Magnetsinn