Strukturalismus
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Dieser Artikel beschreibt Strukturalismus als Bezeichnung für Forschungsrichtungen der Sozial- und der Geisteswissenschaften, besonders der Linguistik, der Erkenntnistheorie (Kant), der Literaturwissenschaft, der Psychoanalyse, der Psychologie, der Soziologie und der Anthropologie.
Der Begriff Strukturalismus bezeichnet ferner eine wichtige Strömung in Kunst und Architektur, insbesondere in den 1950er bis frühen 1970er Jahren (siehe Strukturalismus (Kunst)), sowie eine wissenschaftstheoretische Position (Wissenschaftstheoretischer Strukturalismus) innerhalb der analytischen Philosophie.
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[Bearbeiten] Grundprinzipien
Der Strukturalismus beruht auf der Grundannahme, dass Phänomene nicht isoliert auftreten, sondern in Verbindung mit anderen Phänomenen stehen. Diese Verbindungen gilt es aufzudecken; genauer gesagt bilden die Phänomene einen strukturierten (strukturierbaren) Zusammenhang. Dabei wird die Struktur durch den Beobachter in einem mentalen Modell konstruiert. Die Struktur existiert also scheinbar nicht auf der Ebene der Wirklichkeit, sondern nur auf der Ebene des Modells, eines Teils der Realität des Beobachters, der freilich ein Bestandteil der Wirklichkeit ist. So ist die Struktur letztlich der Wirklichkeit immanent - Quintessenz der 12-Erkenntniskategorien-Lehre Immanuel Kants, wonach jedes Ding sich in einer Vorstellung konstituiert, welche vom Verstand aus angeborenen Kategorien synthetisiert wird (vgl. auch Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung).
Ein (guter) Strukturalist geht wie folgt vor:
- Der Bereich des Beobachtbaren wird eingeteilt in strukturell beschreibbare und strukturell nicht beschreibbare Sachverhalte (vgl. Kants Unterscheidung in Phänomenon und Noumenon); nur erstere sind Gegenstand strukturalistischer Analysen, letztere das, was die Analyse, wenn sie bis zum Geht-nicht-mehr fortgesetzt wird, zu Tage bringt. (Siehe Ergebnis der „transzendentalen Logik“; Kant.)
- Die beschreibbaren Phänomene werden segmentiert.
- Zwischen den Segmenten wird ein Zusammenhang (re)konstruiert. Dabei ist unter Umständen eine den Segmenten zugrunde liegende weitere (abstraktere) Beschreibungsebene anzusetzen, auf der wieder eine Segmentierung ihrer Entität möglich ist.
Diese Fortsetzung ist jedoch logisch nicht bis ins Unendliche möglich: ab der „letzten Ursache“ droht der „regress ad infinitum“, sobald der Versuch, auch ihr eine Ursache zuzuschreiben, unternommen wird. Nach Kant transzendiert sich die Logik durch alle Phänomene hindurch bis hin zu schließlich nur 12 noumenalen (allein geistig fassbaren) Kategorien oder Entitäten der Erkenntnis; je 3 in 4 Hauptkategorien zusammengefasst.
[Bearbeiten] Allgemeine Bedeutung
Der Strukturalismus erhebt den provozierenden Anspruch, jegliche Sprach-, Zeichen-, physikalische und psychische Phänomene mit naturwissenschaftlicher Exaktheit zu beschreiben. Dieses Verfahren wurde in der Folge auch auf kulturelle Phänomene aller Art übertragen (Beispiel „Mythologie“, siehe unten) und zu differenzierten Analysetechniken weiterentwickelt. In allen Fällen wird versucht, die analysierten Phänomene mit einer Art „Gitternetz“ zu erfassen (synchronische und diachronische Anordnung ihrer Symbole), in dem jedes Element durch die Merkmale, Korrelationen und Oppositionen bestimmt ist, die sich aus dem Verhältnis der Elemente untereinander ableiten lassen. Nachdem der kulturbezogene Strukturalismus totgesagt war (etwa seit 1980), wirkten die strukturalistischen Methoden vor allem in der Semiotik und Literaturtheorie fort. Beziehungen bestehen auch zur Systemtheorie und zur Psychoanalyse (s. Seelenmodell).
[Bearbeiten] Beispiel: Strukturalistische Soziologie
Vor allem der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat mit ethnosoziologischen Materialien wichtige Beiträge zur Struktur von Familien, totemischen Clans und den (Ur)Mythen der Menschheit vorgelegt und dadurch deren Untersuchbarkeit ermöglicht (vergleiche auch: Schwiegermutter (Soziologie)).
Nach Lévi-Strauss gibt es in den Mythen aller Völker eine gemeinsame Struktur, die aus sechs Phasen besteht. In der fernsten Vergangenheit, so berichten alle Mythen übereinstimmend, wurde a) der Kosmos mit allen Lebewesen durch b) eine singuläre Potenz geschaffen (s. z.B. Anfang der biblischen „Genesis“ und auch das „Goldene Zeitalter“ aus dem Kulturraum der Griechen). Von dort aus in der Zeit vorwärts schreitend führen fünf weitere Phasen mit je charakteristischen Ereignissen zur Gegenwart.
[Bearbeiten] Entstehung
Der Strukturalismus geht auf den Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure zurück, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vorlesungen über Allgemeine Sprachwissenschaft hielt (Cours de linguistique générale), in denen er die Grundlage für eine neue Methode schuf. Seine Vorlesungen wurden erst postum 1916 veröffentlicht, gelten aber wegen ihres neuartigen Ansatzes, naturwissenschaftliche Prinzipien auf einen vermeintlich geisteswissenschaftlichen Bereich wie den der Sprachwissenschaft anzuwenden, als wahrlich revolutionär und bis heute maßgebend für alle möglichen sprachwissenschaftlichen und semiotischen (zeichenwissenschaftlichen) Teildisziplinen. Die strukturalistische Methode ist in Disziplinen wie der Linguistik, der Anthropologie oder der Psychoanalyse weithin anerkannt. Dagegen waren und sind Versuche umstritten, die Methode auf alle kulturwissenschaftlichen Disziplinen auszuweiten (beispielsweise auf die Literaturwissenschaft durch Tzvetan Todorov und Roland Barthes oder auf die Filmwissenschaft durch Christian Metz). Einer der prägendsten und wichtigsten Strukturalisten des 20. Jahrhunderts ist Roman Jakobson; ihm gelingt der „Spagat“ zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft.
Als weiteres Beispiel für die Zweckmäßigkeit der strukturalistischen Methode sei hier die Erarbeitung des Lautschriftsystems der IPA/API (International Phonetic Association/Association phonétique internationale) genannt. Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass sich sämtliche menschlichen Sprachäußerungen einem System unterordnen lassen, das aus einer feststellbaren Anzahl von Konsonanten (gegliedert nach Artikulationsart und -ort) und Vokalen (gegliedert nach Stellung der Sprechwerkzeuge und dem sich gleichzeitig ergebenden Atemausstoß) besteht. Hinzu kommen die sog. Halbvokale, die den Bereich einnehmen, in dem die Grenze zwischen Konsonant und Vokal fließend ist. Diesen Kategorien Konsonant, Halbvokal und Vokal wurden sämtliche denkbaren Sprachlaute zugeordnet (mit den dazugehörigen, unabdingbaren diakritischen Zeichen - denn kein Mensch spricht einen Laut zweimal auf dieselbe Weise aus), und den Lauten dann lateinische, griechische u.a. Buchstaben eindeutig zugeordnet („Lautschrift“). Es wurden also gesprochene Laute für „strukturell beschreibbar“ erklärt, sie systematisch beobachtet (siehe oben, Schritt 1), sie segmentiert (Schritt 2) und ein Zusammenhang zwischen ihnen konstruiert (Konsonant–Halbvokal–Vokal-Schema mit seiner inneren Gliederung, Schritt 3).
Als Antwort auf den Strukturalismus wurde unter anderem vom Philosophen Jacques Derrida der Dekonstruktivismus entwickelt.