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Marcel Reich-Ranicki

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Marcel Reich-Ranicki [maʁˈsɛl ˌʁaɪ̯çʁaˈnɪtski] (* 2. Juni 1920 in Włocławek, Polen) ist ein deutscher Publizist und gilt als der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Leben

Marcel Reich-Ranicki wurde unter dem Namen Marceli Reich als drittes Kind von David Reich und dessen Frau Helene Reich geboren. Seine älteren Geschwister waren Alexander Herbert (1911-1943) und Gerda, sie wuchsen in einer assimilierten, jüdischen, deutsch-polnischen Mittelstandsfamilie heran. Seine Mutter, die Deutsche war und durch die Ehe gleichsam nach Polen verbannt worden war, kam sich in der polnischen Provinz verloren vor, ihre große Sehnsucht war eine Rückkehr nach Berlin - in die Hauptstadt und das kulturelle Zentrum Deutschlands. Reich-Ranicki beschreibt sie als sehr liebevoll und zugleich „weltfremd“. Sein Vater besaß eine kleine Fabrik für Baumaterialien, war aber als musischer Mensch im Kaufmannsberuf unglücklich und so „vollkommen ungeeignet“ (MRR), dass er 1928 den Bankrott anmelden musste. Sohn Marceli durfte als einziger seiner Geschwister die deutsche Schule von Włocławek besuchen.

[Bearbeiten] Berlin

Um ihm seine berufliche Zukunft nach dem geschäftlichen Ruin seines Vaters offen halten zu können, schickten ihn die Eltern zu den wohlhabenden Verwandten nach Berlin, darunter ein Patentanwalt und ein Zahnarzt. Ab 1929 lebte Reich-Ranicki in Berlin und besuchte in Berlin-Wilmersdorf das Fichte-Gymnasium. Während seine Schulkameraden ihre Freizeit bei nationalsozialistischen Schultreffen und -versammlungen verbrachten, vertiefte er sich dagegen in die Lektüre der deutschen Klassiker. Er entdeckte die Welt des Theaters, der Konzerte und der Oper für sich. Besonders die Aufführungen Wilhelm Furtwänglers und Gustaf Gründgens' waren ihm Trost und Halt in einer zunehmend "restriktiver" werdenden Umwelt. Als ihm bekannt wurde, dass sich endlich auch Thomas Mann von der NS-Herrschaft öffentlich distanziert hatte, wurde dieser nun nicht nur in literarischer, sondern auch in moralischer Hinsicht sein Vorbild. Trotz vieler nationalsozialistisch orientierter Lehrer galt am Fichte-Gymnasium noch einige Zeit das Gebot der Gleichbehandlung der jüdischen Schüler, so konnte er 1937 noch sein Abitur machen. Doch schon seinen Antrag auf Einschreibung an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lehnte man am 23. April 1938 wegen seines jüdischen Glaubens ab. Ende 1938 wurde er nach Polen ausgewiesen. Am 29. Oktober und am 7. November 1938 erfolgte nach kurzer Abschiebehaft eine "ethnische Säuberung" (Polenaktion) von ca. 17 000 polnischen und staatenlosen jüdischen Frauen, Männern und Kindern, darunter auch Marcel Reich-Ranicki. Er fuhr mit der Bahn nach Warschau, wo er niemanden kannte, die polnische Sprache musste er wieder erlernen und blieb dort ein Jahr arbeitslos. Am 1. September 1939 begann der deutsche Überfall auf Polen und beendete abrupt seine Arbeitssuche. Seine spätere Frau Teofila (Tosia) Langnas (* 12. März 1920) lernte er durch eine Tragödie kennen. Ihre Eltern wurden wegen der deutschen Okkupation aus Lodz vertrieben und enteignet, aus Scham und Verzweiflung erhängte sich am 2. Januar 1940 in Warschau ihr Vater Paweł Langnas. Reich-Ranickis Mutter erfuhr von dem Unglück und schickte ihren Sohn dorthin, weil er sich um die Tochter „kümmern“ sollte.

[Bearbeiten] Warschauer Ghetto, Flucht und Versteck

Im November 1940 wurde auch Reich-Ranicki zur Umsiedlung in das Warschauer Ghetto gezwungen. Er arbeitete bei dem von den Nazis eingesetzten Ältestenrat ("Judenrat") als Übersetzer und schrieb unter dem Autoren-Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen in der zweimal wöchentlich erscheinenden Ghettozeitung „Gazeta Żydowska“. Gleichzeitig ist er Mitarbeiter des Ghetto-Untergrundarchivs des Emanuel Ringelblums. In dieser Zeit von Agonie und allgegenwärtigem Sterben machte er sich Überlebensmaßnahmen zu einer lebenslang beibehaltenen Gewohnheit. In Gaststätten pflegt er seitdem immer in Blickrichtung auf den Eingang zu sitzen, eine zweite Rasur am Nachmittag verringerte die Gefahr eines negativen Auffallens.

Durch einen eigenhändig getippten Schriftsatz des SS-Sturmbannführers Hermann Höfle erfuhr er 1942 von einer großen Deportation und beschloss eine Heirat, um durch diese amtliche Beglaubigung die Überlebenschancen seiner Lebensgefährtin zu erhöhen. Tatsächlich jedoch war die gesamte Deportation des Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka geplant. Zu Beginn der Deportation des Ghettos, am 22. Juli 1942, heirateten sie. Wegen seiner Übersetzertätigkeit wurde Reich-Ranicki vorerst verschont. Anfang 1943 nimmt er an einer Widerstandsaktion der Jüdischen Kampforganisation (polnisch Żydowska Organizacja Bojowa, kurz ŻOB) teil. (Quelle?)

Am 3. Februar 1943 gelang ihm zusammen mit seiner Frau Teofila durch einen unwahrscheinlichen Glücksfall die Flucht aus dem Warschauer Ghetto. Unmittelbar nach der Flucht wurden sie aufgegriffen und durch Zahlung einer Bestechung wieder freigelassen. Danach fanden die Flüchtlinge nach kurzen Zwischenverstecken für siebzehn Monate einen Unterschlupf bei der Familie des arbeitslosen Schriftsetzers Bolek Gawin, wo sie noch bis September 1944 nach der deutschen Niederschlagung des Warschauer Aufstands und der Besetzung des rechten Weichselufers durch die Rote Armee ausharren mussten. Nur durch seine dramatische Nacherzählung von bedeutenden Romanen der deutschen Literatur konnte er sich des unbeständigen, stets gefährdeten Mitleids seiner Helfer immer wieder aufs Neue versichern. Den beiden Kindern der Familie Gawin halfen sie bei den Schularbeiten und den Eltern bei deren illegaler Herstellung von Zigaretten. Nach dem Krieg bedankten sich die Reich-Ranickis auch mit einer finanziellen Vergütung bei den Gawins.

Reich-Ranickis Eltern, David Reich und Helene Reich, wurden in den Gaskammern von Treblinka ermordet. Sein Bruder Alexander Herbert Reich wurde am 4. November 1943 im Kriegsgefangenen- und Arbeitslager Poniatowa bei Lublin erschossen. Seiner Schwester Gerda war es mit ihrem Mann Gerhard Böhm bereits 1939 gelungen, nach London zu fliehen.

[Bearbeiten] Nachkriegszeit

1994 wurde bekannt, dass er kurz nach Kriegsende für den kommunistischen Geheimdienst in Schlesien arbeitete, und danach als Einsatzleiter, im Range eines Hauptmanns, für den polnischen Auslandsnachrichtendienst als Leiter der gegen Großbritannien gerichteten Spionage. In dieser Eigenschaft wurde er 1948, unter der Legende eines Vize-Konsuls namens "Marceli Ranicki", "Reich" klingt zu deutsch, als Resident an die Polnische Botschaft in London entsandt, wo er zuständig für die Rückführung polnischer Emigranten war. London war zu der Zeit Sitz der polnischen Exilregierung. Einige dieser Emigranten wurden später zum Tode verurteilt. Den Namen Ranicki behielt er später bei. Er galt bei seinen Kollegen als Intellektueller, auch als arrogant und stieß auf entsprechend viele Vorbehalte. Schließlich hatte Reich-Ranicki in London eigenmächtig einem Verwandten ein Visum ausgestellt, ohne seine Vorgesetzten um Erlaubnis zu fragen. Sein Sohn Andrzej Alexander wurde am 30. Dezember 1948 geboren und Ende 1949 bat er um seine Abberufung aus London und kehrte nach Warschau zurück. Seine Karriere endete abrupt: der Geheimdienst und das Außenministerium entließen ihn, wegen "ideologischer Entfremdung" schloss ihn die Kommunistische Partei aus. Einige Wochen verbrachte er im Gefängnis, in Einzelhaft. Anfang 1950 wurde er aus dem Geheimdienst entlassen. Danach folgte der Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Polens, seine späteren Anträge auf Wiedereintritt und Rehabilitation wurden abgelehnt.

[Bearbeiten] Wende zur Literatur

Aus dem Gefängnis entlassen, wendet er sich der Literatur zu, und wird Lektor für deutsche Literatur in einem großen Warschauer Verlag. Ende 1951 wagt er den entscheidenden Schritt: er wird freier Schriftsteller. Doch Anfang 1953 erteilen die polnischen Behörden ein Publikationsverbot, das bis Ende 1954 in Kraft bleibt.

Während einer Studienfahrt 1958 von Polen in die Bundesrepublik Deutschland bleibt Reich-Ranicki mit seiner Familie in Frankfurt am Main. Mitglieder der Gruppe 47, Siegfried Lenz und Wolfgang Koeppen halfen ihm dabei Fuß zu fassen. Von 1960 bis 1973 war er Literaturkritiker der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, er hatte dort schon sehr früh das Recht auf die Auswahl seiner Bücher, die er besprechen wollte, doch wurde er andererseits niemals zur Teilnahme an den Redaktionskonferenzen eingeladen.

Durch die Bekanntschaft mit dem Hamburger NDR-Redakteur Joachim Fest erhielt er 1973 die Leitung der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bis zur Beendigung des offiziellen Arbeitsverhältnisses 1988 hatte er die Freiheit, alle Autoren gleich welcher politischer Couleur, als Autoren im Feuilleton der FAZ herausgeben zu dürfen. Dabei entwickelte er insbesondere ein Engagement für seine favorisierten Autoren, die er mit nie nachlassender Aufmerksamkeit bedachte. Literarische Verdienste erwarb er sich durch die Redaktion der von ihm begründeten Frankfurter Anthologie, in der bis heute bereits über 1.500 Gedichte deutschsprachiger Autorinnen und Autoren mit Interpretationen versammelt sind. Daneben hat er beständig über Jahrzehnte hinweg das Projekt einer Auslese der seiner Meinung nach besten Werke der deutschsprachigen Belletristik vorangetrieben.

Gemeinsam mit anderen Literaturfreunden initiierte er 1977 den Ingeborg-Bachmann-Preis, der rasch zum bedeutendsten deutschsprachigen Literatur-Wettbewerb und -Preis wurde.

Vom 25. März 1988 bis zum 14. Dezember 2001 leitete er die Sendung Das literarische Quartett im ZDF, mit der er einen hohen Bekanntheitsgrad bei breiteren Bevölkerungsschichten erlangte. In Fachkreisen war er auch vor dieser Sendung längst als „Literaturpapst“ bekannt.

In der Wochenzeitschrift Der Spiegel, 16. Juni 2001, Nr. 25, stellte Reich-Ranicki unter dem Titel Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke sein Opus Magnum zu diesem Lebensthema vor. Die Liste enthält Theaterstücke, Romane, Novellen und Erzählungen, das lyrische Werk einzelner Dichter, aber auch die Empfehlung, Manches nur im Auszug zu lesen.

1968 und 1969 lehrte er an amerikanischen Universitäten, 1971 bis 1975 hatte er eine Gastprofessur in Stockholm und Uppsala inne. Seit 1974 ist er Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 1990 erhielt Reich-Ranicki die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und 1991 die Heinrich-Hertz-Gastprofessur der Universität Karlsruhe.

Auf Antrag der „Freunde der Universität Tel Aviv“ in Deutschland aus dem Jahre 2006 entsteht an der Universität Tel Aviv der Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur: „... in historischer Last ein markantes Zeichen für die wissenschaftlichen Beziehungen. Marcel Reich-Ranicki, der unter der Brutalität und Menschenverachtung der Nazis so unendlich viel erleiden musste, symbolisiert den geistigen Austausch von Wissenschaftlern“. [1]

Im Jahr 2006 entschied die Humboldt-Universität zu Berlin Reich-Ranicki die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Die Humboldt-Universität wolle sich damit als Rechtsnachfolgerin der Friedrich-Wilhelms-Universität, welche Reich-Ranicki das Studium aufgrund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit verwehrte, im Vorfeld ihres zweihundertjährigen Jubiläums zu ihrer historischen Verantwortung und Schuld bekennen, erklärte der Universitätspräsident. Die Verleihung fand am 16. Februar 2007 statt. [2]

Reich-Ranicki lebt heute mit seiner Frau in Frankfurt-Dornbusch. Sein Sohn Andrzej (heute: Andrew Alexander Ranicki, * 1948) ist Professor für Mathematik an der Universität Edinburgh. Der britische Maler Frank Auerbach ist Reich-Ranickis Vetter.

[Bearbeiten] Werke

[Bearbeiten] als Herausgeber

[Bearbeiten] Auszeichnungen und Ehrungen

[Bearbeiten] Fernsehreihen

[Bearbeiten] Filmographie

  • Ich, Reich-Ranicki. Dokumentation, 105 Min., Buch und Regie: Lutz Hachmeister und Gert Scobel, Erstsendung: ZDF, 13. Oktober 2006 (Inhaltsangabe des ZDF), (Besprechung in Spiegel Online, FAZ und Berliner Zeitung)
  • Herrrlich! Grrrässlich! Die große Marcel Reich-Ranicki-Nacht, Dokumentation 180 Min., zusammengestellt von Stephan Reichenberger und Alex Rühle, Produktion ZDF, Erstsendung: 2./3. Juni 2000
  • Der Literaturpapst. Auseinandersetzungen mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Dokumentation, 100 Min., Buch und Regie: Martin Lüdke und Pawel Schnabel, Erstsendung: ARD, 28. April 1987

[Bearbeiten] Quellen

  1. Pressemitteilung der „Freunde der Universität Tel Aviv“, 1. Februar 2006, online in: Kapitel „Abroad“
  2. Pressemitteilung der Humboldt-Universität, 21. Dezember 2006, online in: Ehrendoktor der Humboldt-Universität
  3. [1]

[Bearbeiten] Literatur

  • Teofila Reich-Ranicki und Hanna Krall: Es war der letzte Augenblick. Leben im Warschauer Ghetto. Aquarelle und Texte, Stuttgart, München, DVA 2000, 120 S., farbig, Gebunden, ISBN 3-421-05415-0
  • Frank Schirrmacher: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bildern. Eine Bildbiographie, München, DVA 2001, 288 S., 286 s/w Abb., Leinen, ISBN 3-421-05320-0
  • Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. München, dtv 2004, 192 S., zahlr. meist farbige Abb., ISBN 3-423-31072-3
  • Sabine Gebhardt-Herzberg: Das Lied ist geschrieben mit Blut und nicht mit Blei: Mordechaj Anielewicz und der Aufstand im Warschauer Ghetto; ISBN 3-00-013643-6; 250 S., Selbstverlag; enthält ein Kapitel über Reich-Ranickis Flucht aus dem Warschauer Ghetto und die Rolle des Judenrates, für den er tätig war
  • Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens, München, Blessing 2005, 288 S., 70 Abb., ISBN 3-89667-274-6

[Bearbeiten] Weblinks

n:
WikiNews
Wikinews: Marcel Reich-Ranicki – Nachrichten
Artikel
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