Wiener Couplet
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
Das Wiener Couplet ist eine Gesangseinlage in den Possen oder Komödien des Alt-Wiener Volkstheaters. Das Couplet unterbricht die Bühnenhandlung, richtet sich direkt ans Publikum und hat Reflexionen über verschiedene Themen zum Inhalt. Seinen literarischen Höhepunkt erreichte es im Vormärz in den Stücken von Johann Nestroy und Ferdinand Raimund. Die zweite wichtige musikalische Form des Alt-Wiener Volkstheaters ist das Quodlibet.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Form und Geschichte
Das Couplet ist ein mehrstrophiges Lied mit Refrain und gleich gebauten Strophen, die alle nach derselben Melodie gesungen werden. Es hat gereimte Verspaare (frz. couplet „Zeilenpaar“) und ist meist im Wiener Dialekt verfasst. Historisch geht es auf die Zwischenspiele der Jesuitendramen zurück. In der musikalischen Entwicklung trat es an die Stelle der Arie und geht wie diese von der Situation eines der Protagonisten aus. Verwandtschaft besteht zur Parabase in der alten griechischen Komödie, in der das Publikum direkt angesprochen wird. In den Stücken von Ferdinand Raimund oder Johann Nestroy innerhalb der Wiener Volkskomödie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Biedermeier) nimmt das Couplet einen zentralen Platz ein.
[Bearbeiten] Dramaturgie
Im Couplet unterbricht der Darsteller die fortlaufende Handlung – zumeist auf ein Stichwort des vorhergehenden Dialogs oder eines Monologs hin –, tritt aus der Szene heraus und stellt eine direkte Interaktion zwischen sich und dem Publikum her. Er nimmt seine persönliche Problematik zum Anlass für eine kritischen Betrachtung denkwürdiger Fälle menschlichen Lebens oder für allgemeine Kommentare zu gesellschaftlichen und politischen Missständen oder menschlichen Charakterschwächen.
„Wir werden seiner Botschaft den Glauben nicht deshalb versagen, weil sie ein Couplet war“, schrieb Karl Kraus in seiner Rede zum fünfzigsten Todestag Johann Nestroys im Jahr 1912, mit der er dessen Wiederentdeckung einleitete.
[Bearbeiten] Handelnde Figuren
In den Stücken Ferdinand Raimunds ist das Couplet (dort: Arie oder Ariette) der komischen Figur vorbehalten, die in der Tradition des Hanswurst, Kasperl, Staberl, der Wienerischen Ausformung der Commedia dell'arte, steht. Seine Partnerin erhält in der Regel ein Duett. Mit der Umformung der komischen Figur in Charaktertypen (Wurzel in „Der Bauer als Millionär“, Rappelkopf in „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“) kommt dem Auftrittslied für die Exposition der Hauptfigur besondere Bedeutung zu. Parallel werden auch den Figuren der Phantasie- und Geisterwelt Lieder zugewiesen.
Johann Nestroy profilierte das satirische Couplet in seinen Possen mit Gesang. Die zunehmende Zahl von Versen führte bei ihm schließlich zu zwei- und dreiteiligen Strophenformen mit Binnen- und Schlussrefrain, deren Metrum sich durch bewusste Akzentuierungen bestimmter Silben einer fließenden Melodielinie entzog. Mit großem Raffinement führte Nestroy in seinen Stücken eine Situation dorthin, wo das Couplet an einem Punkt der Verzweiflung, des Zorns, der Ratlosigkeit oder gar Resignation elementar ausbricht, und wo der Darsteller „es nicht mehr sagen kann, sondern es singen muß“ (Jean Giraudoux).
Auch die Couplets bei Nestroy sind in der Regel den männlichen Figuren vorbehalten, mit wenigen Ausnahmen, in denen auch weiblichen Figuren Couplets zugedacht sind, die meist Betrachtungen über das männliche Geschlecht anstellen: die Gänsehirtin Salome Pockerl in „Der Talisman“ (mit dem Refrain „Ja, die Männer ham's gut!“), Salerl in „Zu ebener Erde und erster Stock“, Agnes in „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“ oder Madame Zichori in „Das Gwürzkrämerkleeblatt“ („S' ist ein starkes Geschlecht, aber schwach, aber schwach!“).
[Bearbeiten] Auftrittscouplet
Die Stücke von Raimund und Nestroy enthalten immer mehrere Couplets, beginnend mit dem „Auftrittscouplet“ der Hauptfigur, in dem diese ihren Charakter und ihr Schicksal vorstellt und das immer unmittelbar von einem anschließenden Monolog ergänzt wird. Aufgabe des Auftrittscouplets war es, dem Schauspieler einen wirkungsvollen Auftritt zu verschaffen und dem Publikum Gelegenheit zu bieten, mit der Person der Bühnenfigur vertraut zu werden. Bei Raimunds Figuren des Barometermachers („Der Barometermacher auf der Zauberinsel“) und des Harfenisten („Die gefesselte Phantasie“) berührt das Auftrittscouplet das Genre des Standesliedes.
[Bearbeiten] Refrain
Der Refrain hält die satirischen Themen der einzelnen Strophen zusammen und benutzt oft eine symptomatische Redensart, die das gemeinsame Motto für die Strophen bildet. Bekannte Refrains in Stücken Johann Nestroys sind:
- „Ja, die Zeit ändert viel!“ (Titus Feuerfuchs in „Der Talisman“)
- „Und 's ist alles nicht wahr! Und 's ist alles nicht wahr!“ (Lorenz in „Die verhängnisvolle Faschingsnacht“)
- „So gibt es halt allerhand Leut auf der Welt!“ (Herr von Lips in „Der Zerrissene“)
- „Es ist jetzt schön überhaupt, wenn man an etwas noch glaubt“ (Wendelin in „Höllenangst“)
- „Und es schickt sich doch offenbar nicht!“ (Weinberl in „Einen Jux will er sich machen“)
- „Da finden die Leut' dran ein Vergnügen? Ich, offen g'sagt, nicht, ich müsst's lügen.“ (Diener Johann in „Zu ebener Erde und erster Stock“)
- „Ja, da hab I' scho gnua!“ („Ja, da hab ich schon genug!“) (Titus Feuerfuchs in „Der Talisman“)
- „Die Welt steht auf kein Fall mehr lang!“ (das berühmte Kometenlied in „Lumpazivagabundus“)
Auch in Ferdinand Raimunds Zauberspielen finden sich markante Refrains, hier oft mit einem melancholischen Grundton: das „Aschenlied“ in „Der Bauer als Millionär“ mit dem Refrain „Ein Aschen“, mit dem der Aschen-Sammler auf die Vergänglichkeit alles Irdischen anspielt und das „Hobellied“ aus „Der Verschwender“ mit den berühmt gewordenen Zeilen „Da streiten sich die Leut' herum - oft um den Wert des Glücks. Der eine heißt den andern dumm, am End' weiß keiner nix.“ und dem Refrain: „Da leg ich meinen Hobel hin und sag der Welt ade!“.
[Bearbeiten] Zusatzstrophen

In der Aufführungspraxis werden einem Couplet oft aktuelle „Zusatzstrophen“ hinzugefügt, die unmittelbar Bezug auf das politische und gesellschaftliche Tagesgeschehen nehmen, ohne jedoch Bezug zum Stück selbst oder zur Zeit zu haben, in der es spielt. Solche Strophen werden manchmal erst kurz vor der Vorstellung vom Schauspieler selbst oder vom Kapellmeister geschrieben. Bekannte Wiener Nestroy-Darsteller wie Karl Paryla, Walter Kohut und Josef Meinrad und später Heinz Petters und Robert Mayer haben dies zum fixen Bestandteil ihrer Auftritte gemacht. Nestroy setzte sich mit seinen neu gedichteten Zusatzstrophen, die er so dem Zugriff des Metternich'schen Polizeiapparates im Vormärz entzog, oft einem Duell mit der Zensur aus.
Wichtig für die Schlagkraft einer Zusatzstrophe ist die jeweilige Refrain-Zeile des Originals, die, da sie dem Publikum schon aus den Strophen zuvor bekannt ist, oft nur mehr intoniert oder zuletzt gar nicht mehr gesungen wird.
Das Couplet, bei dem Zusatzstrophen eingebaut werden, steht meist gegen Ende des Stückes, in der Regel im dritten Akt. Zusatzstrophen im „Auftrittscouplet“, also dem ersten Couplet des Abends, sind nicht üblich, da diesem Couplet immer ein Monolog folgt, der in direkter Beziehung zum Auftrittscouplet steht.
Karl Kraus hat Nestroy immer wieder vorgetragen, bearbeitet und auch Zusatzstrophen zu den Couplets geschrieben (z.B. für „Der Zerrissene“, „Eisenbahnheiraten“, „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“). Auch Otto Basil und Hans Weigel haben später Zusatzstrophen geschrieben. 1998 schrieb der Kabarettist Josef Hader Zusatzstrophen für Nestroys „Das Mädl aus der Vorstadt“.
Nestroy selbst hat Zusatzstrophen zu Ferdinand Raimunds „Aschenlied“ in „Der Bauer als Millionär“ geschrieben (Sämtliche Werke, hrsg. von Fritz Brukner und Otto Rommel. Band 15, S. 706-708, Schroll, Wien 1924-30)
[Bearbeiten] Musik
Das Wiener Couplet hat in der Regel ein schnelles Tempo. Im Dreiertakt erinnert es oft an den Ländler oder Wiener Walzer. Auf ein Ritornell des Orchesters, oft zur Melodie des Refrains, folgt ein erster Strophenteil in der Haupttonart. Die ersten Violinen umspielen die Melodie heterophon meist in sehr hoher Lage. Nach einem Forte-Einwurf des Orchesters folgt der zweite Teil der Strophe in einer anderen Tonart mit kontrastierender Musik. Am Ende der Strophe führt eine Steigerung zu einer Fermate. Darauf folgt ein schneller und pointierter Refrain und darauf ein kurzes Orchesternachspiel. Durch die häufigen Wiederholungen wirkt es wie ein Perpetuum mobile. Die Einfachheit der Musik ist ein Kunstmittel, Couplets wurden nicht gesungen, um einen musikalischen Genuss zu erzielen, sondern waren zweckgerichtet, fast leierkastenartig, um mit aus dem Wienerischen kommenden konventionellen Mitteln etwas Unkonventionelles, das aus dem Text hinzukam, zu begleiten und zu unterstreichen.
Ursprünglich wurde die Bühnenmusik zu den Stücken Raimunds und Nestroys für ein kleines Sinfonieorchester (etwa 26 Mann) komponiert. Mittlerweile werden die Stücke in der Theaterpraxis nur mehr von kleinen Ensembles (Flöte, Klarinette, Klavier, 2 Violinen, Bass, Schlagzeug), Streichtrio, zwei Klavieren oder in neuen Arrangements begleitet.
Wichtigster Komponist der Couplets bei Johann Nestroy war Adolf Müller, aber auch Franz Roser, Carl Franz Stenzel, Karl Binder, Anton Maria Storch und Michael Hebenstreit. Deren Musik bot eine Fülle anmutiger Einfälle, die trotz ihrer Melodik die Möglichkeit scharfer Charakterisierung bot, hier schon die Songs von Brecht/Weill vorwegnehmend. Sie verfremden dem Zuschauer die Handlung und „befreunden“ ihn mit dem Schauspieler/Autor (s.u.). Von Hanns Eisler gibt es zwischen 1948 und 1953 Neuvertonungen von mehreren Nestroy-Stücken („Höllenangst“, „Eulenspiegel“, „Theaterg'schichten“).
Ferdinand Raimund hat für einige seiner Lieder selbst die Musik komponiert, etwa das berühmte Duett „Brüderlein fein“ und das „Aschenlied“ in „Der Bauer als Millionär“. Andere Komponisten für die Stücke Raimunds waren Wenzel Müller, Konradin Kreutzer und Joseph Drechsler.
[Bearbeiten] Interpretation
Im Couplet löst sich der/die Vortragende vom eigentlichen Handlungsverlauf, er unterbricht den Handlungsstrom des Stückes gänzlich, ein Gespräch mit dem Publikum beginnt, das direkt angesprochen, in das Spiel mit einbezogen und sogar um seine Meinung gefragt wird. Diese „schlagenden, das Publikum elektrisierenden Lieder“ ähneln der Monolog-Situation früher Shakespeare-Dramen, in denen der Zuschauer gewissermaßen zum „Verschworenen“ der Hauptfigur gemacht wird (ewa in „Richard III.“).
Der Stropheninhalt bietet eine breite Palette von Gestaltungsmöglichkeiten, die häufig durch eine drastische Imitation verschiedener Sprechebenen und Gesangsstile und durch einen Wechsel zwischen gesungenen Passagen (im Refrain) und Sprechgesang (in der Strophe) gekennzeichnet ist (Parlando). Mit beißendem Humor persifliert ein Couplet scheinbare Gemütlichkeit oder hintergründige Gemeinheit, Haupteigenschaften des negativen Wiener Charakters.
Oft macht der Schauspieler bei einer der letzten Strophen des Couplets einen falschen Abgang, der fälschlich das Ende des Lieds anzeigt, um dann „vom Applaus des Publikums zurückgerufen“ mit einer neuen Strophe wieder zu erscheinen, die dann meist den Übergang zu den aktuellen Zusatzstrophen markiert.
[Bearbeiten] Nachfolge
Im Zuge des „Niedergangs“ der Wiener Volkskomödie war das Couplet als Rollenlied bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umstritten (Adalbert Stifter, 1867). Auch die spätere Wiener Operette enthielt noch Couplets, bei denen sich das Schwergewicht jedoch vom Text auf die Musik verlagerte. Ein Beispiel ist das Couplet „'s ist mal bei mir so Sitte“ des Prinzen Orlofsky aus Die Fledermaus (1874) von Johann Strauß. Gegenüber dem klassischen Wiener Couplet, das im Regelfall den männlichen Figuren vorbehalten ist, wird das Operetten-Couplet auch von Frauen vorgetragen. In bewusster Abhebung von der französischen Operette wählten die Komponisten der Wiener Operette nach Johann Strauß wie Leo Fall und Emmerich Kálmán im frühen 20. Jahrhundert alternative Bezeichnungen.
Im 20. Jahrhundert wurde das Couplet von Felix Salten verwendet („Der Gemeine“, 1901), von Karl Kraus („Die letzten Tage der Menschheit“, 1915; „Couplet Macabre“, 1919; „Höllisches Couplet“ in „Die Unüberwindlichen“, 1928) und Hanns Eisler („Couplet vom Zeitfreiwilligen“, 1928). Schon bei Eisler klingt das Couplet anders, als man es von den Komponisten des Alt-Wiener Volkstheaters gewohnt ist, in der Musik zu „Die letzte Nacht“ von Karl Kraus etwa im Marschrhythmus und in MolI. In abgewandelter Form wurde das Couplet dann vor allem von Bertolt Brecht als „Song“ im „epischen Theater“ eingesetzt. Bei Brecht treten die Darsteller im „Verfremdungseffekt“ aus der Handlung und stellen vor einem Vorhang und mit „Songbeleuchtung“ Reflexionen an (z.B. im „Lied über die Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ in der „Dreigroschenoper“, 1929).
Von Theodor W. Adorno gibt es aus 1936/1937 eine kritische Auffassung des Couplets: „Der intendierte, vom Publikum wohl auch geleistete unbewußte Vorgang ist demnach zunächst der der Identifizierung. Das Individuum im Publikum erlebt sich primär als Couplet-Ich, fühlt dann im Refrain sich aufgehoben, identifiziert sich mit dem Refrainkollektiv, geht tanzend in dieses ein und findet damit die sexuelle Erfüllung.“
Das Couplet war auch wichtiger Bestandteil des Kabaretts, wo es in der Zwischenkriegszeit neben dem Chanson eine selbständige Gesangsnummer war. Als Autoren haben sich Karl Farkas, Fritz Grünbaum, Armin Berg und nach dem Krieg Georg Kreisler, Gerhard Bronner und Helmut Qualtinger profiliert, etwa in „Der G'schupfte Ferdl“ und „Der Wilde mit seiner Maschin'“. Das Couplet „Der Papa wird's schon richten“ aus dem Programm „Spiegl vorm Gsicht“ erzwang sogar den Rücktritt eines Ministers.
[Bearbeiten] Literatur
- Otto Rommel: Das Couplet-Werk Johann Nestroys (in: in Johann Nestroy: Gesammelte Werke, Band 6) 1949
- Richard Smekal (Hg.): Altwiener Theaterlieder. Vom Hanswurst bis Nestroy., Wiener literarische Anstalt, Wien/Berlin 1920
- F. Nötzold (Hg.): Mein Weib ist pfutsch. Wiener Couples, 1969
- Johann Nestroy: Die Welt steht auf kein´ Fall mehr lang. Couplets und Monologe (Herausgegeben von Hermann Hakel), Forum Verlag
- Ferdinand Raimund: Die Gesänge der Märchendramen in den ursprünglichen Vertonungen. Anton Schroll & Co, Wien 1924