Negatives Stimmgewicht bei Wahlen
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Negatives Stimmgewicht (auch inverser Erfolgswert) bezeichnet einen Effekt bei Wahlen, bei dem sich Stimmen gegen den Wählerwillen auswirken, wenn also
- Stimmen für eine Partei dieser einen Verlust an Sitzen bescheren oder
- Stimmen, die für eine Partei nicht abgegeben werden, dieser einen Gewinn an Sitzen einbringen.
Der Effekt, dass eine Stimme für eine Partei dieser Verluste beschert, widerspricht dem Anspruch, dass jede Stimme gleich viel zählen sollte. Er widerspricht auch dem Anspruch, dass sich die Stimme nicht explizit gegen den Wählerwillen auswirken darf.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Auftreten bei Wahlen zum Deutschen Bundestag
Bei Bundestagswahlen tritt das negative Stimmgewicht durch das Zusammenwirken der Überhangmandate und der Verteilung der von einer Partei gewonnenen Sitze auf die einzelnen Landeslisten nach der Stimmzahl in den jeweiligen Ländern auf. Hat beispielsweise die Partei P im Bundesland A mehr Direktmandate durch die Erststimmen gewonnen als ihr nach den Zweitstimmen in diesem Land zustehen, so behält sie dennoch alle Direktmandate, da diese nicht verloren gehen können. Erhält sie nun in diesem Bundesland A etwas weniger an Zweitstimmen, kann es passieren, dass sich dieser Stimmverlust zwar nicht auf die Verteilung der regulären Mandate auf die Bundesparteien auswirkt, er jedoch ausreicht, um Auswirkungen auf die Verteilung der von der Partei P gewonnenen Sitze auf ihre Landeslisten zu haben. In diesem Fall verliert die Partei ein reguläres Mandat von der Landesliste A, das auf eine Landesliste in einem weiteren Bundesland B übergeht. Der Verlust eines regulären Mandates von der Landesliste A ist für die Anzahl der Abgeordneten der Partei P aus dem Land A aber folgenlos, weil die Überhangmandate dieses Bundeslands nicht verlorengehen. Somit gewinnt die Partei P ein zusätzliches Überhangmandat, falls sie in dem jeweiligen Bundesland weniger Zweitstimmen erhält.
Ebenso funktioniert das Phänomen auch in die andere Richtung: Erhält die Partei P im Bundesland A mehr Zweitstimmen, gewinnt ihre Landesliste einen regulären Sitz auf Kosten einer Landesliste B derselben Partei. Der zusätzliche Sitz vom Land A bleibt aber folgenlos, da er mit den Überhangmandaten im Land A verrechnet wird. Die Partei verliert also ein Überhangmandat, falls sie in dem jeweiligen Bundesland mehr Zweitstimmen erhält.
Bisher hat es weder im Deutschen Bundestag noch von seiten des Bundesverfassungsgerichts größere Anstrengungen gegeben, diesen Systemfehler zu vermeiden.
[Bearbeiten] Sonstiges Auftreten
Bei Volksentscheiden ist es denkbar, dass ein negatives Stimmgewicht auftritt, wenn sie ein Beteiligungsquorum haben. Stimmen gegen den Antragsgegenstand können dann dazu führen, dass das Quorum überschritten wird und dass gerade dadurch der Antrag der Volksinitiative obsiegt. Aus diesem Grund sind Beteiligungsquoren prinzipiell unsachgemäß; ihr Anliegen wird durch Zustimmungsquoren korrekter umgesetzt.
Ein negatives Stimmgewicht tritt manchmal auch bei anderen Wahlverfahren auf. Die meisten anderen Typen negativer Stimmgewichte sind allerdings seltener und haben weniger Einfluss auf die Mandatsvergabe als der für das Bundestagswahlrecht wesentliche Typ.
Dabei können negative Stimmgewichte sowohl unabhängig vom Sitzzuteilungsverfahren als auch unmittelbar in Zusammenhang mit dem Verfahren nach Hare und Niemeyer entstehen. Stark anfällig für negative Stimmgewichte sind beispielsweise Systeme mit Ausgleichsmandaten, die bei einigen Landtagswahlen vergeben werden. Ihre Ursache liegt meist im Hare-Niemeyer-spezifischen Alabama-Paradoxon.
Ebenfalls spezifisch für das Hare-Niemeyer-Verfahren (oder für die Abweichung von der Sítzzuteilung nach d'Hondt) ist die Möglichkeit des Sperrklausel-Paradoxons. Hierbei kann eine Partei weniger Sitze erhalten, wenn sie mit einer größeren Zahl von Stimmen eine andere Partei unter die Sperrklausel drückt. Dieses Paradoxon kann bei Bundestagswahlen zwar auch auftreten, es wäre allerdings relativ einfach mit einer Änderung des Berechnungsverfahren hin zum Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers zu verhindern und ist daher kein systematischer Fehler des Bundestagswahlsystems.
Es taucht auch bei Stichwahlen und Instant-Runoff-Voting auf.
[Bearbeiten] Allgemeines Beispiel
[Bearbeiten] Beschreibung
Eine Partei P1 erhält bei einer Bundestagswahl 250.000 Stimmen, davon in Bundesland A 106.000 und in Bundesland B 144.000 Stimmen. Eine andere Partei P2 erhalte ebenfalls 250.000 Stimmen.
Es ergibt sich für P1 eine Gesamtsitzzahl im Bundestag von 25 Sitzen (Sitze = 598, gültige Stimmen = 5.980.000). Davon entfallen auf Bundesland A 11 Sitze und auf Land B 14 Sitze. In Land A erreicht die Partei durch die Erststimme 11 Direktmandate, in Land B 6. Die übrigen 8 Sitze in Land B werden mit Kandidaten aus der Landesliste aufgefüllt.
Wenn P1 in Land A 5.000 Zweitstimmen weniger erhalten hätte, bliebe sie mit 245.000 Stimmen bei 25 Sitzen im Bundestag, selbst wenn die andere Partei auch jetzt 250.000 erhielte.
In Land A hätte sie nur noch 101.000 Stimmen, in Land B nach wie vor 144.000. In Land A stünden ihr nun nach den Zweitstimmen nur noch 10 Sitze zu. Weil der Partei insgesamt aber immer noch 25 "normale" Sitze (keine Überhangmandate) zuständen, bekäme sie in Land B jetzt 15 statt 14 Sitze. Dieser zusätzliche Sitz würde von einem Kandidaten aus der Landesliste besetzt. In Land A entstünde ein Überhangsmandat, weil unabhängig von der Zweitstimmenverteilung 11 Kandidaten ein Direktmandat bekamen.
P1 wäre also, weil sie 5.000 Stimmen weniger bekäme, mit 26 statt mit 25 Sitzen im Bundestag vertreten. Es besteht eine Disproportion von 5,77% des Verhältnisses der Stimmenzahl zur Anzahl der Mandate.
(Dieses Beispiel vernachlässigt zur Vereinfachung die Vorschrift des Bundeswahlgesetzes, dass eine Partei, die die absolute Mehrheit der Zweitstimmen erhält, automatisch auch die Mehrheit der Mandate bekommt.)
[Bearbeiten] Tabellendarstellung
Verteilung der Mandate |
"Reale" Stimmenverhältnisse | 5.000 Stimmen in A weniger | ||||
Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze Ergebnis | Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze Ergebnis | |
---|---|---|---|---|---|---|
Land A | 106.000 | 10,60 | 11 | 101.000 | 10,31 | 10 |
Land B | 144.000 | 14,40 | 14 | 144.000 | 14,69 | 15 |
Im zweiten Fall geht also ein Mandat von Land A in Land B über.
Mandatsverteilung in beiden Fällen |
"Reale" Stimmenverhältnisse | 5.000 Stimmen in A weniger | ||||
Landeslistensitze | Direktmandate | Sitze Ergebnis | Landeslistensitze | Direktmandate | Sitze Ergebnis | |
---|---|---|---|---|---|---|
Land A | 11 | 11 | 11 | 10 | 11 | 11 (1 ÜM) |
Land B | 14 | 6 | 14 | 15 | 6 | 15 |
Partei gesamt | 25 | 17 | 25 | 25 | 17 | 26 (1 ÜM) |
P1 erhält wegen der Verschiebung des einen Mandats von Land A in Land B ein Überhangmandat in Land A und damit eine 26:25-Mehrheit im Parlament.
[Bearbeiten] Änderungsmöglichkeiten
Da das beschriebene negative Stimmgewicht unabhängig vom Berechnungsverfahren auftritt, lässt es sich durch einen Wechsel des Verfahrens von Hare-Niemeyer-Verfahren etwa zum Verfahren nach Sainte Laguë-Schepers nicht grundsätzlich verbessern. Auch Ausgleichsmandate lösen die Probleme nicht, weil die betroffene Partei regelmäßig keine Ausgleichsmandate erhält.
Das negative Stimmgewicht lässt sich nur vermeiden, wenn das Entstehen interner Überhangmandate verhindert wird. Durch zwei verschiedene Strategien könnte man das erreichen:
- Überhangmandate könnten durch Verrechnung von Direkt- und Listenmandaten schon auf Bundesebene verhindert werden, wodurch andere Bundesländer weniger Listenmandate stellen. Scheidet ein Wahlkreisgewinner aus einem Überhangland aus, würde ein Listenmandat in dem anderen Land wieder aufleben. Derartige Modelle existieren schon länger. Im Gegensatz zum derzeit gültigen Wahlrecht können sich bei ihnen die Mehrheiten innerhalb einer Legislaturperiode nicht verändern oder sogar in ihr Gegenteil verkehren.
- Alternativ könnten Überhangmandate gänzlich abgeschafft werden. Dafür müsste die Erststimme abgeschafft werden oder das Wahlsystem sogar noch tiefgreifender geändert werden. Mit der Abschaffung der Erststimme würde ein reines Verhältniswahlrecht eingeführt, bei dem nur noch Listenkandidaten wesentlich sind. Als Nebeneffekt würde allerdings nicht mehr sichergestellt, dass aus jeder Region mindestens ein Abgeordneter in den Bundestag einzieht.
[Bearbeiten] Rechtspolitische Diskussion
Das Phänomen des negativen Stimmgewichts wird in der öffentlichen Diskussion eher stiefmütterlich behandelt. Vor der Bundestagswahl 2002 haben die Nachrichtenmagazine Der Spiegel und FOCUS[1] über die Thematik des negativen Stimmgewichts berichtet. Davon abgesehen ist dieses Thema in den Medien nicht präsent. Allenfalls in engen Expertenkreisen wird das Problem beachtet.
Bei Erfolgswertverzerrungen mangelt es oft an einer scharfen kausalen Zuordnung von Überhangmandaten und negativen Stimmgewichten, da sie häufig kumulativ zusammenwirken. 1996 beschäftigte sich eine Reformkomission des Bundestags mit Wahlproblemen – u. a. mit Überhangmandaten – und holte die Meinung von Experten wie die der Professoren Mahrenholz, Löwer und Heintzen ein. Das Bundesinnenministerium entwickelte in diesem Zusammenhang u. a. das so genannte Kompensationsmodell I, das eine Verrechnung ähnlich der oben angeführte Änderungsmöglichkeit 1 vorsieht.
Viele der damit befassten Mathematiker und Rechtswissenschaftler kritisieren das negative Stimmgewicht scharf und betrachten es als einen Defekt, der mit dem Erfordernis der Gleichheit, Freiheit und Unmittelbarkeit (Transparenz) einer Wahl unvereinbar ist:
- Die Gleichheit der Wahl ist nach ihrer Meinung dadurch verletzt, dass der Erfolgswert einer Stimme geringer ist - nämlich negativ - als der Erfolgswert, wenn man keine Stimme abgegeben hätte.
- Die Freiheit der Wahl wird verletzt, weil der Wähler in seiner Wahlentscheidung nicht mehr frei sei, wenn er mit seiner Stimme der gewünschten Partei Schaden zufügen kann. Dies könne einen Wähler verunsichern und davon abhalten, seine Partei zu wählen.
- Schließlich sehen sie die Unmittelbarkeit der Wahl als nicht gegeben an, da durch den Defekt des notwendig dazwischen geschalteten mathematischen Berechnungsverfahrens die Stimmen für eine Partei nicht mehr zu ihren Gunsten, sondern zu ihren Lasten gezählt werden können. Der Wählerwille werde nicht mehr unmittelbar in Mandate für eine Partei umgerechnet, sondern verfälscht. Ein Wähler dürfe seine Partei nicht wählen, um ihr seine Zustimmung auszudrücken.
Auch in vielen Verhältniswahlverfahren kann ein negatives Stimmgewicht auftreten. Allerdings ist die Unschärfe pro Partei üblicherweise auf höchstens ein Mandat beschränkt. Außerdem sind die meisten anderen Verfahren weniger anfällig als das des Bundestagswahlrechts. Nach diesem Recht kann sogar eine Minderheit an Wählern die Mehrheit der Bundestagssitze erreichen.
[Bearbeiten] Gesetzentwurf zur Kompensation von Überhangmandaten
Auf politischer Ebene ging 1996 die Bundestagsfraktion von Bündnis '90 / DIE GRÜNEN mit dem Vorschlag, das obige Verrechnungsmodell umzusetzen[2], u. a. das Problem des negativen Stimmgewichts an:
- Nach § 7 Abs. 3 Bundeswahlgesetz wird folgender Absatz 4 eingefügt:
- (4) Entfallen auf eine oder mehrere Landeslisten einer Partei Überhangmandate, so wird die Verteilung der auf die übrigen Landeslisten dieser Listenverbindung entfallenden Sitze erneut vorgenommen. Bei dieser Verteilung wird die Zahl der Wahlkreismandate in Abzug gebracht, die in den Ländern entstanden sind, in denen Überhangmandate aufgetreten sind. Die verbleibenden Sitze werden unter Anrechnung der in den übrigen Ländern erlangten Wahlkreismandate entsprechend dem Verfahren nach § 7 Abs. 3 auf die Landeslisten verteilt. Soweit hierbei erneut Überhangmandate auftreten, wird das Verfahren wiederholt, bis keine Überhangmandate mehr auftreten.
Damit sollten Überhangmandate neutralisiert und die Wirkung von negativen Stimmgewichten minimiert werden. Der Bundestag lehnte mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP den Entwurf ab und vertraute auf die Verringerung der Anzahl der Sitze auf 598 und einen neuen Wahlkreiszuschnitt.
[Bearbeiten] Abstrakte Normenkontrolle 1995/96
1995 ließ die Regierung des Landes Niedersachsen Teile des Bundeswahlgesetzes vom Bundesverfassungsgericht überprüfen und trug explizit die Wirkung von negativen Stimmgewichten vor.[3] Nach ihrer Auffassung erzeugten Überhangmandate und negative Stimmgewichte eine Erfolgswertverzerrung in kumulativer Kausalität, die so gleichheitswidrig sei, dass §§ 6 und 7 BWahlG in wesentlichen Teilen verfassungswidrig und nichtig seien. Es verwies auf die Rechtsprechung des Gerichts und den Charakter des Bundestages als unitaristisches Parlament, weshalb sich mindestens drei Änderungsmöglichkeiten anboten, die Gleichheitsanforderungen von Art. 38 GG zu erfüllen. Sie unterstrich die oben angeführte Änderungsmöglichkeit 1. Das Ergebnis der Anhörung des Bundeswahlleiters in dieser Sache stützte den kritischen Befund im Antrag von Niedersachsen.
Das Gericht bestätigte mit den Stimmen der Richter Jentsch, Kirchhof, Kruis und Winter durch eine Patt-Entscheidung das Bundeswahlgesetz. Sie verwiesen auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und dass es dabei zu systemimmanenten Erfolgswertverzerrungen kommen könne. Die bisher gebildeten Maßstäbe in der Rechtsprechung seien jedoch nicht annähernd abschließend, und es sei möglich gar andere Ungleichheiten zuzulassen.
Nach Auffassung der Richter Graßhof, Hassemer, Limbach und Sommer ist das Wahlsystem im Umfang des Normenkontrollantrages verfassungswidrig und verletzt die Wahlgleichheit. Gewiss habe der Gesetzgeber einen Spielraum für notwendig gehaltene Gestaltungen, jedoch nur im Rahmen der strengen Wahlgleichheit: „Notwendigkeit allein begründet noch keine Berechtigung.“[4] Sie weisen darauf hin, dass der o. a. Gesetzentwurf von Bündnis 90 / DIE GRÜNEN die Probleme durch Überhangmandate vollständig löse. Wegen des Gebots des judicial self-restraint habe das Gericht zwar nicht vorzugeben, welche legislativen Maßnahmen das Parlament zu ergreifen habe. Jedoch müsse der Gesetzgeber eine davon ergreifen, um der Verfassung gerecht zu werden.
[Bearbeiten] Wahlprüfung
Mit Berufung auf das negative Stimmgewicht werden beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags regelmäßig Wahleinsprüche erhoben, zuletzt zur Bundestagswahl 2002[5] und 2005[6]. Derartige Einsprüche wurden bisher immer abgelehnt, da die Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes eingehalten wurden und der Ausschuss die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Regelungen des Bundeswahlgesetzes dem Bundesverfassungsgericht überlässt.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2001 eine unter anderem das negative Stimmgewicht anführende Wahlprüfungsbeschwerde[7] verworfen[8]. Gründe dafür wurden in diesem A-Limine-Beschluss jedoch nicht genannt.
Eine Wahlprüfungsbeschwerde zum vorgenannten Einspruch zur Bundestagswahl 2002 ist immer noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. In diesem Verfahren bezeichnete im Jahre 2004 der damalige Berichterstatter des Gerichts, Richter Jentsch, beiläufig das mögliche Auftauchen von negativen Stimmgewichten als „verfassungsrechtlich noch hinnehmbar“. Diese Auffassung wird per curiam in dieser Form nicht gestützt. Im Rahmen der Wahlprüfung der Bundestagswahl 2005 sind weitere Beschwerden angekündigt[9].
[Bearbeiten] Auftreten bei Bundestagswahlen
[Bearbeiten] Wahl des Deutschen Bundestages bis 1998
In der Geschichte der Bundestagwahlen ist das Auftreten des negativen Stimmgewichts bei den Bundestagswahlen 1990, 1994 und 2002 nachgewiesen (siehe Weblinks). Außerdem gibt es weitere Beispiele:
- 1961 hätte die CDU Schleswig-Holstein bei 39.671 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen. Im gleichen Jahr hätte die CDU Saarland bei 48.902 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen.
- 1983 hätte die SPD Bremen bei 73.622 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen. Ebenso hätte die SPD Hamburg bei 73.569 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen.
- 1987 hätte die CDU Baden-Württemberg bei 18.705 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen.
- Die SPD hätte 1990 ein Mandat mehr bekommen, wenn sie in Bremen 8.000 Stimmen weniger erhalten hätte. Ebenso hätte die CDU, wenn sie in Thüringen 2.600 Stimmen weniger erhalten hätte, ein Mandat mehr erhalten.
- Die CDU hätte 1994 jeweils ein Mandat mehr bekommen, wenn sie in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen oder Sachsen-Anhalt 19.089 Stimmen oder in Thüringen 13.629 Stimmen weniger erhalten hätte.
- Die SPD hätte 1998 ein Mandat mehr bekommen, wenn sie in Brandenburg 70.955 Stimmen weniger erhalten hätte oder aber in Sachsen-Anhalt 21.323 Stimmen oder in Thüringen 21.228 Stimmen und gleichzeitig in Brandenburg 1.000 Stimmen weniger erhalten hätte.
Weiter gibt es diverse Fälle, in denen eine Partei weniger Mandate bekommen hätte, wenn sie mehr Stimmen erhalten hätte. Dies trifft zu auf:
- die CDU Schleswig-Holstein 1957 (88.833 Stimmen mehr, dann zwei Mandate weniger),
- die CDU Saarland 1961 (10.828 mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Schleswig-Holstein 1980 (7.809 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Bremen 1983 (4.083 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Hamburg 1983 (8.199 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die CDU Mecklenburg-Vorpommern 1990 (13.545 Stimmen mehr und gleichzeitig in Thüringen 1.000 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die CDU Sachsen-Anhalt 1990 (6.314 Stimmen mehr und gleichzeitig in Thüringen 1.000 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die CDU Thüringen 1990 (66.693 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Bremen 1994 (1.042 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Brandenburg 1994 (73.403 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Hamburg 1998 (16.651 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger),
- die SPD Mecklenburg-Vorpommern 1998 (6.628 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger) und
- die SPD Brandenburg 1998 (4.015 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger)
[Bearbeiten] Wahl des Deutschen Bundestages 2002
Bei der Bundestagswahl 2002 ging der SPD wegen 50.000 Zweitstimmen in Brandenburg zu viel ein Sitz verloren, der sonst an die Bremer SPD-Landeslistenkandidatin Cornelia Wiedemeyer gegangen wäre.
Aufbereitet sind die realen Ergebnisse von Pukelsheim [10], der aufzeigt, dass der Erfolgswert einer Stimme zwischen 99,43% und 100,63% schwankt, also bei einer Schwankungsdifferenz von 1,2%.
Berechnung Gesamtstimmenzahl für die Bundestagswahl 2002
Reale Stimmenverhältnisse | 50.000 SPD-Stimmen in Brandenburg weniger | |||||
Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze Ergebnis | Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze Ergebnis | |
---|---|---|---|---|---|---|
SPD | 18.488.668 | 246,95 | 247 | 18.438.668 | 246,56 | 247 |
CDU | 14.167.561 | 189,24 | 189 | 14.167.561 | 189,45 | 189 |
CSU | 4.315.080 | 57,64 | 58 | 4.315.080 | 57,70 | 58 |
Bündnis '90/Die Grünen | 4.110.355 | 54,90 | 55 | 4.110.355 | 54,96 | 55 |
FDP | 3.538.815 | 47,27 | 47 | 3.538.815 | 47,32 | 47 |
gesamt (nur Bundestagsparteien) | 44.620.479 | 596,00[11] | 596 | 44.570.479 | 595,99[11][12] | 596 |
Das heißt, die Gesamtgrundmandatszahl für die SPD verbleibt trotz geringerer absoluter Stimmenzahl bei 247. Diese 247 Sitze werden nun entsprechend den in den Ländern erreichten Stimmen der SPD vergeben:
Berechnung Sitze für die SPD für die Bundestagswahl 2002
Reale Stimmenverhältnisse | 50.000 SPD-Stimmen in Brandenburg weniger | |||||
Wählerstimmen für SPD | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze Ergebnis | Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze Ergebnis | |
---|---|---|---|---|---|---|
Baden-Württemberg | 1.989.524 | 26,58 | 27 | 1.989.524 | 26,65 | 27 |
Bayern | 1.922.551 | 25,68 | 26 | 1.922.551 | 25,75 | 26 |
Berlin | 685.170 | 9,15 | 9 | 685.170 | 9,18 | 9 |
Brandenburg | 707.871 | 9,46 | 10 | 657.871 | 8,81 | 9 (-1) |
Bremen | 183.368 | 2,45 | 2 | 183.368 | 2,46 | 3 (+1) |
Hamburg | 404.738 | 5,41 | 5 | 404.738 | 5,42 | 5 |
Hessen | 1.355.496 | 18,11 | 18 | 1.355.496 | 18,16 | 18 |
Mecklenburg-Vorpommern | 405.415 | 5,42 | 5 | 405.415 | 5,43 | 5 |
Niedersachsen | 2.318.625 | 30,98 | 31 | 2.318.625 | 31,06 | 31 |
Nordrhein-Westfalen | 4.499.388 | 60,11 | 60 | 4.499.388 | 60,27 | 60 |
Rheinland-Pfalz | 918.736 | 12,27 | 12 | 918.736 | 12,31 | 12 |
Saarland | 295.521 | 3,95 | 4 | 295.521 | 3,96 | 4 |
Sachsen | 861.685 | 11,51 | 12 | 861.685 | 11,54 | 12 |
Sachsen-Anhalt | 618.016 | 8,26 | 8 | 618.016 | 8,28 | 8 |
Schleswig-Holstein | 743.838 | 9,94 | 10 | 743.838 | 9,96 | 10 |
Thüringen | 578.726 | 7,73 | 8 | 578.726 | 7,75 | 8 |
gesamt (nur SPD) | 18.488.668 | 247,01[13] | 247 | 18.438.668 | 246,99[13] | 247 |
Obwohl also für die SPD insgesamt 247 Sitze erhalten bleiben, sorgen die 50.000 Stimmen weniger in Brandenburg für eine Verschiebung des 10. brandenburgischen Mandats nach Bremen. Dies stellt für sich betrachtet noch kein Problem dar.
Übersicht über die Überhangmandate (ÜM)
Reale Stimmenverhältnisse | 50.000 SPD-Stimmen in Brandenburg weniger | |||||
Landeslistensitze SPD | Direktmandate SPD | Sitze Ergebnis | Landeslistensitze SPD | Direktmandate SPD | Sitze Ergebnis | |
---|---|---|---|---|---|---|
Baden-Württemberg | 27 | 7 | 27 | 27 | 7 | 27 |
Bayern | 26 | 1 | 26 | 26 | 1 | 26 |
Berlin | 9 | 9 | 9 | 9 | 9 | 9 |
Brandenburg | 10 | 10 | 10 | 9 | 10 | 10 (1 ÜM) |
Bremen | 2 | 2 | 2 | 3 | 2 | 3 |
Hamburg | 5 | 6 | 6 (1 ÜM) | 5 | 6 | 6 (1 ÜM) |
Hessen | 18 | 17 | 18 | 18 | 17 | 18 |
Mecklenburg-Vorpommern | 5 | 5 | 5 | 5 | 5 | 5 |
Niedersachsen | 31 | 25 | 31 | 31 | 25 | 31 |
Nordrhein-Westfalen | 60 | 45 | 60 | 60 | 45 | 60 |
Rheinland-Pfalz | 12 | 7 | 12 | 12 | 7 | 12 |
Saarland | 4 | 4 | 4 | 4 | 4 | 4 |
Sachsen | 12 | 4 | 12 | 12 | 4 | 12 |
Sachsen-Anhalt | 8 | 10 | 10 (2 ÜM) | 8 | 10 | 10 (2 ÜM) |
Schleswig-Holstein | 10 | 10 | 10 | 10 | 10 | 10 |
Thüringen | 8 | 9 | 9 (1 ÜM) | 8 | 9 | 9 (1 ÜM) |
gesamt (nur SPD) | 247 | 171 | 251 (4 ÜM) | 247 | 171 | 252 (5 ÜM) |
Erst durch die Tatsache, dass die brandenburgische SPD zehn Direktmandate (und damit ein Mandat mehr, als ihr nunmehr nach der Zweitstimmenzahl zustehen) gewonnen hat, entsteht ein Überhangmandat, während gleichzeitig in Bremen ein zusätzliches Listenmandat entstanden ist. Diese Kombination bringt der SPD 252 Sitze im Bundestag anstatt nur 251 ein.
Ebenfalls hätte die SPD insgesamt ein Mandat mehr, wenn die brandenburgische SPD nur 600 Stimmen weniger bekommen hätte. Dann hätte die SPD in Brandenburg einen Sitzanteil von 9,4491 und in Bremen 2,4497, d. h. in Brandenburg 9 Mandate (plus 1 Überhangmandat) - vorher 10, da Anteil 9,46 - und in Bremen 3 - vorher 2, da Anteil von 2,45. Es kann also vorkommen, dass relative geringe Anzahl von "zuviel" Stimmen ein Mandat kostet.
Ein ähnliches Beispiel ist, wenn die SPD in Berlin 55.000 Zweitstimmen weniger erhalten hätte. Hier war es sogar nicht völlig ausgeschlossen, dass dies nicht im Rahmen einer Wahlprüfung noch eingetreten wäre. Mehrere Wahlprüfungsbeschwerden haben zum Ziel, Zweitstimmen von Wählern der Wahlkreise 86 und 87 (Berliner PDS-Wahlkreise) streichen zu lassen. Im Rahmen des Verfahrens wurden Anfang 2005 die Stimmen in Berlin neu ausgezählt. Allerdings ergab die Auszählung, dass nicht genügend SPD-Stimmen abgezogen werden könnten, um der SPD einen Mandatsgewinn zu bescheren.
[Bearbeiten] Bundestagswahl 2005 - Wahlkreis Dresden I
Auch für die Bundestagswahl 2005 ergaben sich wieder Überhangmandate und negative Stimmgewichte. Besondere Brisanz erhielt dies durch eine Nachwahl im Wahlkreis Dresden I am 2. Oktober 2005 im Freistaat Sachsen, wo ein weiteres Überhangmandat (von insgesamt vier in Sachsen) entstand.
Bemerkenswert ist, dass durch die Nachwahl in einem überhangrelevanten Wahlkreis in isolierter Form die Wirkung für das Land Sachsen und die Sitzverteilung beobachtet werden konnte, quasi unter Laborbedingungen: In Dresden „durfte“ die CDU nicht mehr als 41.226 Zweitstimmen gewinnen, sonst wäre ihr wegen der Überhangmandate ein Mandat verloren gegangen.
In diesem Kontext wird kritisch bewertet, dass durch die Besonderheit der Nachwahlsituation konkret für die Nichtabgabe von Zweitstimmen geworben werden konnte. Im Vorfeld der Dresdner Nachwahl gipfelte dies in einer gemeinsamen Plakataktion von CDU und FDP, in der ausdrücklich von beiden Parteien Erststimmen für die CDU und Zweitstimmen für die FDP gefordert wurden. Daraus ist erkennbar, dass die Vorhersehbarkeit negativer Stimmgewichte in Verbindung mit einer Nachwahl weitergehende Probleme hinsichtlich der Gleichbehandlung sowohl aller Wähler als auch aller Parteien aufwirft.
Bei der Wahl in Dresden wurde ein massives Stimmensplitting beobachtet. Dabei gelang es der CDU unter der kritischen Zweitstimmenmarke zu bleiben und konnte das Mandat aus der vorläufigen Sitzverteilung behalten.
- ↑ "Lotterie mit Stimmzetteln - Was Mathematiker selten verraten" (Ausgabe 37/2002)
- ↑ BT-Drs. 13/5575
- ↑ BVerfGE 95, 335, <341> und <343>
- ↑ BVerfGE 95, 335 <390ff>
- ↑ Wahleinspruch WP 214/02, BT-Drs. 15/1850
- ↑ Wahleinspruch WP 162/05, WP 179/05 und WP 181/05, BT-Drs. 16/3600
- ↑ WP 65/98, BT-Drs. 14/1560
- ↑ BVerfGE 2 BvC 5/99
- ↑ http://www.wahlrecht.de/wahlpruefungsbeschwerde/index.html
- ↑ DÖV 2004, 405, 408
- ↑ a b Die beiden Mandate für die PDS-Abgeordneten wurden zuvor abgezogen (Ausgangslage 598 Sitze)
- ↑ Rundungsfehler
- ↑ a b Rundungsfehler
[Bearbeiten] siehe auch
Überhangmandat · Wählerzuwachsparadoxon · Alabama-Paradoxon
[Bearbeiten] Literatur
- BVerfGE 95, 335 - Überhangmandate II, Abstrakte Normenkontrolle auf Antrag des Landes Niedersachsen 1995/96
- Joachim Behnke: Von Überhangmandaten und Gesetzeslücken. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ). Beilage der Zeitschrift "Das Parlament". Bonn 52.2003, S.21. ISSN 0479-611X
- Dirk Ehlers, Marc Lechleitner: Die Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten. In: Juristenzeitung. Mohr, Tübingen 1997,15/16, 761-764. ISSN 0173-475x
- Martin Fehndrich: Paradoxien des Bundestags-Wahlsystem. In: Spektrum der Wissenschaft. Spektrum, Heidelberg 1999,2, 70–73. ISSN 0170-2971
- Friedrich Pukelsheim: Erfolgswertgleichheit der Stimmen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV). W. Kohlhammer, Stuttgart 2004, 10, 405ff (pdf). ISSN 0029-859X
[Bearbeiten] Weblinks
- Negatives Stimmgewicht
- Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte zum deutschen Wahlrecht
- Falsch gewählt: Warum eine Stimme schädlich sein kann (Telepolis)
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