Neugotik
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie


Die Neugotik, auch Neogotik oder Gothic Revival genannt ist ein Kunst- und Architekturstil des 19. Jahrhunderts. Sie ist eine der frühesten Spielarten des Historismus, der auf verschiedene Stile der vergangenen zwei Jahrtausende zurückgriff.
Im Mittelpunkt der Verbreitung der Neugotik stand ein umfassendes Bau- und Einrichtungsprogramm, das bis in die Literatur und den Lebensstil Einzug hielt. Die Formensprache der Neugotik orientierte sich an einem idealisierten Mittelalterbild. Ihre Blüte hatte sie in der Zeit von 1830 bis 1900.
Um an die Freiheit und Geisteskultur der mittelalterlichen Städte anzuknüpfen errichtete man in neugotischem Stil vor allem Kirchen, Parlamente, Rathäuser und Universitäten, aber auch andere öffentliche Bauten wie Postämter, Schulen oder Bahnhöfe.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Neugotik in Großbritannien
Die Neugotik begann in Großbritannien schon ab 1720, als bei der Gestaltung neuer Bauwerke Formen der mittelalterlichen Gotik nachgeahmt wurden. Der auf dem Kontinent herrschende Stil des Rokoko wurde als Rokoko-Gotik interpretiert.
Typisch dafür sind Bauten wie das Landhaus Strawberry Hill (Baubeginn 1751) des Horace Walpole. Aber erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts war, von Großbritannien aus, der maßgebliche Durchbruch zu verzeichnen. Zu dieser Zeit wurde zum Beispiel der Palace of Westminster (1840-1860) von Sir Charles Barry errichtet.
[Bearbeiten] Neugotik im deutschen Sprachraum
Das Nauener Tor in Potsdam (1755), das Friedrich der Große auf britische Anregung errichten ließ, war das erste neugotische Bauwerk in Deutschland. Mit der Unterstützung von Friedrich dem Großen erhielt die Neugotik eine nationale Ausrichtung, da man sich in einer Verbundenheit mit dem mittelalterlichen deutschen Kaiserreich sah. Insbesondere bei den damaligen Parkbauten setzte sich die Stilrichtung durch, wie beispielsweise das Gotische Haus im Wörlitzer Park (1786/87), oder die Löwenburg im Bergpark Wilhelmshöhe. Sie entstand nach Entwürfen von Heinrich Christoph Jussow in der Zeit von 1793 bis 1800 als Nachahmung einer mittelalterlichen englischen Ritterburg.
Die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte in Deutschland zu einer Begeisterung für die mittelalterlichen Bauwerke, insbesondere für die großen Dome der Gotik und die Burgen. Im Zuge dieser neuen Mode konnten alte Bauruinen wie der Kölner Dom (Wiederaufnahme des Baus 1846) oder das Ulmer Münster (Fertigstellung des Westturmes 1890) nach den Plänen des Mittelalters vollendet werden. Andere gotische Kirchen wurden purifiziert, das heißt, von nachträglichen Änderungen nachfolgender Stilepochen befreit, vervollständigt und von vermeintlichen Fehlern bereinigt. Die Vollendungen verwendeten die originalen Baupläne, es sind also aus kunsthistorischer Sicht noch (zum überwiegenden Teil) Bauwerke der mittelalterlichen Gotik.
Vorhandene Burgruinen wurden gerne nach englischem Vorbild, dem Castellated Style wiederaufgebaut, dieser Wiederaufbau hatte allerdings nichts mehr mit der historischen Gestalt der Burg zu tun. Typische Beispiele dafür sind die Burg Hohenzollern bei Hechingen und das Schloss Stolzenfels in Koblenz.
Für neue Kirchen- und Profanbauten in den wachsenden Städten griff man gerne auf die gotische Architektur zurück und komponierte mit Formelementen aus dem reichen Erbe vorhandener Bauwerke eine neue idealisierte Architektur, die Neugotik. Allerdings fehlte aufgrund der großen zeitlichen Distanz das tiefe Verständnis für die Formensprache und so finden sich Formen des Kirchenbaus an neugotischen Rathäusern wieder. Herausragende Beispiele für neugotische Profanbauten sind die Rathäuser in Wien, München und dem Berliner Bezirk Köpenick sowie das einzigartige Ensemble der Speicherstadt in Hamburg.
Für die Innenausstattung, insbesondere Altäre und Kanzeln der neuen und purifizierten Kirchen schuf man aufwändig geschnitzte Werke, die sich an die Elemente der Architektur anlehnen, aber ohne Vorbild waren. Diese Werke nannte man später abwertend Schreinergotik. Die Glasmalerei erlebte ebenfalls eine neue Blüte, allerdings sind die neuen Werke realistischer und naturalistischer als die historischen Vorbilder. Viele derartige Ausstattungsgegenstände der Kirchen sind ab 1960 aus Verachtung für die nachgemachten Stile wieder entfernt und zerstört worden.
Neugotische Bauten besonders im deutschen Sprachraum waren im vergangenen Jahrhundert natürlich massiven Zerstörungen und Angriffen durch Kriege ausgesetzt. Wie durch ein Wunder blieben aber fast alle bedeutenden neugotischen Kathedralen vom Zusammensturz verschont, auch wenn vielerorts die Dachstühle ausbrannten. Eine Ausnahme bildet hier die Nikolaikirche in Hamburg, deren Schiffe nach einem verheerenden Bombenangriff abgebrochen werden mussten und bis heute nicht wieder rekonstruiert wurden. Nur der Turm ragt heute noch 147 Meter hoch aus dem Häusermeer (das Ulmer Münster ist nur 15 Meter höher). Er lässt die Größe der zerstörten Kirche erahnen, die sicherlich als eine der größten und prächtigsten gelten kann, die allein im Stil der Neugotik (ohne mittelalterliche Vorlagen) erbaut worden sind.
Die Begeisterung für gotische Formen ließ im stark nationalistisch geprägten Deutschland des zweiten Kaiserreiches wieder nach, nachdem man erkannt hatte, dass die Gotik nicht ein typisch deutscher Stil ist, sondern historisch aus Frankreich stammt. Diesen gesuchten typisch deutschen Stil glaubte man in der Romanik gefunden zu haben, worauf sich der Schwerpunkt auf romanische Formen verlagerte und die Neuromanik ihre Blüte erlebte.
Ein letztes Beispiel in Deutschland ist die 1906 geweihte Paulskirche in München von Georg von Hauberrisser.
[Bearbeiten] Die ersten Wolkenkratzer in Nordamerika
Für viele der weltweit ersten richtigen Geschäftshochhäuser, die um 1910 bis 1920 in Städten wie New York oder Chicago entstanden, bediente man sich gotischer architektonischer Formen, was zunächst verwunderlich scheint. Man kann aber nachvollziehen, dass man an die Pracht und Herrlichkeit der gigantischen Kathedralen Europas anknüpfen wollte. Waren diese noch dazu gedacht, mit ihrer Größe Gott (bzw. das Himmlische Jerusalem) zu ehren, benutzte man im Grunde nun die gleiche Formensprache, um der allgegenwärtigen Macht der Wirtschaft eine ausdrucksstarke, einschüchternde Form zu verleihen.
Nicht zufällig erinnert der Tribune Tower in Chicago stark an den Hauptturm der Kathedrale von Rouen. Beim Woolworth Building (vollendet 1910, in New York City) ist sogar im Grunde eine Kathedrale inklusive ihrer Seitenschiffe als modernes Bürohochhaus verwirklicht worden. Diesen Bauwerken ist eine üppige Maßwerkverzierung bis hin zur Turmspitze gemein, lange, schlanke Fenster beherrschen die plastisch gegliederte Fassade. Hat man die mittelalterliche Spätgotik sowie auch die europäische Neugotik im Blick, wirkt der Wolkenkratzerstil von seiner üppigen Ornamentik eher verkitscht und überladen.
[Bearbeiten] Neogotik in Neuseeland und Australien
Inspiriert von den neogotischen Bauten in Großbritannien entstand auch in den britischen Kolonien Australien und Neuseeland eine Reihe von neogotischen Bauten. Zu den bekanntesten Architekten, die Bauwerke in diesem Stil realisierten, gehören Benjamin Mountford und Robert Lawson. Insbesondere Kirchen wie die First Church in Dunedin wurden im neogotischen Stil errichtet. Auch bei einer Reihe von Wohnhäuser wurden zumindest Elemente der Neogotik eingearbeitet. So erinnert bei der Villa Larnach Castle, die Robert Lawson für einen neuseeländischen Politiker und Geschäftsmann errichtete, der Mittelteil an eine Burg. Umgeben ist dieser Teil jedoch von einer zweistöckigen verglasten Veranda, bei der die Träger aus Gusseisen sind.
[Bearbeiten] Personen
- Charles Barry, britischer Architekt (1795-1860)
- Wilhelm Bockslaff, deutschbaltischer Architekt (1854-1945)
- Henrik Bull, norwegischer Architekt (1864-1953)
- Pierre Cuypers, niederländischer Architekt (1827-1921)
- Arnold Güldenpfennig, deutscher Architekt (1830-1908), Paderborn
- Conrad Wilhelm Hase, deutscher Architekt (1818-1902), Hannover
- Carl Alexander Heideloff, deutscher Architekt und Denkmalpfleger (1789-1865)
- Rudolph Eberhard Hillebrand, deutscher Architekt und Bauunternehmer (1840-1924), Hannover
- Alexis Langer, schlesischer Architekt (1825-1904)
- Christian Friedrich von Leins, deutscher Architekt (1814-1892)
- Benjamin Mountfort, britischer Architekt in Neuseeland (1825-1898)
- Edwin Oppler, deutscher Architekt (1831-1880), Hannover
- Ludwig Persius, preußischer Architekt (1803-1845), Berlin
- Thomas Rickman, britischer Architekt (1776-1841)
- Wilhelm Rincklake, deutscher Architekt und Benediktinermönch (1851-1927), Münster/ Maria Laach
- John Ruskin, britischer Künstler und Sozialkritiker (1819-1900)
- Sir George Gilbert Scott, britischer Architekt (1811-1878), London
- Karl Friedrich Schinkel, preußischer Architekt (1781-1841), Berlin
- Friedrich von Schmidt, deutscher Architekt (1825-1891)
- Ferdinand Stadler, schweizer Architekt (1813–1870)
- Eugène Viollet-le-Duc, französischer Architekt und Restaurator (1814-1879)
- Friedrich Weinbrenner, deutscher Architekt (1766-1826), Karlsruhe
- Ernst Friedrich Zwirner, Kölner Dombaumeister (1802-1861)
[Bearbeiten] Bauwerke
- 1755 Nauener Tor in Potsdam
- 1784 - 1790 Tendering Hall in Suffolk
- 1824 - 1830 Friedrichswerdersche Kirche zu Berlin
- 1840 - 1860 Palace of Westminster mit dem Turm von Big Ben, London
- 1842 - 1845 Cholerabrunnen in Dresden
- 1848 - 1850 Schloss Sayn bei Koblenz
- 1849 - 1855 Schloss Arenfels in Bad Hönningen
- 1852 Rathaus von Erfurt
- 1853 - 1862 Marktkirche in Wiesbaden
- 1856 - 1879 Votivkirche in Wien
- 1859 - 1864 Christuskirche, Hannover
- 1862 - 1864 Schloss in Northeim-Imbshausen
- 1865 - 1869 Stiftskirche Admont (erstes neugotisches Kirchengebäude in Österreich)
- 1872 - 1883 Rathaus in Wien
- 1878 - 1888 Chhatrapati Shivaji Terminus, Mumbai
- 1880 - 1882 St. Johannis-Harvestehude Hamburg
- 1885 (voll.) Rijksmuseum, Amsterdam
- 1892 - 1898 Propsteikirche St. Ludgerus, Billerbeck
- 1892 - 1906 St. Paul (München)
- 1893 - 1904 Gedächtniskirche der Protestation in Speyer
- 1894 - 1896 Oberbaumbrücke, Berlin
- 1894 - 1897 Kirche am Südstern, Berlin
- 1897 Kath. Pfarrkirche St. Johannes Baptista in Hüttenheim, Bayern
- 1900 Verbindungshaus des K.St.V. Arminia Bonn, sog. Arminenhaus in Bonn, Nordrhein-Westfalen
- St. Patrick's Cathedral in New York
- Neues Rathaus in München
- Parlament in Budapest
- Hallgrímskirche Reykjavík