Reichskanzler
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Reichskanzler war die fortlaufende Amtsbezeichnung des Regierungschefs des Deutschen Reiches von 1871 bis 1945. In dieser Rolle stand er dem Kabinett – von 1871 bis 1918 der sogenannten „Reichsleitung“, von 1919 bis 1945 der „Reichsregierung“ – vor.
Diese Amtsbezeichnung entstammt der deutschen Kanzler-Tradition des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Der Reichskanzlertitel wurde darüber hinaus zuweilen auch in anderen Monarchien Europas wichtigen Ministern verliehen, so etwa wurde dieser in Österreich-Ungarn von 1867 bis 1871 vom k.u.k. Außenminister Friedrich Ferdinand von Beust und in Russland vom Fürsten Gortschakow geführt. Im Deutschen Reich nach 1871 entwickelte sich daraus eine fortlaufende Tradition, die bis heute im Bundeskanzlertitel der Bundesrepublik Deutschland nachwirkt. In Österreich wurde der Kanzlertitel erst 1919 wieder aufgegriffen.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Kaiserreich
Der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war – ebenfalls schon unter Hegemonie des größten und bedeutsamsten deutschen Staates Preußen – 1867 die Bildung des „Norddeutschen Bundes“ vorangegangen. Dieser hatte als Bundesinstitutionen einen aus Vertretern der Mitgliedsstaaten gebildeten Bundesrat unter dem Vorsitz (Bundespräsidium) des Königs von Preußen, eine parlamentarische Bundesvertretung, die aber bezeichnenderweise „Reichstag“ genannt wurde, und eine rudimentäre Bundesexekutive, an deren Spitze in Personalunion der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck als „Bundeskanzler“ stand. Rein technisch gesehen, führte der preußische Außenminister die Geschäfte des Bundesrats und war somit der Vorgesetzte des Kanzlers. Deshalb war Bismarck Kanzler, preußischer Ministerpräsident und Außenminister in Personalunion.
Die Wahl des „Kanzler“-Begriffs signalisierte die scheinbar geringere Wertigkeit dieses Bundesorgans gegenüber den Regierungen der Einzelstaaten, denn der neue „Kanzler“ des Bundes sollte – anders als die Regierungschefs der Bundes-Staaten – eben kein vollwertiger Ministerpräsident sein; zum anderen symbolisierte der Kanzlertitel – in der preußischen Kanzlertradition etwa Hardenbergs – auch eine starke monarchisch-bürokratische und damit letztlich antiparlamentarische Komponente. In beidem unterschied sich die 1867/71 geschaffene Exekutive des Bundes bzw. des Reiches ganz bewusst vom deutschen „Reichsministerium“ der Revolutionsjahre 1848/49, an dessen Spitze – von der deutschen Nationalversammlung gewählt – ein „Reichsministerpräsident“ gestanden hatte.
Diese Konstruktion des „Bundeskanzlers“ wurde 1871 auf die Leitung der Exekutive des nun unter Einschluss der süddeutschen Staaten gebildeten Deutschen Reiches übertragen. Auch hier suggerierten die nunmehr verwendeten Termini des „Reichskanzlers“ (statt eines „Reichs-Ministerpräsidenten“) und der „Reichsleitung“ (statt eines „Reichs-Ministeriums“ oder einer „Reichsregierung“) eine (scheinbare) geringere Wertigkeit der Reichsexekutive gegenüber den Regierungen der Bundesstaaten. Weder der Reichskanzler noch die Chefs der ihm unterstellten Reichsressorts führten deshalb bis 1918 einen Ministertitel. Faktisch waren jedoch die meisten Angehörigen der Reichsleitungen dennoch Minister, da die Reichsämter in der Regel in Personalunion mit den entsprechenden preußischen Ministerien verwaltet wurden. Im Range eines (seinem Monarchen verantwortlichen) Ministers auf Reichsebene stand jedoch allein der Reichskanzler, während die Leiter der Reichsressorts keine eigenständigen Minister, sondern strikt weisungsabhängige „Staatssekretäre“ waren.
Der Reichskanzler war zwischen 1871 und 1918 allein dem Deutschen Kaiser – und nicht etwa dem Reichstag – verantwortlich. Der Kaiser als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches berief und entließ den Reichskanzler. Der Kanzler hatte ohne (preußisches) Mandat auch kein Recht, vor dem Reichstag zu erscheinen. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck wurde 1871 der erste Reichskanzler, und seither wurde es Tradition, das Amt des Reichskanzlers mit dem des preußischen Ministerpräsidenten zu koppeln. Lediglich die Jahre 1892–1894 bildeten hier eine kurzfristige (schlecht funktionierende) Ausnahme; der Grund hierfür war die vom Norddeutschen Bund geerbte Unterstellung des Kanzler unter die preußische Regierung.
[Bearbeiten] Weimarer Republik
Mit der Novemberrevolution von 1918 wurde nicht nur das deutsche Kaisertum gestürzt, sondern auch die Institutionen des Reichskanzlers und der Reichsleitung kurzfristig durch einen revolutionären „Rat der Volksbeauftragten“ abgelöst. Im Februar 1919 wurde erneut ein Kabinett auf Reichsebene gebildet, doch in bewusster Abgrenzung von der Tradition des Kaiserreichs firmierte diese Exekutive nunmehr als vollwertige „Reichsregierung“, deren Vorsitzender ebenfalls als vollwertiger „Reichsministerpräsident“. Doch während die Bezeichnungen der „Reichsregierung“ und ihrer Ressortchefs als „Reichsminister“ seither bis zum Untergang des Deutschen Reiches 1945 fortwährend in Gebrauch blieben, konnte sich der Titel eines „Reichsministerpräsidenten“ im öffentlichen Sprachgebrauch nicht durchsetzen. Bereits im August 1919 kehrte der Chef der deutschen Reichsregierung zum unterdessen unverrückbar eingebürgerten Titel eines „Reichskanzlers“ zurück, obwohl der eigentliche inhaltliche Grund für diese Bezeichnung – dessen ursprünglich den Länder-Regierungschefs formal nachgeordnete Stellung – mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 nicht mehr gegeben war.
Auch in der Weimarer Republik (1918–1933) wurde der Reichskanzler vom Staatsoberhaupt – nunmehr dem Reichspräsidenten – ernannt und entlassen, doch war er zugleich dem Reichstag gegenüber verantwortlich. Der Reichskanzler konnte aufgrund dieser Konstruktion allerdings auch ohne parlamentarische Mehrheit regieren (Artikel 48 der Reichsverfassung von 1919 sah die sog. Notverordnungen vor, die nur vom Reichspräsidenten erlassen werden konnten).
[Bearbeiten] Drittes Reich
Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde, endete alsbald auch die parlamentarische Regierungsform; Hitler richtete sehr schnell eine Parteidiktatur ein und wurde zum Alleinherrscher ohne jede Verantwortlichkeit. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg legte Hitler im August 1934 die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers zu seinen Gunsten zusammen; er führte seither den offiziellen Titel Führer und Reichskanzler bis zu seinem Selbstmord am 30. April 1945.
Hitler besaß verfassungsrechtlich nicht das Recht, auf einfachem testamentarischen Wege seine Nachfolge zu bestimmen, doch hatte er auf diese Weise am 29. April 1945 seinen engen Gefolgsmann Joseph Goebbels zu seinem Nachfolger als Reichskanzler bestimmt. Dies zeigte keine politische Wirkung, da das Reich damals bereits zu großen Teilen von den siegreichen Alliierten besetzt war und Goebbels schon am folgenden Tag, dem 1. Mai 1945, ebenfalls Selbstmord beging. Der von Hitler auf dieselbe zweifelhafte Weise zum neuen Reichspräsidenten bestimmte Großadmiral Dönitz beauftragte daraufhin am 2. Mai 1945 Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk mit der Leitung der Geschäftsführenden Reichsregierung, wobei dieser den Titel des Reichskanzlers nicht mehr führte. Diese letzte nationalsozialistische Reichsexekutive, die weder über Legitimität noch über reale Macht verfügte, wurde am 23. Mai 1945 von den Alliierten auch formell abgesetzt und verhaftet.
[Bearbeiten] Nachwirkungen
[Bearbeiten] DDR
In der DDR war der Amtstitel des Regierungschefs zunächst – in Anlehnung an die kurze demokratische Weimarer Tradition von 1919 – „Ministerpräsident“, wobei dieser Titel allerdings sehr bald durch den eines „Vorsitzenden des Ministerrats“ verdrängt wurde, der sich an sowjetische Traditionen anlehnte. Im November 1989 kam aber der ursprüngliche Titel wieder in Gebrauch.
[Bearbeiten] Bundesrepublik Deutschland
Die Amtsbezeichnung des Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland ist seit 1949 – in bewusster Anlehnung an die -Tradition – „Bundeskanzler“.
[Bearbeiten] Liste der Regierungschefs des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches
Norddeutscher Bund | |||
Name (Lebensdaten) | Amtsantritt | Ende der Amtszeit | |
---|---|---|---|
Bundeskanzler | |||
Fürst Otto von Bismarck (1815–1898) | 1. Juli 1867 | 15. April 1871 | |
Deutsches Kaiserreich | |||
Name (Lebensdaten) | Amtsantritt | Ende der Amtszeit | |
Fürst Otto von Bismarck (1815–1898) | 16. April 1871 | 20. März 1890 | |
Graf Leo von Caprivi (1831–1899) | 20. März 1890 | 26. Oktober 1894 | |
Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901) | 29. Oktober 1894 | 17. Oktober 1900 | |
Fürst Bernhard von Bülow (1849–1929) | 17. Oktober 1900 | 14. Juli 1909 | |
Theobald von Bethmann-Hollweg (1856–1921) | 14. Juli 1909 | 13. Juli 1917 | |
Georg Michaelis (1857–1936) | 14. Juli 1917 | 1. November 1917 | |
Graf Georg von Hertling (1843–1919) | 1. November 1917 | 30. September 1918 | |
Prinz Max von Baden (1867–1929) | 3. Oktober 1918 | 9. November 1918 |
Weimarer Republik | |||
Name (Lebensdaten) | Amtsantritt | Ende der Amtszeit | Partei |
---|---|---|---|
Reichskanzler | |||
Friedrich Ebert (1871–1925) | 9. November 1918 | 10. November 1918 | SPD |
Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten | |||
Friedrich Ebert (1871–1925) | 10. November 1918 | 11. Februar 1919 | SPD |
Hugo Haase (1863–1919) | 10. November 1918 | 29. Dezember 1918 | USPD |
Philipp Scheidemann (1865–1939) | 29. Dezember 1918 | 7. Februar 1919 | SPD |
Reichsministerpräsident | |||
Philipp Scheidemann (1865–1939) | 13. Februar 1919 | 20. Juni 1919 | SPD |
Gustav Bauer (1870–1944) | 21. Juni 1919 | 14. August 1919 | SPD |
Reichskanzler | |||
Gustav Bauer (1870–1944) | 14. August 1919 | 26. März 1920 | SPD |
Hermann Müller (1876–1931) | 27. März 1920 | 8. Juni 1920 | SPD |
Konstantin Fehrenbach (1852–1926) | 25. Juni 1920 | 4. Mai 1921 | Zentrum |
Joseph Wirth (1879–1956) | 10. Mai 1921 | 22. Oktober 1921 | Zentrum |
Joseph Wirth (1879–1956) | 26. Oktober 1921 | 14. November 1922 | Zentrum |
Wilhelm Cuno (1876–1933) | 22. November 1922 | 12. August 1923 | parteilos |
Gustav Stresemann (1878–1929) | 13. August 1923 | 3. Oktober 1923 | DVP |
Gustav Stresemann (1878–1929) | 6. Oktober 1923 | 23. November 1923 | DVP |
Wilhelm Marx (1863–1946) | 30. November 1923 | 26. Mai 1924 | Zentrum |
Wilhelm Marx (1863–1946) | 3. Juni 1924 | 15. Januar 1925 | Zentrum |
Hans Luther (1879–1960) | 15. Januar 1925 | 5. Dezember 1925 | parteilos |
Hans Luther (1879–1960) | 20. Januar 1926 | 12. Mai 1926 | parteilos |
Otto Geßler (1875–1955) | 12. Mai 1926 | 17. Mai 1926 | DDP |
Wilhelm Marx (1863–1946) | 17. Mai 1926 | 17. Dezember 1926 | Zentrum |
Wilhelm Marx (1863–1946) | 19. Januar 1927 | 12. Juni 1928 | Zentrum |
Hermann Müller (1876–1931) | 28. Juni 1928 | 27. März 1930 | SPD |
Heinrich Brüning (1885–1970) | 30. März 1930 | 7. Oktober 1931 | Zentrum |
Heinrich Brüning (1885–1970) | 9. Oktober 1931 | 30. Mai 1932 | Zentrum |
Franz von Papen (1879–1969) | 1. Juni 1932 | 17. November 1932 | Zentrum (ab 3. Juni 1932 parteilos) |
Kurt von Schleicher (1882–1934) | 4. Dezember 1932 | 28. Januar 1933 | parteilos |
Zeit des Nationalsozialismus | |||
Name (Lebensdaten) | Amtsantritt | Ende der Amtszeit | Partei |
---|---|---|---|
Reichskanzler | |||
Adolf Hitler (1889–1945) | 30. Januar 1933 | 2. August 1934 | NSDAP |
„Führer und Reichskanzler“ | |||
Adolf Hitler (1889–1945) | 2. August 1934 | 30. April 1945 | NSDAP |
Reichskanzler | |||
Joseph Goebbels (1897–1945) | 30. April 1945 | 1. Mai 1945 | NSDAP |
Leiter der Geschäftsführenden Reichsregierung | |||
Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk (1887–1977) | 2. Mai 1945 | 23. Mai 1945 | parteilos |