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Reichskanzler

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Reichskanzler war die fortlaufende Amtsbezeichnung des Regierungschefs des Deutschen Reiches von 1871 bis 1945. In dieser Rolle stand er dem Kabinett – von 1871 bis 1918 der sogenannten „Reichsleitung“, von 1919 bis 1945 der „Reichsregierung“ – vor.

Diese Amtsbezeichnung entstammt der deutschen Kanzler-Tradition des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Der Reichskanzlertitel wurde darüber hinaus zuweilen auch in anderen Monarchien Europas wichtigen Ministern verliehen, so etwa wurde dieser in Österreich-Ungarn von 1867 bis 1871 vom k.u.k. Außenminister Friedrich Ferdinand von Beust und in Russland vom Fürsten Gortschakow geführt. Im Deutschen Reich nach 1871 entwickelte sich daraus eine fortlaufende Tradition, die bis heute im Bundeskanzlertitel der Bundesrepublik Deutschland nachwirkt. In Österreich wurde der Kanzlertitel erst 1919 wieder aufgegriffen.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Kaiserreich

Der Gründung des Deutschen Reiches 1871 war – ebenfalls schon unter Hegemonie des größten und bedeutsamsten deutschen Staates Preußen – 1867 die Bildung des „Norddeutschen Bundes“ vorangegangen. Dieser hatte als Bundesinstitutionen einen aus Vertretern der Mitgliedsstaaten gebildeten Bundesrat unter dem Vorsitz (Bundespräsidium) des Königs von Preußen, eine parlamentarische Bundesvertretung, die aber bezeichnenderweise „Reichstag“ genannt wurde, und eine rudimentäre Bundesexekutive, an deren Spitze in Personalunion der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck als „Bundeskanzler“ stand. Rein technisch gesehen, führte der preußische Außenminister die Geschäfte des Bundesrats und war somit der Vorgesetzte des Kanzlers. Deshalb war Bismarck Kanzler, preußischer Ministerpräsident und Außenminister in Personalunion.

Die Wahl des „Kanzler“-Begriffs signalisierte die scheinbar geringere Wertigkeit dieses Bundesorgans gegenüber den Regierungen der Einzelstaaten, denn der neue „Kanzler“ des Bundes sollte – anders als die Regierungschefs der Bundes-Staaten – eben kein vollwertiger Ministerpräsident sein; zum anderen symbolisierte der Kanzlertitel – in der preußischen Kanzlertradition etwa Hardenbergs – auch eine starke monarchisch-bürokratische und damit letztlich antiparlamentarische Komponente. In beidem unterschied sich die 1867/71 geschaffene Exekutive des Bundes bzw. des Reiches ganz bewusst vom deutschen „Reichsministerium“ der Revolutionsjahre 1848/49, an dessen Spitze – von der deutschen Nationalversammlung gewählt – ein „Reichsministerpräsident“ gestanden hatte.

Diese Konstruktion des „Bundeskanzlers“ wurde 1871 auf die Leitung der Exekutive des nun unter Einschluss der süddeutschen Staaten gebildeten Deutschen Reiches übertragen. Auch hier suggerierten die nunmehr verwendeten Termini des „Reichskanzlers“ (statt eines „Reichs-Ministerpräsidenten“) und der „Reichsleitung“ (statt eines „Reichs-Ministeriums“ oder einer „Reichsregierung“) eine (scheinbare) geringere Wertigkeit der Reichsexekutive gegenüber den Regierungen der Bundesstaaten. Weder der Reichskanzler noch die Chefs der ihm unterstellten Reichsressorts führten deshalb bis 1918 einen Ministertitel. Faktisch waren jedoch die meisten Angehörigen der Reichsleitungen dennoch Minister, da die Reichsämter in der Regel in Personalunion mit den entsprechenden preußischen Ministerien verwaltet wurden. Im Range eines (seinem Monarchen verantwortlichen) Ministers auf Reichsebene stand jedoch allein der Reichskanzler, während die Leiter der Reichsressorts keine eigenständigen Minister, sondern strikt weisungsabhängige „Staatssekretäre“ waren.

Der Reichskanzler war zwischen 1871 und 1918 allein dem Deutschen Kaiser – und nicht etwa dem Reichstag – verantwortlich. Der Kaiser als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches berief und entließ den Reichskanzler. Der Kanzler hatte ohne (preußisches) Mandat auch kein Recht, vor dem Reichstag zu erscheinen. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck wurde 1871 der erste Reichskanzler, und seither wurde es Tradition, das Amt des Reichskanzlers mit dem des preußischen Ministerpräsidenten zu koppeln. Lediglich die Jahre 1892–1894 bildeten hier eine kurzfristige (schlecht funktionierende) Ausnahme; der Grund hierfür war die vom Norddeutschen Bund geerbte Unterstellung des Kanzler unter die preußische Regierung.

[Bearbeiten] Weimarer Republik

Mit der Novemberrevolution von 1918 wurde nicht nur das deutsche Kaisertum gestürzt, sondern auch die Institutionen des Reichskanzlers und der Reichsleitung kurzfristig durch einen revolutionären „Rat der Volksbeauftragten“ abgelöst. Im Februar 1919 wurde erneut ein Kabinett auf Reichsebene gebildet, doch in bewusster Abgrenzung von der Tradition des Kaiserreichs firmierte diese Exekutive nunmehr als vollwertige „Reichsregierung“, deren Vorsitzender ebenfalls als vollwertiger „Reichsministerpräsident“. Doch während die Bezeichnungen der „Reichsregierung“ und ihrer Ressortchefs als „Reichsminister“ seither bis zum Untergang des Deutschen Reiches 1945 fortwährend in Gebrauch blieben, konnte sich der Titel eines „Reichsministerpräsidenten“ im öffentlichen Sprachgebrauch nicht durchsetzen. Bereits im August 1919 kehrte der Chef der deutschen Reichsregierung zum unterdessen unverrückbar eingebürgerten Titel eines „Reichskanzlers“ zurück, obwohl der eigentliche inhaltliche Grund für diese Bezeichnung – dessen ursprünglich den Länder-Regierungschefs formal nachgeordnete Stellung – mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 nicht mehr gegeben war.

Auch in der Weimarer Republik (1918–1933) wurde der Reichskanzler vom Staatsoberhaupt – nunmehr dem Reichspräsidenten – ernannt und entlassen, doch war er zugleich dem Reichstag gegenüber verantwortlich. Der Reichskanzler konnte aufgrund dieser Konstruktion allerdings auch ohne parlamentarische Mehrheit regieren (Artikel 48 der Reichsverfassung von 1919 sah die sog. Notverordnungen vor, die nur vom Reichspräsidenten erlassen werden konnten).

[Bearbeiten] Drittes Reich

Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde, endete alsbald auch die parlamentarische Regierungsform; Hitler richtete sehr schnell eine Parteidiktatur ein und wurde zum Alleinherrscher ohne jede Verantwortlichkeit. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg legte Hitler im August 1934 die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers zu seinen Gunsten zusammen; er führte seither den offiziellen Titel Führer und Reichskanzler bis zu seinem Selbstmord am 30. April 1945.

Hitler besaß verfassungsrechtlich nicht das Recht, auf einfachem testamentarischen Wege seine Nachfolge zu bestimmen, doch hatte er auf diese Weise am 29. April 1945 seinen engen Gefolgsmann Joseph Goebbels zu seinem Nachfolger als Reichskanzler bestimmt. Dies zeigte keine politische Wirkung, da das Reich damals bereits zu großen Teilen von den siegreichen Alliierten besetzt war und Goebbels schon am folgenden Tag, dem 1. Mai 1945, ebenfalls Selbstmord beging. Der von Hitler auf dieselbe zweifelhafte Weise zum neuen Reichspräsidenten bestimmte Großadmiral Dönitz beauftragte daraufhin am 2. Mai 1945 Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk mit der Leitung der Geschäftsführenden Reichsregierung, wobei dieser den Titel des Reichskanzlers nicht mehr führte. Diese letzte nationalsozialistische Reichsexekutive, die weder über Legitimität noch über reale Macht verfügte, wurde am 23. Mai 1945 von den Alliierten auch formell abgesetzt und verhaftet.

[Bearbeiten] Nachwirkungen

[Bearbeiten] DDR

In der DDR war der Amtstitel des Regierungschefs zunächst – in Anlehnung an die kurze demokratische Weimarer Tradition von 1919 – „Ministerpräsident“, wobei dieser Titel allerdings sehr bald durch den eines „Vorsitzenden des Ministerrats“ verdrängt wurde, der sich an sowjetische Traditionen anlehnte. Im November 1989 kam aber der ursprüngliche Titel wieder in Gebrauch.

[Bearbeiten] Bundesrepublik Deutschland

Die Amtsbezeichnung des Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland ist seit 1949 – in bewusster Anlehnung an die -Tradition – „Bundeskanzler“.

[Bearbeiten] Liste der Regierungschefs des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches

Norddeutscher Bund
Name (Lebensdaten) Amtsantritt Ende der Amtszeit
Bundeskanzler
Fürst Otto von Bismarck (1815–1898) 1. Juli 1867 15. April 1871
Deutsches Kaiserreich
Name (Lebensdaten) Amtsantritt Ende der Amtszeit
Fürst Otto von Bismarck (1815–1898) 16. April 1871 20. März 1890
Graf Leo von Caprivi (1831–1899) 20. März 1890 26. Oktober 1894
Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901) 29. Oktober 1894 17. Oktober 1900
Fürst Bernhard von Bülow (1849–1929) 17. Oktober 1900 14. Juli 1909
Theobald von Bethmann-Hollweg (1856–1921) 14. Juli 1909 13. Juli 1917
Georg Michaelis (1857–1936) 14. Juli 1917 1. November 1917
Graf Georg von Hertling (1843–1919) 1. November 1917 30. September 1918
Prinz Max von Baden (1867–1929) 3. Oktober 1918 9. November 1918
Weimarer Republik
Name (Lebensdaten) Amtsantritt Ende der Amtszeit Partei
Reichskanzler
Friedrich Ebert (1871–1925) 9. November 1918 10. November 1918 SPD
Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten
Friedrich Ebert (1871–1925) 10. November 1918 11. Februar 1919 SPD
Hugo Haase (1863–1919) 10. November 1918 29. Dezember 1918 USPD
Philipp Scheidemann (1865–1939) 29. Dezember 1918 7. Februar 1919 SPD
Reichsministerpräsident
Philipp Scheidemann (1865–1939) 13. Februar 1919 20. Juni 1919 SPD
Gustav Bauer (1870–1944) 21. Juni 1919 14. August 1919 SPD
Reichskanzler
Gustav Bauer (1870–1944) 14. August 1919 26. März 1920 SPD
Hermann Müller (1876–1931) 27. März 1920 8. Juni 1920 SPD
Konstantin Fehrenbach (1852–1926) 25. Juni 1920 4. Mai 1921 Zentrum
Joseph Wirth (1879–1956) 10. Mai 1921 22. Oktober 1921 Zentrum
Joseph Wirth (1879–1956) 26. Oktober 1921 14. November 1922 Zentrum
Wilhelm Cuno (1876–1933) 22. November 1922 12. August 1923 parteilos
Gustav Stresemann (1878–1929) 13. August 1923 3. Oktober 1923 DVP
Gustav Stresemann (1878–1929) 6. Oktober 1923 23. November 1923 DVP
Wilhelm Marx (1863–1946) 30. November 1923 26. Mai 1924 Zentrum
Wilhelm Marx (1863–1946) 3. Juni 1924 15. Januar 1925 Zentrum
Hans Luther (1879–1960) 15. Januar 1925 5. Dezember 1925 parteilos
Hans Luther (1879–1960) 20. Januar 1926 12. Mai 1926 parteilos
Otto Geßler (1875–1955) 12. Mai 1926 17. Mai 1926 DDP
Wilhelm Marx (1863–1946) 17. Mai 1926 17. Dezember 1926 Zentrum
Wilhelm Marx (1863–1946) 19. Januar 1927 12. Juni 1928 Zentrum
Hermann Müller (1876–1931) 28. Juni 1928 27. März 1930 SPD
Heinrich Brüning (1885–1970) 30. März 1930 7. Oktober 1931 Zentrum
Heinrich Brüning (1885–1970) 9. Oktober 1931 30. Mai 1932 Zentrum
Franz von Papen (1879–1969) 1. Juni 1932 17. November 1932 Zentrum (ab 3. Juni 1932 parteilos)
Kurt von Schleicher (1882–1934) 4. Dezember 1932 28. Januar 1933 parteilos
Zeit des Nationalsozialismus
Name (Lebensdaten) Amtsantritt Ende der Amtszeit Partei
Reichskanzler
Adolf Hitler (1889–1945) 30. Januar 1933 2. August 1934 NSDAP
„Führer und Reichskanzler“
Adolf Hitler (1889–1945) 2. August 1934 30. April 1945 NSDAP
Reichskanzler
Joseph Goebbels (1897–1945) 30. April 1945 1. Mai 1945 NSDAP
Leiter der Geschäftsführenden Reichsregierung
Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk (1887–1977) 2. Mai 1945 23. Mai 1945 parteilos
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