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Sozialdarwinismus

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Unter Sozialdarwinismus versteht man eine heute wissenschaftlich diskreditierte gesellschaftswissenschaftliche Theorie, welche aussagt, dass Personen, Gruppen und menschliche Rassen[1] den gleichen Gesetzen der natürlichen Selektion, die der britische Naturforscher Charles Darwin bei Pflanzen und Tieren in der Natur beobachtet habe, unterworfen seien. Sie trägt allerdings größtenteils lamarcksche und nicht darwinistische Züge, weswegen die Bezeichnung heute als irreführend angesehen wird.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Ihre Grundthesen waren auch bereits vor Erscheinen von Darwins bahnbrechenden Arbeiten im Umlauf. Sie erhielten durch ein Missverstehen seines Werks jedoch erstmals eine scheinbar seriöse wissenschaftliche Legitimation. Darwin selbst hatte durch gelegentliche unpräzise Formulierungen in seinen Werken allerdings manchen Missverständnissen Vorschub geleistet.

Der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer ging davon aus, dass menschliche Gesellschaften wie (nach damaligem Glauben) biologische Arten einem Entwicklungsprozess unterliegen, in dem Erfolg und Überleben der Stärksten einer Generation - der von ihm geprägte Begriff war "survival of the fittest" - zur permanenten Verbesserung der Gruppe führt. Der Begriff des Stärksten konnte hier sowohl im direkten Sinne als auch metaphorisch zum Beispiel im Sinne kultureller Überlegenheit verstanden sein.

Obgleich Darwin der Arbeit Spencers wie dem Begriff „survival of the fittest“ nicht öffentlich widersprach, ergeben sich zwischen seiner und Spencers Auffassung deutliche inhaltliche Differenzen: Während Darwin in revolutionärer Weise auf den von ihm vorgeschlagenen Mechanismus der natürlichen Selektion zurückgriff, dachte Spencer in älteren, lamarckschen Kategorien, die mit einer zielgerichteten, teleologischen Naturauffassung einher gingen. Letztlich lassen sich seine Vorstellungen auf die „Great Chain of Being“ zurückführen, eine große Kette von Lebewesen, die zwischen den „niedrigsten“ zu den „höchsten“ Lebensformen bestehen sollte, aber nicht evolutionär, sondern idealistisch gedacht war.

Beide, Spencer und Darwin, griffen zudem auf die Bevölkerungslehre von Thomas Robert Malthus zurück, nach der ein potentiell exponentielles Wachstum von (menschlichen) Populationen zusammen mit der Begrenztheit an Ressourcen einen "Kampf ums Dasein" (englisch: Struggle for Life) notwendig macht; Darwin nutzte Malthus' Modell allerdings nur als Sprungbrett für seine eigenen, biologisch motivierten und untermauerten Schlussfolgerungen.

Die Gesellschaftstheorie des Sozialdarwinismus und die biologische des Darwinismus stehen in keiner besonders engen Beziehung zueinander, da sie sowohl bezüglich der Evolutionsmechanismen als auch hinsichtlich der Frage der Zielgerichtetheit entschieden differieren. Abgesehen davon wurden von rassisch motivierten Sozialdarwinisten die anderen Bestandteile der durch Darwin respektabel gemachten Evolutionstheorie, insbesondere die Abstammungslehre, abgelehnt oder gar nicht erst reflektiert, so etwa bei Ludwig Gumplovicz.

Wirkung

In Deutschland bereitete der Zoologe Ernst Haeckel den Boden für den Sozialdarwinismus.[2][3][4] Der Soziologe Fritz Corner bezeichnete ihn 1975 als Vater des deutschen Sozialdarwinismus.[5]

Auf gesellschaftlicher Ebene wurde der Sozialdarwinismus zur Rechtfertigung von Imperialismus und Rassismus herangezogen und führte in Deutschland zu Bestrebungen, geistig Behinderten oder schwer Erbkranken zur Vermeidung der genetischen „Degeneration“ das Lebensrecht abzusprechen. Dies führte in der Zeit des Nationalsozialismus schließlich zum Genozid, der massenhaften Ermordung „lebensunwerten Lebens“ oder „minderwertiger Rassen“ wie der jüdischen Bevölkerung Deutschlands und weiter Teile des restlichen Europas. Die Begründung, soweit eine solche versucht wurde, ruhte auf der als natürlich angesehenen Vormachtstellung einer ethnischen Gruppe über eine andere, die nicht als Folge gesellschaftlicher Umstände, sondern als Folge einer grundsätzlicheren Überlegenheit der mächtigeren Gruppe gedeutet wurde.

Nicht überraschend wurde der Sozialdarwinismus aus sozialistischer Sicht überwiegend abgelehnt; schon seine Theoretiker Karl Marx und Friedrich Engels gingen davon aus, dass sich sozialdarwinistische „Grundlagen“ wie etwa die Vorstellungen von Malthus nicht auf die Natur übertragen lassen. So warf Marx Darwin in einem Brief an Engels 1862 vor, Kategorien der Gesellschaftswissenschaften in die Natur übertragen und das „Tierreich als bürgerliche Gesellschaft“ dargestellt zu haben.[6] Und Engels schrieb 1875 an Pjotr Lawrow: „Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbeschen Lehre vom Krieg aller gegen alle und der bürgerlich-ökonomischen von der Konkurrenz, nebst der Malthusschen Bevölkerungstheorie, aus der Gesellschaft in die belebte Natur.“[7]

Als positiven Nebeneffekt begrüßen sowohl Marx als auch Engels an Darwins Werk die Zerstörung der Teleologie. So schrieb Engels 1859 an Marx: „Übrigens ist der Darwin, den ich jetzt gerade lese, ganz famos. Die Teleologie war nach einer Seite hin noch nicht kaputtgemacht, das ist jetzt geschehen.“[8] Und Marx schrieb 1861 an Ferdinand Lassalle: „Sehr bedeutsam ist Darwins Schrift und passt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfs. Die grob englische Manier der Entwicklung muss man natürlich in den Kauf nehmen. Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der ‚Teleologie’ in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinandergelegt.“[9]

Heute ist der Sozialdarwinismus ein Wesensmerkmal des Rechtsextremismus.[10] Der Kern rechtsextremer Ideologie artikuliert sich in der „Ideologie der Ungleichheit“, aus der ethnische, geistige und körperliche Unterschiede zum Kriterium für die Zuweisung eines minderen Rechts- und Wertestatus für bestimmte Individuen und Gruppen hergeleitet werden.[11]

Kritik

Heute gilt der Sozialdarwinismus als diskreditiert. In der Biologie selbst hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass evolutionäre Vorgänge nicht von einer Höherentwicklung begleitet werden, ja dass eine objektive Einteilung der Lebensformen in höhere und niedrigere Gruppen unmöglich ist. Genetische Untersuchungen haben die Existenz eines biologisch begründbaren menschlichen Rassenbegriffs, auf dem Rassentheorien und die nationalsozialistische Ideologie vom „Herrenmenschen“ beruhten, ad absurdum geführt. Zudem muss der Begriff „survival of the fittest“ als irreführend gelten, da nicht Überleben an sich, sondern die Zeugung möglichst vieler überlebens- und fortpflanzungsfähiger Nachkommen Grundlage biologischen Erfolges ist. Dazu zeigt sich, dass sowohl die von Sozialdarwinisten abgelehnte genetische Vielfalt als auch die Existenz altruistischer Verhaltensweisen in der Natur weitverbreitet sind und sich meist positiv auf die evolutionäre Fitness einer Art auswirken.

Schließlich gilt schon die unreflektierte Übernahme einer an der Tier- und Pflanzenwelt orientierten Theorie zur Beschreibung menschlicher Beziehungen als ungerechtfertigt. Von philosophischer Seite aus hat sich darüberhinaus grundsätzlicher Widerstand gegen die Gleichsetzung eines biologischen Ist-Zustandes mit einem moralischen Soll-Zustand erhoben. Der im Rahmen des Biologismus manchmal noch anzutreffende Versuch, aus der Natur Werte für die menschliche Gesellschaft abzuleiten, gilt heute als naturalistischer Fehlschluss („naturalistic fallacy“).

Sozialdarwinistisches Gedankengut wird daher heute mehrheitlich als amoralisch und antisozial angesehen, weil von allen moralischen Kategorien bei der Beurteilung einer Handlung abgesehen und eine Verbesserung sozialer Verhältnisse durch Eingriffe von außen abgelehnt wird.

Von Teilen der Gesellschaft wird in der Theorie des Neoliberalismus, die in der zwischenmenschlichen und -staatlichen Konkurrenzsituation einen Schlüssel zu wirtschaftlichem Wachstum sieht, manchmal eine Wiederbelebung des Sozialdarwinismus gesehen. Befürworter des Wirtschaftsliberalismus lehnen diesen Vergleich als polemische Irreführung ab. Auch die Soziobiologie und der Anarchokapitalismus werden in diesem Zusammenhang diskutiert.

Referenzen

  1. Encyclopædia Britannica 2007
  2. Manuela Lenzen, Evolutionstheorien - In den Natur- und Sozialwissenschaften, Campus 2003, S. 138
  3. Andreas Frewer, Medizin und Moral in der Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Campus Verlag 2000, S. 30
  4. Luitgard Baumgartner, Häusliche Pflege heute, Urban & Fischer 2003, S. 121
  5. Wolf Michael Iwand, Paradigma Politische Kultur, Leske und Budrich VS Verlag, 1997, S. 330
  6. Marx an Engels 18. Juni 1862, in MEW, Band 30, Dietz Verlag Berlin 1974, S. 249
  7. Engels an Lawrow, 12./17. November 1875, in MEW Band 34, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 170
  8. Engels an Marx, 12. Dezember 1859, in Karl Marx - Friedrich Engels: Briefwechsel, Bd II: 1854-1860, Dietz Verlag Berlin 1949, S. 548
  9. Marx an Lassalle, 16. Januar 1861, in MEW Band 30, Dietz Verlag Berlin 1974, S. 578
  10. Niedersachsen-Lexikon, Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), unter Rechtsextremismus steht „Der Rechtsextremismus kann als eine Ideologie der Ungleichheit bezeichnet werden, wobei Ungleichheit im Sinne von Ungleichwertigkeit zu verstehen ist. Diesem Oberbegriff sind folgende Ideologieelemente zuzuordnen: (...) Betonung des Rechts des Stärkeren (Sozialdarwinismus)“, Leske und Budrich VS Verlag, 2005, ISBN 3-531-14403-0, S. 79
  11. Werner Weidenfeld, Karl-Rudolf Korte: Handbuch Zur Deutschen Einheit, 1949-1989-1999, Campus Verlag 1999, S. 358

Literatur

  • Hedwig Conrad-Martius: Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen. Kösel 1955, ASIN B0000BH7FW

Weblinks

  • [1] Ausführl. Univ.-Referat, viele Literatur und weitere Weblinks
  • [2] Mit Darwins Originalzitat zum "Kampf ums Dasein", Literaturverweise
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