Soziologische Systemtheorie
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Als soziologische Systemtheorie wird eine auf systemtheoretischen Diskursen und Begriffen basierende Theorie der Gesellschaft als Teil einer allgemeinen Soziologie bezeichnet. Als wichtigste Vertreter gelten Talcott Parsons (handlungstheoretische Systemtheorie) und Niklas Luhmann (kommunikationstheoretische Systemtheorie). Die Systemtheorie hat dabei den Anspruch, eine Universaltheorie im Sinne eines umfassenden und kohärenten Theoriegebäudes zu sein. Damit umfasst sie auch sich selbst als Gegenstand ihrer Theorie.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Funktionalismus und Systemerhaltung
Während die soziologische Systemtheorie gegenwärtig fast ausschließlich in Europa weiterentwickelt wird, liegen ihre Ursprünge in den USA. Es gab zwei Hauptströmungen: den Struktur- oder Bestandsfunktionalismus und die Theorie Parsons, für die sich die zutreffendere Bezeichnung Systemfunktionalismus nicht durchgesetzt hat. Parsons wird häufig unter Strukturfunktionalismus subsumiert, was er jedoch selbst (wie auch sein Schüler Niklas Luhmann) zurückweist. Tatsächlich unterscheidet sich seine Theorie auch fundamental vom Strukturfunktionalismus.
[Bearbeiten] Strukturfunktionalismus
Ausgehend von ethnologischen und anthropologischen Fragestellungen untersuchte der Strukturfunktionalismus (Alfred R. Radcliffe-Brown, Bronisław Malinowski, Edward E. Evans-Pritchard) die Frage, wie Strukturen das Verhalten von Individuen innerhalb einer Gesellschaft determinieren. Dabei wurden alle gesellschaftlichen Strukturen auf ihre Funktion hin befragt. Als Struktur wird dabei die Gesamtheit der sozialen Beziehungen und Interaktionen im sozialen Netzwerk einer Gesellschaft verstanden. Diese Strukturen einer Gesellschaft werden als äußerst stabil und als nur durch externe Faktoren wandelbar angesehen. In diesem Sinne suchte der Strukturfunktionalismus nach den Bestandsvoraussetzungen sozialer Systeme und gesellschaftlicher Strukturen. Das Ergebnis waren im wesentlichen Listen mit Bestandsvoraussetzungen und Variablen. Die Limitierung auf segmentäre Gesellschaften, wie etwa Stämme, wurde damit begründet, dass man einen isolierbaren begrenzbaren Forschungsgegenstand brauchte, um überhaupt Aussagen treffen zu können.
[Bearbeiten] Systemtheorie bei Parsons
Der soziologische Systembegriff geht auf Talcott Parsons zurück. Parsons betrachtet dabei Handlungen als konstitutive Elemente sozialer Systeme. Er prägte den Begriff der strukturell-funktionalen Systemtheorie. Der Begriff Struktur bezieht sich dabei auf diejenigen Systemelemente, die von kurzfristigen Schwankungen im System-Umwelt-Verhältnis unabhängig sind. Funktion dagegen bezeichnet den dynamischen Aspekt eines sozialen Systems, also diejenigen sozialen Prozesse, die die Stabilität der Systemstrukturen in einer sich ändernden Umwelt gewährleisten sollen. Die strukturell-funktionale Theorie beschreibt also den Rahmen, der Handlungsprozesse steuert. Ist die Struktur eines Systems bekannt, kann in funktionalen Analysen angegeben werden, welche Handlungen für die Systemstabilisierung funktional oder dysfunktional sind. Handlungen werden also nicht isoliert betrachtet, sondern im Kontext der strukturellen und funktionalen Aspekte des jeweiligen Sozialsystems.
[Bearbeiten] AGIL-Schema
Zur strukturellen und funktionalen Analyse sozialer Systeme entwickelte Parsons das AGIL-Schema, das die für die Strukturerhaltung notwendigen Funktionen systematisiert. Demnach müssen alle Systeme vier elementare Funktionen erfüllen:
- Adaptation (Anpassung),
- Goal Attainment (Zielerreichung),
- Integration (Integration) und
- Latency (Strukturerhaltung)
Einzelne Handlungen werden also nicht isoliert, sondern im Rahmen eines strukturellen und funktionalen Systemzusammenhanges betrachtet. Handlungen sind dabei Resultate eben jenes Systemzusammenhanges, der durch diese Handlungen gestiftet wird (handlungstheoretische Systemtheorie). Parsons beschreibt den Zusammenhang zwischen System und Systemelementen also als rekursiv und berücksichtigt damit wechselseitige Ermöglichungs-, Verstärkungs- und Rückkopplungsbedingungen.
[Bearbeiten] Erweiterung und Neuformulierung durch Luhmann
siehe auch den Hauptartikel Systemtheorie (Luhmann)
Niklas Luhmann erweiterte und revolutionierte die Theorie Parsons, indem er sich vom Handlungsbegriff abwandte und die Kommunikation (Systemtheorie) zum zentralen Punkt der Systemtheorie macht (kommunikationstheoretische Systemtheorie). Er sagt: Systeme (z.B. soziale Systeme) haben Operationen. Kommunikation ist dabei kein Ergebnis menschlichen Handelns, sondern ein Produkt sozialer Systeme. Luhmann teilt die Kommunikation in drei Elemente auf (Selektionsprozess):
Die Kommunikation wird durch symbolisch generalisierte Medien (z.B. Geld, Wahrheit, Macht, Liebe) vollzogen. Sprache als grundlegendes Kommunikationsmedium ist binär kodiert, d.h. jede Aussage kann als Affirmation (Bejahung) oder Negation (Verneinung) getroffen werden.
- Personen sind keine Systeme, sondern Identifikationspunkte der Kommunikation. Gesellschaft konstituiert und reproduziert sich also durch Kommunikation und ist darin auf Anschlußmöglichkeiten für weitere Kommunikationen angewiesen, wobei Kommunikation nicht ohne Gesellschaft zu denken ist. Diese zirkuläre Definition grenzt sich bewusst von deduktiven Methoden der klassischen Wissenschaft ab. Die Gesellschaft wird als sich selbst beschreibendes (autopoietisches) System betrachtet, das seine eigenen Beschreibungen enthält.
[Bearbeiten] Differenz und Beobachtung
Gesellschaft besteht also nicht aus handelnden Subjekten, Grundlage der Theorie ist vielmehr ein sich selbst beobachtendes Beobachtungssystem. Am Anfang dieser Theorie steht also keine einheitliche Perspektive, sondern die Differenz (Systemtheorie) von Beobachtendem und Beobachtetem. Deren Einheit ist die Operation der Beobachtung, die sich als Kommunikation vollzieht. Beobachtung ist dabei immer eine systeminterne Operation, also eine Konstruktion eines Systems. Dabei ist die Beobachtung immer an die gewählte Unterscheidung gebunden, sie kann also nicht erfassen, was sie nicht sehen kann ("blinder Fleck"). Diesen blinden Fleck kann nur ein Beobachter zweiter Ordnung (Second Order Cybernetics, Second Semiotics) beobachten (wobei auch er wegen seines eigenen blinden Flecks nur sehen kann, was er sehen kann, usw.). Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung gelangt man zu einer "polykontexturalen" Welt.
Als Leitdifferenz setzt Luhmann die Unterscheidung von System und Umwelt. Systeme werden dabei im Sinne Maturanas und von Foersters als autopoietisch, d.h. selbstreferentiell und operativ geschlossen, verstanden. Eine "Weltgesellschaft" stellt dabei den Gesamthorizont von vernetzten Kommunikationen dar. Gesellschaft ist hier das umfassende System, das sich in funktionaler Weise ausdifferenziert und somit Systeme im System erzeugt, die ihre Umwelt in Form einer spezifischen binären Codierung beobachten (z.B. Recht/Unrecht im Rechtssystem, Wahr/Falsch im Wissenschaftssystem, Allokation/Nichtallokation im Wirtschaftsystem, Immanenz/Transzendenz im Religionssystem oder Regierung/Opposition im politischen System). Diese Codes bilden lediglich den kontexturellen Rahmen, innerhalb dessen das Teilsystem Formen ausbilden kann. Der Code sorgt für die operative Schließung des Systems. Für die Offenheit des Systems sorgen Programme, also die Bedingungen, nach denen für die eine oder andere Seite einer Entscheidung optiert wird. Als Beispiel für ein Systemprogramm können etwa Theorien in der Wissenschaft genannt werden, die über eine Zuordnung zu den Codewerten wahr / falsch entscheiden.
[Bearbeiten] Soziale Systeme
Soziale Systeme sind dabei die komplexesten Systeme, die Systemtheorien behandeln können. Soziale Systeme vermitteln durch Komplexitätsreduktion zwischen der unbestimmten Weltkomplexität und der Komplexitätsverarbeitungskapazität des einzelnen Menschen. In einem sozialen System entsteht also im Vergleich zur Umwelt eine höhere Ordnung mit weniger Möglichkeiten, die durch eine Grenze stabilisiert wird. Die Einschränkung der im System zugelassenen Anschlußmöglichkeiten für Kommunikation werden als Struktur des Systems bezeichnet. Von der Struktur sind die System-Prozesse zu unterscheiden, die eine selektive zeitliche Anordnung von Einzelereignissen beinhalten.
Luhmann unterscheidet drei Typen sozialer Systeme:
- Interaktionssysteme,
- Organisationssysteme und
- Gesellschaftssysteme. Die Gesellschaft ist dabei ein System höherer Ordnung, ein System "anderen Typs". Sie umfasst die anderen Systeme, ohne dass sie in ihr aufgehen.
Wichtige, kommunikativ erzeugte Unterscheidungen sind für Luhmann etwa
- Zentrum/Peripherie,
- Interaktion/Organisation,
- Stratifikation/funktionale Differenzierung. Die soziologische Systemtheorie ist konstruktivistisch und basiert auf der Theorie operativ geschlossener Systeme.
Luhmanns Systemtheorie wird vor allem in Deutschland und Italien rezipiert.
An der Weiterentwicklung der soziologischen Systemtheorie arbeiten in Deutschland vor allem die Soziologie-Professoren und Schüler Luhmanns Peter Fuchs und Dirk Baecker.
[Bearbeiten] Wirkung und Kritik
Während Parsons die Soziologie der 1950er und 1960er Jahre dominierte, ist heute die Luhmannsche Systemtheorie eine der bekanntesten soziologischen Richtungen im deutschen Sprachraum. Sie strahlt auch in andere wissenschaftliche Disziplinen aus, insbesondere die Betriebswirtschaftslehre, die Verwaltungswissenschaft sowie die Pädagogik. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Luhmannsche Systemtheorie innerhalb der Soziologie selbst heftig umstritten ist.
Stellvertretend für Viele ein Zitat von Hartmut Esser: Man erfindet am Beispiel seines speziellen inhaltlichen Gegenstandes die nötig scheinenden Konzepte und Erklärungsbausteine selbst und meist sehr ad hoc - und bemerkt nicht, daß es zu den jeweiligen Problemen vielleicht anderswo längst brauchbare Lösungen oder wenigstens Ansätze dazu gibt. Manchmal wächst sich die handgestrickte Nische einer bindestrich-soziologischen Bemühung dann auch zu einer eigenen "Theorie" aus, die, wenn alles schief geht, dann, selbstverständlich mit viel philosophischem Tiefsinn garniert, obendrein noch "Universalität" und eine Leitfunktion für den Rest der Welt beansprucht. Das wohl gravierendste Beispiel für eine derartige Spezialerfindung einer "allgemeinen" Theorie, die sich dann zu einem eigenen Paradigma aufzublähen vermochte, war die Entwicklung und Verbreitung der soziologischen Systemtheorie durch Niklas Luhmann. (Hartmut Esser: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 5: Institutionen. Campus Verlag 2000, S. 300.)
Die Systemtheorie nach Luhmann ist auch aufgrund ihres hohen begrifflichen Abstraktionsniveaus umstritten. Sie liefere lediglich funktional-strukturelle Beschreibungen. Aus diesem begrenzten Anspruch folge auch ihr Selbstverständnis als nicht 'kritische', bzw. nicht am Ideal des Humanismus ausgerichtete Theorie. Bekannt ist in diesem Zusammenhang Luhmanns Kontroverse mit Jürgen Habermas.
Weitere Kritikpunkte bestehen darin, die Systemtheorie stelle eher eine Begriffssammlung als ein Theoriegebäude dar: "Hinter der Fassade ungeheurer Schwierigkeit und einem komplizierten Räderwerk artistischer Begrifflichkeit steckt lediglich eine Handvoll simpler Sätze: Die Welt ist kompliziert, alles ist mit allem verbunden, der Mensch erträgt nur ein begrenztes Maß an Kompliziertheit" (Dirk Käsler, zit. in Kunczik/Zipfel 2005: 84). Dabei bestehe weder eine präzise und allgemein akzeptierte Definition des funktionalistischen Systembegriffs, noch gebe es über die Lösung der vier Problembereiche gemäß AGIL-Schema bei Parsons hinaus explizite Hypothesen.
Außerdem wird der Systemtheorie eine versteckte Teleologie zum Vorwurf gemacht: Indem die Zielorientierung eines Subsystems zur Erhaltung des gesamten Systems als positive Funktion gewertet wird, geschieht eine versteckte Wertung und eine Legitimation des gesellschaftlichen Status quo. Bereits Robert K. Merton hatte von latenten (verborgenen) und manifesten (expliziten) Funktionen eines Systems gesprochen und somit die funktionale Einheit eines Systems zurückgewiesen.
[Bearbeiten] Begriffe der soziologischen Systemtheorie
[Bearbeiten] Literatur
[Bearbeiten] Primärliteratur
- Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, 6. Auflage, Juventa, 2003, ISBN 3779907100
- Niklas Luhmann / Dirk Baecker, Einführung in die Systemtheorie, 2. Auflage, Carl Auer, 2004, ISBN 3896704591
- Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 11. Auflage (1. Auflage 1984), Suhrkamp 2001, ISBN 3518282662
- Niklas Luhmann, Einführung in die Theorie der Gesellschaft, Carl Auer, 2005, ISBN 389670477X
- Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung (6 Bde.), VS Verlag, 2005, ISBN 3531141767
- Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (2 Bde.), Suhrkamp 1998, ISBN 3518289608
- Dirk Baecker, Schlüsselwerke der Systemtheorie, Wiesbaden, VS Verlag, 2005, ISBN 3531140841
- Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Suhrkamp, 1971, ISBN 3518063588
[Bearbeiten] Sekundärliteratur
- Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht, Utb, 2004, ISBN 3825223604
- Michael Gerth, 2005: Luhmann für Einsteiger, multimediale Einführung in die Systemtheorie
- Walter Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, 4. Auflage, Junius, 2005, ISBN 3885063050
- Helmut Willke, Systemtheorie, 6. Auflage, Utb, 2000, ISBN 3825211614
- Georg Kneer / Armin Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 4. Auflage, Utb, 2000, ISBN 3825217515
- David J. Krieger, Einführung in die allgemeine Systemtheorie, 2. Auflage, Utb, 1996, ISBN 3825219046
- Detlef Krause, Luhmann-Lexikon, Neudruck, Utb, 2005, ISBN 3825221849
- Johann Dieckmann, Einführung in die Systemtheorie, Utb, 2005, ISBN 3825283054
- Johann Dieckmann, Luhmann-Lehrbuch, Utb, 2004, ISBN 3825224864
- Detlef Horster, Niklas Luhmann, 2. Auflage, Beck, 2005, ISBN 3406528120
- Stefan Jensen, Erkenntnis, Konstruktivismus, Systemtheorie, VS Verlag, 1999, ISBN 3531133810
- Dirk Baecker, Wozu Systeme?, Kadmos, 2002, ISBN 3931659232
- Jens Jetzkowitz / Carsten Stark, Soziologischer Funktionalismus, VS Verlag, 2003, ISBN 3810037052