Masse (Soziologie)
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Der Begriff Masse bezeichnet in sozialen Zusammenhängen eine große Anzahl von Menschen, die konzentriert auf relativ engem Raum physisch miteinander kommunizieren, agieren und reagieren.
Der Begriff der "Massen" wird oft abwertend (dumme Masse) gebraucht, dennoch bringen in Massen aktive Menschen (Akteure), die gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben wollen, oft - nicht immer! - gesellschaftlich hohe Werte wie Gerechtigkeit und Gleichheit ins Bewusstsein der öffentlichen Meinung.
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[Bearbeiten] Gegenbegriffe
Gegenbegriffe sind umgangssprachlich einerseits „Individuum“, „bedeutende Einzelne“, auch „die Gebildeten“.
Soziologisch unterscheidet Vilfredo Pareto die „Masse“ von den „Eliten“ und „Reserveeliten“.
Andererseits ist ein zweiter, soziologischer Gegenbegriff auch die "Menge". Während „Massen“ von Fall zu Fall (oft spontane, nicht selten aber auch geplante) hierarchisierte Strukturzusammenhänge aufweisen, tendieren „Mengen“ dazu, sich der sozialen Kontrolle durch Institutionen zu entziehen und sich gleichsam unsichtbar zu machen – siehe dazu The Lonely Crowd von David Riesman (deren deutsche Übersetzung Die einsame Masse führt in die Irre, denn gemeint ist die Menge der Vereinzelten und Verängstigten.) Vgl. auch die Erscheinungsform des Single.
[Bearbeiten] Erscheinungsbild und Wirkungsformen
Der beobachtbare rasche Stimmungsumschwung (der „Wankelmut“) von präsenten Massen wird mit dem Verhalten von Fluiden verglichen. Dennoch folgt das soziale Handeln von Massen eigenen Gesetzmäßigkeiten (vgl. „Figuration). Ihre Teilnehmer (Akteure) werden dabei von Signalen und Symbolen koordiniert. Diese folgen althergebrachtem oder in einem Vorstadium neu etabliertem allgemeinen Brauchtum, wie es z.B. Politik, Religion, Wirtschaftsleben, Öffentliche Meinung bis in den (stets präsenten) Alltag hinein vorgeben.
Eine aktuelle Masse ist alsdann zur Schaffung eigener sozialer Dynamik in der Lage: Gerüchtverbreitung, Plünderung, Pogrom, Flucht (bis hin zur Panik), Lynchjustiz, aber auch zu einer friedlichen Demonstration oder Kundgebung, zur Ausrufung des Sturmes auf eine Zwingburg oder ein verhasstes Amtsgebäude, eines Aufstandes, eines Befreiungskrieges, eines (ggf. charismatischen) Anführers bis hin zum Proklamation einer neuen Staatsform (z.B. der Republik).
Die "massenhafte Diskussion", wie sie von Marxisten gelegentlich eingefordert wird, hätte also hauptsächlich stürmische Züge und wäre kein "herrschaftsfreier Diskurs" à la Jürgen Habermas.
[Bearbeiten] Vorhersagbares Auftreten
Spontane Massengeschehnisse sind allgemein vor allem in krisenhaften Zusammhängen erwartbar.
Soziale Krisen (Teuerungen, Hungersnöte, Seuchen, Bürgerkriege, Invasionen, Landnahmen usw.) führten seit je zu Massenhandeln – daher auch die Bedeutung von Massen in Gestalt ad hoc zusammen tretender Volksversammlungen oder Heeresversammlungen (im römischen Reich oft bis hin zur Ausrufung eines neuen Kaisers). Generell ist es eine Hauptursache für Massenhandeln, dass neuartige Krisen nicht durch die in gewohnten Gemeinschaften bewährten Notmaßnahmen bewältigt werden können.
Das historische Auftreten von Menschen als Massen ist also nicht nur ein Phänomen höherer Zivilisationen oder gar der Neuzeit, wo es seine Ursache in der mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen sinkenden Dichte und Verkleinerung sozialer Netzwerke, zumal bei steigender Urbanisierung und damit der Verunsicherung durch zumeist wirtschaftliche Krisen hat.
In der Neuzeit findet jedoch eine Orientierung zu neuartigen Methoden der Beeinflussung der Massen statt: Massenmedien in der Struktur großer Konzerne, die auch verschiedene Arten von Medien beliefern, bilden eigene Strategien zur Massenformierung aus, beziehen deren eigendynamischen Strukturen ein und erhoffen sich daher eine von ihnen bestimmte Öffentliche Meinung, besseren Warenabsatz oder fallweise Legitimation. Politik („Propaganda“) und Kommerz („Werbung“) treiben unter Übernahme der Massenmedien ihre Macht tendenziell bis ins Totale (vgl. Totalitarismus) und Globale (vgl. Globalisierung).
[Bearbeiten] Legitimation der Masse
Herrschende beriefen und berufen sich zu ihrer Legitimation nicht selten auf eine Unterstützung der Massen, erwartbar in Demokratien, gerne aber seit je in ‚populistischen‘ Diktaturen (vgl. Tyrannis).
Im Marxismus ist es der revolutionäre, nach Emanzipation strebende Teil der Gesellschaft, wofür Karl Marx vorzugsweise den Begriff "Proletariat" verwendet hat.
Vilfredo Pareto wiederum hat dieses Argument als typische „Derivation“ aufgefasst, und dies nicht als Einziger (vgl. Ideologie).
[Bearbeiten] Arten von Massen
Hier werden u.a. als Begriffe benutzt:
- Gerichtete Masse
- spontane oder provozierte Gewalttaten, zielgerichtete gegen abweichende Einzelne oder kleine Gruppen
- Indifferente Masse
- die Masse schlägt in ihrer Meinung ins Gegenteil um: die Euphorie wird zum Hass und zur Aggression ("Hosianna-Kreuzige-Effekt")
- Hetzmasse
- Demagogie und Hetze vermögen Minderwertigkeitsgefühle auf andere zu projizieren; die Gewissheit der Zugehörigkeit zu den "Guten" erleichtert das Vorgehen gegen die minderwertigen anderen bis zur Bereitschaft ihrer Vernichtung
- Fluchtmasse
- In Momenten drohender Gefahr reagiert die Fluchtmasse irrational; sie richtet ihre Bewegung nicht in vernünftiger Erwägung aus, sondern vergrößert mitunter die Bedrohung
- Verbotsmasse
- Das Aufbegehren gegen Benachteiligungen lässt eine Verbotsmasse entstehen: eine fest organisierte Masse (z.B. in einem Streik)
- Umkehrungsmasse
- Eine unterdrückte Masse wird Umkehrungsmasse genannt, wenn sie gewaltsam gegen ihre Unterdrücker vorgeht, um die Verhältnisse umzukehren (z.B. Rebellion).
[Bearbeiten] Untersuchungen
Untersucht wurde das Massenphänomen u.a. von
- Gustave Le Bon, der in seiner Psychologie der Massen (1895) befand, dass Massen kritik- und prinzipienlos, daher leicht lenk- und umstimmbar seien. Da sie Ideen und Ideale eher in minderwertiger depravierter Form aufzunehmen vermögen, werde ihre Vorstellungskraft nicht durch Vernunft, sondern durch Bilder (Sensationen, Skandale) gelenkt. Dann aber seien sie fähig, diese mit höchster Leidenschaft und Gewaltsamkeit umzusetzen. Le Bon war ein Mitbegründer der so genannten "Massenpsychologie"
- Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), der die Massenbildung als eine Form narzisstischer Projektion vom Individuum auf eine - selbst narzisstische - Führergestalt erklärt.
- Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (1927), der die Masse als Form des Rückschlags der modernen Rationalität in mythisches Bewusstsein auffasst.
- José Ortega y Gasset, der in Der Aufstand der Massen 1929 formulierte: "Wenn die Masse selbständig handelt, tut sie es nur auf eine Art: Sie lyncht."
- Hermann Broch, Massenwahntheorie (1948 postum 1979), der ein nach Befriedigung und Eindeutigkeit strebendes Bedürfnis der Massen konstatiert, welches - im pathologischen Fall - von Führerideologien (was er am Nationalsozialismus nachweist) erfüllt zu werden scheint. Dem stellt er Religionsstifter gegenüber, deren Zielstellung Ewigkeit und Menschheit sich von der totalitären des Fortschritt und der Massen wesentlich unterscheiden. Die Demokratie sei gegenwärtig gegen einen Rückfall keineswegs immun.
- Elias Canetti, Masse und Macht (1960), der in einer historisch ausgreifenden transkulturellen Studie das Wesen der Masse als zusammengehörig mit dem Phänomen der Macht erkennt, welches er in der Struktur von Befehl und Stachel charakterisiert. Als lenkendes führendes Prinzip bestimmt er den Drang zur Selbsterhaltung.
- Michael Günther, Masse und Charisma. Soziale Ursachen des politischen und religiösen Fanatismus (2005, ISBN 3-631-53536-8), ist die jüngste gründliche Untersuchung des Zusammenhanges dieser Begriffe in der Soziologie von Gabriel Tarde, Gustave Le Bon und zumal von Max Weber, den er mit Ferdinand Tönnies kritisiert.
- Andrea Jäger / Gerd Antos / Malcolm H. Dunn (Hgg.): Masse Mensch. Das "Wir" - sprachlich behauptet, ästhetisch inszeniert. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2006. ISBN 3-89812-394-4